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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Interessenvertretung.

So freilich soll das Wort nicht verstanden werden. Verstanden werden
soll es überhaupt nicht. Die es gebrauchen, vertrauen, wie stets, darauf, daß
die Deutschen die politischen Kinderschuhe noch nicht ausgezogen, die politische
Fibelweisheit noch nicht überwunden haben. Jeder treue Fortschrittsmann, dem
Gesinnung über Urteil geht, weiß ja, daß die alte Vertretung nach Ständen
mit der Zeit ungerecht geworden war, im Verhältnis zur Zahl und Bedeutung
der Bevölkerungsgruppen, und daß wegen der fehlerhaften Anwendung, d. h.
wegen des Festhaltens auch an dem Veralteten, das Prinzip für veraltet und
verwerflich erklärt worden ist und erklärt wird; er weiß ferner, daß völlige
Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Rücksicht auf Namen, Stand, Besitz ze.
in der allgemeinen Volksabstimmung zum Ausdruck kommt. Da aber nicht die
ganze Bevölkerung eines Landes sich als gesetzgebende Versammlung konstituiren
kann, so überträgt sie ihr Stimmrecht auf eine kleine Zahl von Männern, welche
mit diesem Mandat die Quintessenz alles Wissens, aller Urteilskraft, aller Er¬
fahrung, aller Liebe zum Vaterlande des ganzen Wahlkreises in sich aufnehmen,
plus ihres eignen, natürlich großen Vorrates an diesen Eigenschaften. Dieses
Plus ist von größter Wichtigkeit. Denn die Qualitäten, welche die Wähler
dem Gewählten liefern, sind ja immer das Produkt eines beschränkten Gebietes,
und der Extrakt wird daher leicht einen provinziellen, landschaftlichen, lokalen
Beigeschmack erhalten, welcher den Abgeordneten, der ihn in sich ausnimmt,
veranlassen könnte, sich besondern Verhältnissen besonders anzunehmen. Das
darf er aber nicht thun, das wäre "Interessenvertretung"; er aber steht auf
der höhern Warte, übersieht das Ganze, trägt das Wohl und Wehe des ganzen
Volkes, nicht einer einzelnen Provinz, eines Standes u. s. w. in seinem Herzen.
So löst sich auch das scheinbare Rätsel. Ein Beschluß kann den Interessen
aller einzelnen Bruchteile der Nation direkt zuwiderlaufen und dennoch zum
besten des "Volkes" sein; der einzelne Bürger und der einzelne Stand begreift
das häufig nicht, weil er in der Sache befangen ist, unbefangen macht nur die
Weihe zum Abgeordneten. Also du Landbauer, du Gewerbsmann, du Kauf¬
mann, du Soldat, du Lehrer u. s. w., ihr dürft über öffentliche Angelegenheiten
nur mit Ausschluß derjenigen eures Standes mitreden -- es sei denn, daß ihr
Abgeordnete würdet, in welchem Falle ihr, wie soeben dargethan worden ist,
durch einen mystischen Vorgang der einseitigen Auffassung eurer Sphäre entrückt
werdet. Aber wehe euch, wenn ihr als Volksvertreter euch der Bedürfnisse
eures bürgerlichen Berufes erinnern, euch etwa gar auf Erfahrungen, im
Praktischen Leben gesammelt, berufen wolltet! Ihr würdet euch die schärfsten
Zurechtweisungen gefallen und vor ganz Europa euch sagen lassen müssen, daß
ihr eure Stellung zur Förderung von Sonderinteressen mißbrauchen wollet.
Eben deshalb empfiehlt es sich, Personen zu wählen, welche so wenig als möglich
Beziehungen zum Leben und Schaffen der Nation haben, vielmehr gewohnt sind,
jede Sache gleich kühl und unparteiisch als eine solche anzusehen, um die prozessirt


Interessenvertretung.

