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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

lichen Kantaten A. Scarlattis und Handels erklingt. Einen großen Anteil an
dieser heilsamen Reaktion haben die "Gesänge" von Brahms -- denn mit diesem
unbestimmten Gesamtausdruck bezeichnen wir heute noch alle die verschiedenen
Formen des vom Klavier begleiteten Sologesanges, welche sich nicht in den
strengen Begriff des Liedes schicken und doch existiren: Romanzen, Hymnen,
Kantaten u, dergl.

Die erste und bahnbrechende Leistung von Brahms auf dem Gebiete der
Gesänge sind seine Magclonen-Romanzen. Ohne die Vorläufer zu denselben
in seinen Gesangheften ignoriren zu Wollen, thun wir gut, sie als die historischen
Vertreter der neuen Richtung zu betrachten. Über den außerordentlich poe¬
tischen und künstlerischen Gehalt dieser Kompositionen können mir uns hier nicht
verbreiten; aber die Zeit ist wohl nicht mehr fern, wo es jeder Säuger, jeder
Musikfreund für seine Pflicht halten wird, mit diesem monumentalen Werke so
vertraut zu sein wie mit Schuberts Müllerliedern. Mit Freuden wird jeder
Kenner dieser einzigen Gesäuge bemerkt haben, daß bereits eine zweite Auflage
von ihnen notwendig geworden ist. Sie enthält einige kleine Abweichungen von
der ersten, welche der gefänglichen Wirkung zu gute kommen. Indes hat sich
Brahms von dem eigentlichen kleinern Liede, dem strophischen wie dem durch-
komponirteu, keineswegs ferngehalten. Wenn wir ihn hier verfolgen, so be¬
merken wir eine bestimmte Entwicklung und haben von ihr den Eindruck, daß
der Künstler von Anfang an Mühe gehabt habe, seinen ganzen Reichtum in der
engen Form unterzubringen, als sei es ihm unter ihren Fesseln lange Zeit nicht
ganz wohl gewesen. Die Mehrzahl der Lieder in den ersten Heften gehört der
Gattung dem Umfange nach an, aber sie verläßt den herkömmlichen Stil. Der¬
selbe Zug ins Breite und Weite, der die ersten Klavierkomvositivnen charcckteri-
sirt, ist auch hier erkennbar. Diese Lieder weisen zum großen Teil über das
Lied hinaus, im Aufbau wie im Melodiegehalt. Sie entwickeln ungewöhnlich viel
musikalisches Material. Die beliebten Wiederholungen sind bei Brahms spärlicher,
die Perioden dafür reicher ausgestattet als bei andern. Während sonst der
Nachsatz in der Regel nur eine Umbildung des Vordersatzes ist, konstruirt ihn
Brahms aus neuen Motiven.

Es ist wahrscheinlich nicht ohne Beziehung auf dieses Verhältnis, daß
Brahms sich frühzeitig schon dem Volksliede zuwendete, welches die natürlichen
und ewigen Muster des Liedstiles in Fülle bietet. Von seinem c>x. 7 ab hat
er seitdem nicht aufgehört, uns mit köstlichen und hochgenialen Nachbildungen
der alten gehaltvollen volkstümlichen Gesangweisen zu erfreuen, deutschen, schot¬
tischen und böhmischen. 0x. 14 besteht ganz ans solchen nachgebildeten Volksliedern.
In allen acht Nummern lebt eine ursprüngliche Kraft und Innigkeit; hochbe¬
deutend ist namentlich das schottische Stück "Murrays Ermordung." Als eine
der ersten freien Liedkompositionen, die streng den knappen und einfachen Stil
der Gattung einhält und dabei die volle Eigenart des Komponisten zeigt,


Johannes Brahms.

lichen Kantaten A. Scarlattis und Handels erklingt. Einen großen Anteil an
dieser heilsamen Reaktion haben die „Gesänge" von Brahms — denn mit diesem
unbestimmten Gesamtausdruck bezeichnen wir heute noch alle die verschiedenen
Formen des vom Klavier begleiteten Sologesanges, welche sich nicht in den
strengen Begriff des Liedes schicken und doch existiren: Romanzen, Hymnen,
Kantaten u, dergl.

Die erste und bahnbrechende Leistung von Brahms auf dem Gebiete der
Gesänge sind seine Magclonen-Romanzen. Ohne die Vorläufer zu denselben
in seinen Gesangheften ignoriren zu Wollen, thun wir gut, sie als die historischen
Vertreter der neuen Richtung zu betrachten. Über den außerordentlich poe¬
tischen und künstlerischen Gehalt dieser Kompositionen können mir uns hier nicht
verbreiten; aber die Zeit ist wohl nicht mehr fern, wo es jeder Säuger, jeder
Musikfreund für seine Pflicht halten wird, mit diesem monumentalen Werke so
vertraut zu sein wie mit Schuberts Müllerliedern. Mit Freuden wird jeder
Kenner dieser einzigen Gesäuge bemerkt haben, daß bereits eine zweite Auflage
von ihnen notwendig geworden ist. Sie enthält einige kleine Abweichungen von
der ersten, welche der gefänglichen Wirkung zu gute kommen. Indes hat sich
Brahms von dem eigentlichen kleinern Liede, dem strophischen wie dem durch-
komponirteu, keineswegs ferngehalten. Wenn wir ihn hier verfolgen, so be¬
merken wir eine bestimmte Entwicklung und haben von ihr den Eindruck, daß
der Künstler von Anfang an Mühe gehabt habe, seinen ganzen Reichtum in der
engen Form unterzubringen, als sei es ihm unter ihren Fesseln lange Zeit nicht
ganz wohl gewesen. Die Mehrzahl der Lieder in den ersten Heften gehört der
Gattung dem Umfange nach an, aber sie verläßt den herkömmlichen Stil. Der¬
selbe Zug ins Breite und Weite, der die ersten Klavierkomvositivnen charcckteri-
sirt, ist auch hier erkennbar. Diese Lieder weisen zum großen Teil über das
Lied hinaus, im Aufbau wie im Melodiegehalt. Sie entwickeln ungewöhnlich viel
musikalisches Material. Die beliebten Wiederholungen sind bei Brahms spärlicher,
die Perioden dafür reicher ausgestattet als bei andern. Während sonst der
Nachsatz in der Regel nur eine Umbildung des Vordersatzes ist, konstruirt ihn
Brahms aus neuen Motiven.

