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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Faust.

kommt die große Masse je darüber hinaus --, haben die weisesten Männer,
gottbegnadete Seher, Propheten und Sänger die tiefsten und wertvollsten Ge¬
danken, die sie dem Volke für alle Zeiten erhalten wollten, in Allegorien ge¬
kleidet. Als solche wurden sie willig aufgenommen und leicht verbreitet, und
wenn auch der tiefere Sinn nur von wenigen richtig gedeutet wurde, so hatte
doch für weitere Kreise des Volkes auch die allegorische Überlieferung eine sitt¬
liche Kraft, sie gab dem Gemüt einen Halt, es über die Gemeinheit des all¬
täglichen Lebens hinauszuheben, ungefähr in demselben Grade, als wenn der
tiefere Sinn der Allegorien jedesmal richtig gedeutet und verstanden worden
wäre. Mit der Zeit pflegt es sich dann aber zu ereignen, daß die Wissenden,
denen das Geheimnis der allegorischen heiligen Dichtungen anvertraut ist, hoch¬
mütig werden, sich mit Fanatikern und Heuchlern zusammenthun und vom Volke
verlangen, es solle nicht mehr die Dichtung als ein allegorisches Gewand für
tiefe, schwerbegreifliche Weisheit, sondern als wirklich geschehene Thatsache auf¬
fasse". Die mythischen Gestatte,, der Götter und Ungeheuer werden in mensch¬
liche Abenteuer verstrickt, der ursprüngliche erhabene Sinn der Allegorien geht
verloren, an Stelle frommer Verehrung der heiligen Schriften wird das starre
Festhalten am toten Buchstaben gefordert. Dem gegenüber empört sich dann
der reflektirende Verstand, die unverstandenen allegorischen Formen werden dnrch
die Kritik aufgelöst, der ursprünglich tiefe Sinn derselben wird keineswegs leicht
und schnell wiedergefunden, fondern nur zu oft geht mit der Zersetzung der
Form der Inhalt mit verloren. Das nennt man dann ein Zeitalter der Auf¬
klärung. Erst macht man Gott zu einem guten alten Mann in weißem Bart,
der auf einem goldnen Thron im Himmel sitzt, dann beweist man mit Hilfe der
Philosophie und Naturwissenschaft, daß das unmöglich sei, und mit der kind¬
lichen Vorstellung zugleich, deren erstarrte Form leicht zu zerschlagen ist, geht
der fromme Glaube verloren.

Alles dies sollte hier nicht zu dem Zwecke gesagt werden, um zu beweisen,
daß der "Faust" notwendig aus einer Kette von Allegorien bestehen müsse,
wohl aber um wenigstens nachzuweisen, daß er recht wohl so aufgefaßt werden
könne. Denn alle bisherigen Erklärer bemühen sich mehr oder weniger, das
Gegenteil zu beweisen. Ist doch die Geschichte seiner Deutung und Auffassung
im allgemeinen denselben Weg gegange". Anfänglich hat man ihn ganz "alö
aufgenommen als die Darstellung einer Volkssage, die wohl einen tiefern Sinn
zu haben schien. Doch brauchte man sich beim ersten Teil nichl gar zu sehr
darum zu quälen. Er schien ja so leicht verständlich durch alle die menschlichen
Seelenschmerzen und Leidenschaften, die hincingewoben sind! Beim zweiten
Teile war es schon schwieriger, ihn als eine einfache Weiterentwicklung der Volks¬
sage aufzufassen. Es drängten sich die rätselhaften Stellen so massenhaft auf,,
daß eine allegorische Deutung derselben nötig schien, ja die von Goethe hie und
da absichtlich gewählten mystischen Formen schienen eine solche geradezu zu


Line Übersetzung von Goethes Faust.

kommt die große Masse je darüber hinaus —, haben die weisesten Männer,
gottbegnadete Seher, Propheten und Sänger die tiefsten und wertvollsten Ge¬
danken, die sie dem Volke für alle Zeiten erhalten wollten, in Allegorien ge¬
kleidet. Als solche wurden sie willig aufgenommen und leicht verbreitet, und
wenn auch der tiefere Sinn nur von wenigen richtig gedeutet wurde, so hatte
doch für weitere Kreise des Volkes auch die allegorische Überlieferung eine sitt¬
liche Kraft, sie gab dem Gemüt einen Halt, es über die Gemeinheit des all¬
täglichen Lebens hinauszuheben, ungefähr in demselben Grade, als wenn der
tiefere Sinn der Allegorien jedesmal richtig gedeutet und verstanden worden
wäre. Mit der Zeit pflegt es sich dann aber zu ereignen, daß die Wissenden,
denen das Geheimnis der allegorischen heiligen Dichtungen anvertraut ist, hoch¬
mütig werden, sich mit Fanatikern und Heuchlern zusammenthun und vom Volke
verlangen, es solle nicht mehr die Dichtung als ein allegorisches Gewand für
tiefe, schwerbegreifliche Weisheit, sondern als wirklich geschehene Thatsache auf¬
fasse». Die mythischen Gestatte,, der Götter und Ungeheuer werden in mensch¬
liche Abenteuer verstrickt, der ursprüngliche erhabene Sinn der Allegorien geht
verloren, an Stelle frommer Verehrung der heiligen Schriften wird das starre
Festhalten am toten Buchstaben gefordert. Dem gegenüber empört sich dann
der reflektirende Verstand, die unverstandenen allegorischen Formen werden dnrch
die Kritik aufgelöst, der ursprünglich tiefe Sinn derselben wird keineswegs leicht
und schnell wiedergefunden, fondern nur zu oft geht mit der Zersetzung der
Form der Inhalt mit verloren. Das nennt man dann ein Zeitalter der Auf¬
klärung. Erst macht man Gott zu einem guten alten Mann in weißem Bart,
der auf einem goldnen Thron im Himmel sitzt, dann beweist man mit Hilfe der
Philosophie und Naturwissenschaft, daß das unmöglich sei, und mit der kind¬
lichen Vorstellung zugleich, deren erstarrte Form leicht zu zerschlagen ist, geht
der fromme Glaube verloren.

