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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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benutzt worden, und die Menschen sind eher disponirt, einer Frage überhaupt näher¬
zutreten, welcher sie bisher mit abergläubischer Scheu auswichen. Sie sehen, daß
zwei große und einflußreiche Parteien eingestandenermaßen ihr Verhalten immer
und überall von Sonderinteressen abhängig machen, das Wohl und Wehe der
Allgemeinheit zurücktreten lassen, die eine hinter die Forderungen einer religiösen
Gemeinschaft, die andern hintern die Dogmen eines phantastischen Sozialismus.
Sie sehen aber auch, daß der Fabrikant, der Bankier, der Eisenbahnmann
n. s. w. im passenden Momente völlig vergessen, daß sie nicht in solcher
Eigenschaft, sondern als Bekenner einer politischen Lehre abgeordnet worden
sind und mit allem Nachdruck den Interessen ihres Berufes das Wort reden;
daß man gelegentlich mit Feuereifer sich der Rechte der Tabakhändler, der
Rheder oder andrer Klassen der Bevölkerung annimmt, um Maßregeln zu ver¬
hindern, welche jenen, aber auch nur jenen unangenehm werden könnten. Und
so gelangen wir naturgemäß zu der Erwägung, ob es nicht zweckmäßiger sein
würde, wenn die verschiednen Klassen, Vernfszwcigc, Interessengruppen un¬
mittelbar vertreten wären, und die Wähler in erster Linie auf Sachkenntnis
und persönlichen Charakter als auf politische Parteifarbe und Virtuosität im
Reden sehen wollten. Gerade dadurch konnte dem gefährlichen Übergewicht
einzelner Schichten, seien diese die gefürchteten Rittergutsbesitzer und Lcmdräte
oder die Amtsrichter oder die Kapläne oder die Sozialdemokraten, vorgebeugt
werden. Und es wird doch niemand leugnen, daß ein solches Übergewicht noch
verhängnisvoller werden könnte als die alte ständische Gliederung, an deren
Wiederherstellung selbstverständlich niemand denkt.




Gin neuer Verein.

in neuer Verein hat sich aufgethan "zur Wahrung der wirtschaft¬
lichen Interessen von Handel und Gewerbe." Aber bestehen denn
nicht schon in Deutschland ausreichende Organe zur Wahrung
dieser Interessen? Giebt es nicht mehr als hundert Handels¬
kammern, welche jederzeit, gefragt oder ungefragt, ihr Gutachten
über die wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe abzugeben berufen
sind? Giebt es nicht auch einen deutscheu Handelstag, welcher noch nicht ver¬
säumt hat, bei jeder ihm passend erscheinenden Gelegenheit seine Meinung über
jene Interessen kundzugeben? Und schweigt etwa unsre Presse über diesen
Gegenstand? Giebt es nicht vielmehr Hunderte von Federn, welche, bezahlt oder


benutzt worden, und die Menschen sind eher disponirt, einer Frage überhaupt näher¬
zutreten, welcher sie bisher mit abergläubischer Scheu auswichen. Sie sehen, daß
zwei große und einflußreiche Parteien eingestandenermaßen ihr Verhalten immer
und überall von Sonderinteressen abhängig machen, das Wohl und Wehe der
Allgemeinheit zurücktreten lassen, die eine hinter die Forderungen einer religiösen
Gemeinschaft, die andern hintern die Dogmen eines phantastischen Sozialismus.
Sie sehen aber auch, daß der Fabrikant, der Bankier, der Eisenbahnmann
n. s. w. im passenden Momente völlig vergessen, daß sie nicht in solcher
Eigenschaft, sondern als Bekenner einer politischen Lehre abgeordnet worden
sind und mit allem Nachdruck den Interessen ihres Berufes das Wort reden;
daß man gelegentlich mit Feuereifer sich der Rechte der Tabakhändler, der
Rheder oder andrer Klassen der Bevölkerung annimmt, um Maßregeln zu ver¬
hindern, welche jenen, aber auch nur jenen unangenehm werden könnten. Und
so gelangen wir naturgemäß zu der Erwägung, ob es nicht zweckmäßiger sein
würde, wenn die verschiednen Klassen, Vernfszwcigc, Interessengruppen un¬
mittelbar vertreten wären, und die Wähler in erster Linie auf Sachkenntnis
und persönlichen Charakter als auf politische Parteifarbe und Virtuosität im
Reden sehen wollten. Gerade dadurch konnte dem gefährlichen Übergewicht
einzelner Schichten, seien diese die gefürchteten Rittergutsbesitzer und Lcmdräte
oder die Amtsrichter oder die Kapläne oder die Sozialdemokraten, vorgebeugt
werden. Und es wird doch niemand leugnen, daß ein solches Übergewicht noch
verhängnisvoller werden könnte als die alte ständische Gliederung, an deren
Wiederherstellung selbstverständlich niemand denkt.