Es ist wahrscheinlich nicht ohne Beziehung auf dieses Verhältnis, daß
Brahms sich frühzeitig schon dem Volksliede zuwendete, welches die natürlichen
und ewigen Muster des Liedstiles in Fülle bietet. Von seinem c>x. 7 ab hat
er seitdem nicht aufgehört, uns mit köstlichen und hochgenialen Nachbildungen
der alten gehaltvollen volkstümlichen Gesangweisen zu erfreuen, deutschen, schot¬
tischen und böhmischen. 0x. 14 besteht ganz ans solchen nachgebildeten Volksliedern.
In allen acht Nummern lebt eine ursprüngliche Kraft und Innigkeit; hochbe¬
deutend ist namentlich das schottische Stück „Murrays Ermordung." Als eine
der ersten freien Liedkompositionen, die streng den knappen und einfachen Stil
der Gattung einhält und dabei die volle Eigenart des Komponisten zeigt,


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[0184] Johannes Brahms. lichen Kantaten A. Scarlattis und Handels erklingt. Einen großen Anteil an dieser heilsamen Reaktion haben die „Gesänge" von Brahms — denn mit diesem unbestimmten Gesamtausdruck bezeichnen wir heute noch alle die verschiedenen Formen des vom Klavier begleiteten Sologesanges, welche sich nicht in den strengen Begriff des Liedes schicken und doch existiren: Romanzen, Hymnen, Kantaten u, dergl. Die erste und bahnbrechende Leistung von Brahms auf dem Gebiete der Gesänge sind seine Magclonen-Romanzen. Ohne die Vorläufer zu denselben in seinen Gesangheften ignoriren zu Wollen, thun wir gut, sie als die historischen Vertreter der neuen Richtung zu betrachten. Über den außerordentlich poe¬ tischen und künstlerischen Gehalt dieser Kompositionen können mir uns hier nicht verbreiten; aber die Zeit ist wohl nicht mehr fern, wo es jeder Säuger, jeder Musikfreund für seine Pflicht halten wird, mit diesem monumentalen Werke so vertraut zu sein wie mit Schuberts Müllerliedern. Mit Freuden wird jeder Kenner dieser einzigen Gesäuge bemerkt haben, daß bereits eine zweite Auflage von ihnen notwendig geworden ist. Sie enthält einige kleine Abweichungen von der ersten, welche der gefänglichen Wirkung zu gute kommen. Indes hat sich Brahms von dem eigentlichen kleinern Liede, dem strophischen wie dem durch- komponirteu, keineswegs ferngehalten. Wenn wir ihn hier verfolgen, so be¬ merken wir eine bestimmte Entwicklung und haben von ihr den Eindruck, daß der Künstler von Anfang an Mühe gehabt habe, seinen ganzen Reichtum in der engen Form unterzubringen, als sei es ihm unter ihren Fesseln lange Zeit nicht ganz wohl gewesen. Die Mehrzahl der Lieder in den ersten Heften gehört der Gattung dem Umfange nach an, aber sie verläßt den herkömmlichen Stil. Der¬ selbe Zug ins Breite und Weite, der die ersten Klavierkomvositivnen charcckteri- sirt, ist auch hier erkennbar. Diese Lieder weisen zum großen Teil über das Lied hinaus, im Aufbau wie im Melodiegehalt. Sie entwickeln ungewöhnlich viel musikalisches Material. Die beliebten Wiederholungen sind bei Brahms spärlicher, die Perioden dafür reicher ausgestattet als bei andern. Während sonst der Nachsatz in der Regel nur eine Umbildung des Vordersatzes ist, konstruirt ihn Brahms aus neuen Motiven. Es ist wahrscheinlich nicht ohne Beziehung auf dieses Verhältnis, daß Brahms sich frühzeitig schon dem Volksliede zuwendete, welches die natürlichen und ewigen Muster des Liedstiles in Fülle bietet. Von seinem c>x. 7 ab hat er seitdem nicht aufgehört, uns mit köstlichen und hochgenialen Nachbildungen der alten gehaltvollen volkstümlichen Gesangweisen zu erfreuen, deutschen, schot¬ tischen und böhmischen. 0x. 14 besteht ganz ans solchen nachgebildeten Volksliedern. In allen acht Nummern lebt eine ursprüngliche Kraft und Innigkeit; hochbe¬ deutend ist namentlich das schottische Stück „Murrays Ermordung." Als eine der ersten freien Liedkompositionen, die streng den knappen und einfachen Stil der Gattung einhält und dabei die volle Eigenart des Komponisten zeigt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/184>, abgerufen am 16.06.2024.