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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Zur Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit.

der Staat ist, welcher diese Maßregeln in die Hand nimmt! Aber soweit
Mittel und Wege auseinander liegen mögen, in dem gemeinsamen Boden christ¬
licher Liebe wurzeln doch auch die sozialpolitischen Bestrebungen, zu denen der
Genius unsers großen Staatsmannes den schöpferischen Anstoß gegeben hat.

Es erscheint als das Bedeutende an Uhlhorns Buch, daß er die christliche
Liebesthätigkeit nicht für sich abgesondert behandelt, sondern stets den Blick auf
den Zusammenhang der kulturgeschichtlichen Entwicklung gerichtet hält. Er selbst
sagt einmal: "Die Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit ist nur zu verstehen,
wenn man sie hineinstellt in den Zusammenhang der ganzen kirchengeschichtlichen,
ja der weltgeschichtlichen Entwicklung, denn nur so wird man die ihr in jeder
Zeit gestellte eigentümliche Aufgabe, und wie sie in Lösung derselben zugleich
an der Lösung der weltgeschichtlichen Aufgabe wahrlich nicht als der geringste
und unbedeutendste Faktor mitgearbeitet hat, zu verstehen und ihren mit der
Zeit wechselnden Charakter recht zu würdigen imstande sein." Wir müssen es
uns versagen, hier im einzelnen den Ausführungen des Verfassers nach dieser
Richtung hin nachzugehen, nur das sei hervorgehoben, daß er mit Recht den
innigen Zusammenhang betont, in welchem die Liebesthätigkeit zu den großen
bewegenden Faktoren des sozialen Lebens, der Arbeit und dem Eigentum, steht.
"Arbeit, Eigentum, Almosen, die drei Stücke gehören auf das engste zusammen.
Eine gesunde Liebesthätigkeit ist nur da möglich, wo gesunde sittliche An¬
schauungen von Arbeit und Eigentum herrschen." Als den Grundschaden mittel¬
alterlicher Liebesthätigkeit betrachtet es daher Uhlhorn, daß sie, im Gegensatz
zu der apostolischen und urchristlicher Anschauungsweise, von einer falschen sitt¬
lichen Würdigung der Arbeit und des Eigentums ausgehend, den Stand einer frei¬
willigen Armut für sittlich höher, für den geradesten Weg zur Seligkeit achtete.
Diese Weltanschauung der reinen Jenseitigkeit sah in der Arbeit nur eine Form der
Kasteiung, im Sondereigentum nur eine notgedrungene Konzession an den un¬
vollkommenen Zustand dieser Welt, das Almosen aber war ihr folgerichtig zu
einem sündentilgenden Werke geworden, dessen Verdienst nicht darin lag, daß
die Armut als ein Übel überwunden ward, sondern in dem Verzichte auf das
hingegebene irdische Gut. Alle Barmherzigkeitsübung, alles Almosengeben ver¬
folgte als Hauptziel das eigne Seelenheil. So war denn die Folge, daß man
die Armut nicht bekämpfte, sondern pflegte, den Bettel großzog und zuletzt, am
Ausgange des Mittelalters, trotz eines massenhaften Almvsengebens, trotz un¬
zähliger Stiftungen und Anstalten mit einem vollständigen Bankerott gegenüber
der Armut abschloß. Erst die Reformation, welche die urchristlicher Gedanken
von Reichtum und Armut, von Eigentum und Almosen, von Arbeit und Beruf
wieder lebendig machte, erschloß damit auch neue Quellen des Liebeslebens.
Diese Gedanken aber haben sich noch lange nicht ausgewirkt. Unsrer Zeit vor
allem mißt der Verfasser die Aufgabe zu, die reformatorischen und evangelischen
Gedanken über Liebesthätigkeit und Armenpflege im Zusammenhange mit den'


Grenzboten III. 1384. 27
Zur Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit.

der Staat ist, welcher diese Maßregeln in die Hand nimmt! Aber soweit
Mittel und Wege auseinander liegen mögen, in dem gemeinsamen Boden christ¬
licher Liebe wurzeln doch auch die sozialpolitischen Bestrebungen, zu denen der
Genius unsers großen Staatsmannes den schöpferischen Anstoß gegeben hat.