So freilich soll das Wort nicht verstanden werden. Verstanden werden
soll es überhaupt nicht. Die es gebrauchen, vertrauen, wie stets, darauf, daß
die Deutschen die politischen Kinderschuhe noch nicht ausgezogen, die politische
Fibelweisheit noch nicht überwunden haben. Jeder treue Fortschrittsmann, dem
Gesinnung über Urteil geht, weiß ja, daß die alte Vertretung nach Ständen
mit der Zeit ungerecht geworden war, im Verhältnis zur Zahl und Bedeutung
der Bevölkerungsgruppen, und daß wegen der fehlerhaften Anwendung, d. h.
wegen des Festhaltens auch an dem Veralteten, das Prinzip für veraltet und
verwerflich erklärt worden ist und erklärt wird; er weiß ferner, daß völlige
Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Rücksicht auf Namen, Stand, Besitz ze.
in der allgemeinen Volksabstimmung zum Ausdruck kommt. Da aber nicht die
ganze Bevölkerung eines Landes sich als gesetzgebende Versammlung konstituiren
kann, so überträgt sie ihr Stimmrecht auf eine kleine Zahl von Männern, welche
mit diesem Mandat die Quintessenz alles Wissens, aller Urteilskraft, aller Er¬
fahrung, aller Liebe zum Vaterlande des ganzen Wahlkreises in sich aufnehmen,
plus ihres eignen, natürlich großen Vorrates an diesen Eigenschaften. Dieses
Plus ist von größter Wichtigkeit. Denn die Qualitäten, welche die Wähler
dem Gewählten liefern, sind ja immer das Produkt eines beschränkten Gebietes,
und der Extrakt wird daher leicht einen provinziellen, landschaftlichen, lokalen
Beigeschmack erhalten, welcher den Abgeordneten, der ihn in sich ausnimmt,
veranlassen könnte, sich besondern Verhältnissen besonders anzunehmen. Das
darf er aber nicht thun, das wäre „Interessenvertretung"; er aber steht auf
der höhern Warte, übersieht das Ganze, trägt das Wohl und Wehe des ganzen
Volkes, nicht einer einzelnen Provinz, eines Standes u. s. w. in seinem Herzen.
So löst sich auch das scheinbare Rätsel. Ein Beschluß kann den Interessen
aller einzelnen Bruchteile der Nation direkt zuwiderlaufen und dennoch zum
besten des „Volkes" sein; der einzelne Bürger und der einzelne Stand begreift
das häufig nicht, weil er in der Sache befangen ist, unbefangen macht nur die
Weihe zum Abgeordneten. Also du Landbauer, du Gewerbsmann, du Kauf¬
mann, du Soldat, du Lehrer u. s. w., ihr dürft über öffentliche Angelegenheiten
nur mit Ausschluß derjenigen eures Standes mitreden — es sei denn, daß ihr
Abgeordnete würdet, in welchem Falle ihr, wie soeben dargethan worden ist,
durch einen mystischen Vorgang der einseitigen Auffassung eurer Sphäre entrückt
werdet. Aber wehe euch, wenn ihr als Volksvertreter euch der Bedürfnisse
eures bürgerlichen Berufes erinnern, euch etwa gar auf Erfahrungen, im
Praktischen Leben gesammelt, berufen wolltet! Ihr würdet euch die schärfsten
Zurechtweisungen gefallen und vor ganz Europa euch sagen lassen müssen, daß
ihr eure Stellung zur Förderung von Sonderinteressen mißbrauchen wollet.
Eben deshalb empfiehlt es sich, Personen zu wählen, welche so wenig als möglich
Beziehungen zum Leben und Schaffen der Nation haben, vielmehr gewohnt sind,
jede Sache gleich kühl und unparteiisch als eine solche anzusehen, um die prozessirt


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[0211] Interessenvertretung. So freilich soll das Wort nicht verstanden werden. Verstanden werden soll es überhaupt nicht. Die es gebrauchen, vertrauen, wie stets, darauf, daß die Deutschen die politischen Kinderschuhe noch nicht ausgezogen, die politische Fibelweisheit noch nicht überwunden haben. Jeder treue Fortschrittsmann, dem Gesinnung über Urteil geht, weiß ja, daß die alte Vertretung nach Ständen mit der Zeit ungerecht geworden war, im Verhältnis zur Zahl und Bedeutung der Bevölkerungsgruppen, und daß wegen der fehlerhaften Anwendung, d. h. wegen des Festhaltens auch an dem Veralteten, das Prinzip für veraltet und verwerflich erklärt worden ist und erklärt wird; er weiß ferner, daß völlige Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Rücksicht auf Namen, Stand, Besitz ze. in der allgemeinen Volksabstimmung zum Ausdruck kommt. Da aber nicht die ganze Bevölkerung eines Landes sich als gesetzgebende Versammlung konstituiren kann, so überträgt sie ihr Stimmrecht auf eine kleine Zahl von Männern, welche mit diesem Mandat die Quintessenz alles Wissens, aller Urteilskraft, aller Er¬ fahrung, aller Liebe zum Vaterlande des ganzen Wahlkreises in sich aufnehmen, plus ihres eignen, natürlich großen Vorrates an diesen Eigenschaften. Dieses Plus ist von größter Wichtigkeit. Denn die Qualitäten, welche die Wähler dem Gewählten liefern, sind ja immer das Produkt eines beschränkten Gebietes, und der Extrakt wird daher leicht einen provinziellen, landschaftlichen, lokalen Beigeschmack erhalten, welcher den Abgeordneten, der ihn in sich ausnimmt, veranlassen könnte, sich besondern Verhältnissen besonders anzunehmen. Das darf er aber nicht thun, das wäre „Interessenvertretung"; er aber steht auf der höhern Warte, übersieht das Ganze, trägt das Wohl und Wehe des ganzen Volkes, nicht einer einzelnen Provinz, eines Standes u. s. w. in seinem Herzen. So löst sich auch das scheinbare Rätsel. Ein Beschluß kann den Interessen aller einzelnen Bruchteile der Nation direkt zuwiderlaufen und dennoch zum besten des „Volkes" sein; der einzelne Bürger und der einzelne Stand begreift das häufig nicht, weil er in der Sache befangen ist, unbefangen macht nur die Weihe zum Abgeordneten. Also du Landbauer, du Gewerbsmann, du Kauf¬ mann, du Soldat, du Lehrer u. s. w., ihr dürft über öffentliche Angelegenheiten nur mit Ausschluß derjenigen eures Standes mitreden — es sei denn, daß ihr Abgeordnete würdet, in welchem Falle ihr, wie soeben dargethan worden ist, durch einen mystischen Vorgang der einseitigen Auffassung eurer Sphäre entrückt werdet. Aber wehe euch, wenn ihr als Volksvertreter euch der Bedürfnisse eures bürgerlichen Berufes erinnern, euch etwa gar auf Erfahrungen, im Praktischen Leben gesammelt, berufen wolltet! Ihr würdet euch die schärfsten Zurechtweisungen gefallen und vor ganz Europa euch sagen lassen müssen, daß ihr eure Stellung zur Förderung von Sonderinteressen mißbrauchen wollet. Eben deshalb empfiehlt es sich, Personen zu wählen, welche so wenig als möglich Beziehungen zum Leben und Schaffen der Nation haben, vielmehr gewohnt sind, jede Sache gleich kühl und unparteiisch als eine solche anzusehen, um die prozessirt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/211>, abgerufen am 15.06.2024.