Gin neuer Verein.

in neuer Verein hat sich aufgethan „zur Wahrung der wirtschaft¬
lichen Interessen von Handel und Gewerbe." Aber bestehen denn
nicht schon in Deutschland ausreichende Organe zur Wahrung
dieser Interessen? Giebt es nicht mehr als hundert Handels¬
kammern, welche jederzeit, gefragt oder ungefragt, ihr Gutachten
über die wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe abzugeben berufen
sind? Giebt es nicht auch einen deutscheu Handelstag, welcher noch nicht ver¬
säumt hat, bei jeder ihm passend erscheinenden Gelegenheit seine Meinung über
jene Interessen kundzugeben? Und schweigt etwa unsre Presse über diesen
Gegenstand? Giebt es nicht vielmehr Hunderte von Federn, welche, bezahlt oder


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[0213] benutzt worden, und die Menschen sind eher disponirt, einer Frage überhaupt näher¬ zutreten, welcher sie bisher mit abergläubischer Scheu auswichen. Sie sehen, daß zwei große und einflußreiche Parteien eingestandenermaßen ihr Verhalten immer und überall von Sonderinteressen abhängig machen, das Wohl und Wehe der Allgemeinheit zurücktreten lassen, die eine hinter die Forderungen einer religiösen Gemeinschaft, die andern hintern die Dogmen eines phantastischen Sozialismus. Sie sehen aber auch, daß der Fabrikant, der Bankier, der Eisenbahnmann n. s. w. im passenden Momente völlig vergessen, daß sie nicht in solcher Eigenschaft, sondern als Bekenner einer politischen Lehre abgeordnet worden sind und mit allem Nachdruck den Interessen ihres Berufes das Wort reden; daß man gelegentlich mit Feuereifer sich der Rechte der Tabakhändler, der Rheder oder andrer Klassen der Bevölkerung annimmt, um Maßregeln zu ver¬ hindern, welche jenen, aber auch nur jenen unangenehm werden könnten. Und so gelangen wir naturgemäß zu der Erwägung, ob es nicht zweckmäßiger sein würde, wenn die verschiednen Klassen, Vernfszwcigc, Interessengruppen un¬ mittelbar vertreten wären, und die Wähler in erster Linie auf Sachkenntnis und persönlichen Charakter als auf politische Parteifarbe und Virtuosität im Reden sehen wollten. Gerade dadurch konnte dem gefährlichen Übergewicht einzelner Schichten, seien diese die gefürchteten Rittergutsbesitzer und Lcmdräte oder die Amtsrichter oder die Kapläne oder die Sozialdemokraten, vorgebeugt werden. Und es wird doch niemand leugnen, daß ein solches Übergewicht noch verhängnisvoller werden könnte als die alte ständische Gliederung, an deren Wiederherstellung selbstverständlich niemand denkt. Gin neuer Verein. in neuer Verein hat sich aufgethan „zur Wahrung der wirtschaft¬ lichen Interessen von Handel und Gewerbe." Aber bestehen denn nicht schon in Deutschland ausreichende Organe zur Wahrung dieser Interessen? Giebt es nicht mehr als hundert Handels¬ kammern, welche jederzeit, gefragt oder ungefragt, ihr Gutachten über die wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe abzugeben berufen sind? Giebt es nicht auch einen deutscheu Handelstag, welcher noch nicht ver¬ säumt hat, bei jeder ihm passend erscheinenden Gelegenheit seine Meinung über jene Interessen kundzugeben? Und schweigt etwa unsre Presse über diesen Gegenstand? Giebt es nicht vielmehr Hunderte von Federn, welche, bezahlt oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/213>, abgerufen am 16.06.2024.