Es erscheint als das Bedeutende an Uhlhorns Buch, daß er die christliche
Liebesthätigkeit nicht für sich abgesondert behandelt, sondern stets den Blick auf
den Zusammenhang der kulturgeschichtlichen Entwicklung gerichtet hält. Er selbst
sagt einmal: „Die Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit ist nur zu verstehen,
wenn man sie hineinstellt in den Zusammenhang der ganzen kirchengeschichtlichen,
ja der weltgeschichtlichen Entwicklung, denn nur so wird man die ihr in jeder
Zeit gestellte eigentümliche Aufgabe, und wie sie in Lösung derselben zugleich
an der Lösung der weltgeschichtlichen Aufgabe wahrlich nicht als der geringste
und unbedeutendste Faktor mitgearbeitet hat, zu verstehen und ihren mit der
Zeit wechselnden Charakter recht zu würdigen imstande sein." Wir müssen es
uns versagen, hier im einzelnen den Ausführungen des Verfassers nach dieser
Richtung hin nachzugehen, nur das sei hervorgehoben, daß er mit Recht den
innigen Zusammenhang betont, in welchem die Liebesthätigkeit zu den großen
bewegenden Faktoren des sozialen Lebens, der Arbeit und dem Eigentum, steht.
„Arbeit, Eigentum, Almosen, die drei Stücke gehören auf das engste zusammen.
Eine gesunde Liebesthätigkeit ist nur da möglich, wo gesunde sittliche An¬
schauungen von Arbeit und Eigentum herrschen." Als den Grundschaden mittel¬
alterlicher Liebesthätigkeit betrachtet es daher Uhlhorn, daß sie, im Gegensatz
zu der apostolischen und urchristlicher Anschauungsweise, von einer falschen sitt¬
lichen Würdigung der Arbeit und des Eigentums ausgehend, den Stand einer frei¬
willigen Armut für sittlich höher, für den geradesten Weg zur Seligkeit achtete.
Diese Weltanschauung der reinen Jenseitigkeit sah in der Arbeit nur eine Form der
Kasteiung, im Sondereigentum nur eine notgedrungene Konzession an den un¬
vollkommenen Zustand dieser Welt, das Almosen aber war ihr folgerichtig zu
einem sündentilgenden Werke geworden, dessen Verdienst nicht darin lag, daß
die Armut als ein Übel überwunden ward, sondern in dem Verzichte auf das
hingegebene irdische Gut. Alle Barmherzigkeitsübung, alles Almosengeben ver¬
folgte als Hauptziel das eigne Seelenheil. So war denn die Folge, daß man
die Armut nicht bekämpfte, sondern pflegte, den Bettel großzog und zuletzt, am
Ausgange des Mittelalters, trotz eines massenhaften Almvsengebens, trotz un¬
zähliger Stiftungen und Anstalten mit einem vollständigen Bankerott gegenüber
der Armut abschloß. Erst die Reformation, welche die urchristlicher Gedanken
von Reichtum und Armut, von Eigentum und Almosen, von Arbeit und Beruf
wieder lebendig machte, erschloß damit auch neue Quellen des Liebeslebens.
Diese Gedanken aber haben sich noch lange nicht ausgewirkt. Unsrer Zeit vor
allem mißt der Verfasser die Aufgabe zu, die reformatorischen und evangelischen
Gedanken über Liebesthätigkeit und Armenpflege im Zusammenhange mit den'


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[0217] Zur Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit. der Staat ist, welcher diese Maßregeln in die Hand nimmt! Aber soweit Mittel und Wege auseinander liegen mögen, in dem gemeinsamen Boden christ¬ licher Liebe wurzeln doch auch die sozialpolitischen Bestrebungen, zu denen der Genius unsers großen Staatsmannes den schöpferischen Anstoß gegeben hat. Es erscheint als das Bedeutende an Uhlhorns Buch, daß er die christliche Liebesthätigkeit nicht für sich abgesondert behandelt, sondern stets den Blick auf den Zusammenhang der kulturgeschichtlichen Entwicklung gerichtet hält. Er selbst sagt einmal: „Die Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit ist nur zu verstehen, wenn man sie hineinstellt in den Zusammenhang der ganzen kirchengeschichtlichen, ja der weltgeschichtlichen Entwicklung, denn nur so wird man die ihr in jeder Zeit gestellte eigentümliche Aufgabe, und wie sie in Lösung derselben zugleich an der Lösung der weltgeschichtlichen Aufgabe wahrlich nicht als der geringste und unbedeutendste Faktor mitgearbeitet hat, zu verstehen und ihren mit der Zeit wechselnden Charakter recht zu würdigen imstande sein." Wir müssen es uns versagen, hier im einzelnen den Ausführungen des Verfassers nach dieser Richtung hin nachzugehen, nur das sei hervorgehoben, daß er mit Recht den innigen Zusammenhang betont, in welchem die Liebesthätigkeit zu den großen bewegenden Faktoren des sozialen Lebens, der Arbeit und dem Eigentum, steht. „Arbeit, Eigentum, Almosen, die drei Stücke gehören auf das engste zusammen. Eine gesunde Liebesthätigkeit ist nur da möglich, wo gesunde sittliche An¬ schauungen von Arbeit und Eigentum herrschen." Als den Grundschaden mittel¬ alterlicher Liebesthätigkeit betrachtet es daher Uhlhorn, daß sie, im Gegensatz zu der apostolischen und urchristlicher Anschauungsweise, von einer falschen sitt¬ lichen Würdigung der Arbeit und des Eigentums ausgehend, den Stand einer frei¬ willigen Armut für sittlich höher, für den geradesten Weg zur Seligkeit achtete. Diese Weltanschauung der reinen Jenseitigkeit sah in der Arbeit nur eine Form der Kasteiung, im Sondereigentum nur eine notgedrungene Konzession an den un¬ vollkommenen Zustand dieser Welt, das Almosen aber war ihr folgerichtig zu einem sündentilgenden Werke geworden, dessen Verdienst nicht darin lag, daß die Armut als ein Übel überwunden ward, sondern in dem Verzichte auf das hingegebene irdische Gut. Alle Barmherzigkeitsübung, alles Almosengeben ver¬ folgte als Hauptziel das eigne Seelenheil. So war denn die Folge, daß man die Armut nicht bekämpfte, sondern pflegte, den Bettel großzog und zuletzt, am Ausgange des Mittelalters, trotz eines massenhaften Almvsengebens, trotz un¬ zähliger Stiftungen und Anstalten mit einem vollständigen Bankerott gegenüber der Armut abschloß. Erst die Reformation, welche die urchristlicher Gedanken von Reichtum und Armut, von Eigentum und Almosen, von Arbeit und Beruf wieder lebendig machte, erschloß damit auch neue Quellen des Liebeslebens. Diese Gedanken aber haben sich noch lange nicht ausgewirkt. Unsrer Zeit vor allem mißt der Verfasser die Aufgabe zu, die reformatorischen und evangelischen Gedanken über Liebesthätigkeit und Armenpflege im Zusammenhange mit den' Grenzboten III. 1384. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/217>, abgerufen am 15.06.2024.