Alles dies sollte hier nicht zu dem Zwecke gesagt werden, um zu beweisen,
daß der „Faust" notwendig aus einer Kette von Allegorien bestehen müsse,
wohl aber um wenigstens nachzuweisen, daß er recht wohl so aufgefaßt werden
könne. Denn alle bisherigen Erklärer bemühen sich mehr oder weniger, das
Gegenteil zu beweisen. Ist doch die Geschichte seiner Deutung und Auffassung
im allgemeinen denselben Weg gegange». Anfänglich hat man ihn ganz »alö
aufgenommen als die Darstellung einer Volkssage, die wohl einen tiefern Sinn
zu haben schien. Doch brauchte man sich beim ersten Teil nichl gar zu sehr
darum zu quälen. Er schien ja so leicht verständlich durch alle die menschlichen
Seelenschmerzen und Leidenschaften, die hincingewoben sind! Beim zweiten
Teile war es schon schwieriger, ihn als eine einfache Weiterentwicklung der Volks¬
sage aufzufassen. Es drängten sich die rätselhaften Stellen so massenhaft auf,,
daß eine allegorische Deutung derselben nötig schien, ja die von Goethe hie und
da absichtlich gewählten mystischen Formen schienen eine solche geradezu zu


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[0230] Line Übersetzung von Goethes Faust. kommt die große Masse je darüber hinaus —, haben die weisesten Männer, gottbegnadete Seher, Propheten und Sänger die tiefsten und wertvollsten Ge¬ danken, die sie dem Volke für alle Zeiten erhalten wollten, in Allegorien ge¬ kleidet. Als solche wurden sie willig aufgenommen und leicht verbreitet, und wenn auch der tiefere Sinn nur von wenigen richtig gedeutet wurde, so hatte doch für weitere Kreise des Volkes auch die allegorische Überlieferung eine sitt¬ liche Kraft, sie gab dem Gemüt einen Halt, es über die Gemeinheit des all¬ täglichen Lebens hinauszuheben, ungefähr in demselben Grade, als wenn der tiefere Sinn der Allegorien jedesmal richtig gedeutet und verstanden worden wäre. Mit der Zeit pflegt es sich dann aber zu ereignen, daß die Wissenden, denen das Geheimnis der allegorischen heiligen Dichtungen anvertraut ist, hoch¬ mütig werden, sich mit Fanatikern und Heuchlern zusammenthun und vom Volke verlangen, es solle nicht mehr die Dichtung als ein allegorisches Gewand für tiefe, schwerbegreifliche Weisheit, sondern als wirklich geschehene Thatsache auf¬ fasse». Die mythischen Gestatte,, der Götter und Ungeheuer werden in mensch¬ liche Abenteuer verstrickt, der ursprüngliche erhabene Sinn der Allegorien geht verloren, an Stelle frommer Verehrung der heiligen Schriften wird das starre Festhalten am toten Buchstaben gefordert. Dem gegenüber empört sich dann der reflektirende Verstand, die unverstandenen allegorischen Formen werden dnrch die Kritik aufgelöst, der ursprünglich tiefe Sinn derselben wird keineswegs leicht und schnell wiedergefunden, fondern nur zu oft geht mit der Zersetzung der Form der Inhalt mit verloren. Das nennt man dann ein Zeitalter der Auf¬ klärung. Erst macht man Gott zu einem guten alten Mann in weißem Bart, der auf einem goldnen Thron im Himmel sitzt, dann beweist man mit Hilfe der Philosophie und Naturwissenschaft, daß das unmöglich sei, und mit der kind¬ lichen Vorstellung zugleich, deren erstarrte Form leicht zu zerschlagen ist, geht der fromme Glaube verloren. Alles dies sollte hier nicht zu dem Zwecke gesagt werden, um zu beweisen, daß der „Faust" notwendig aus einer Kette von Allegorien bestehen müsse, wohl aber um wenigstens nachzuweisen, daß er recht wohl so aufgefaßt werden könne. Denn alle bisherigen Erklärer bemühen sich mehr oder weniger, das Gegenteil zu beweisen. Ist doch die Geschichte seiner Deutung und Auffassung im allgemeinen denselben Weg gegange». Anfänglich hat man ihn ganz »alö aufgenommen als die Darstellung einer Volkssage, die wohl einen tiefern Sinn zu haben schien. Doch brauchte man sich beim ersten Teil nichl gar zu sehr darum zu quälen. Er schien ja so leicht verständlich durch alle die menschlichen Seelenschmerzen und Leidenschaften, die hincingewoben sind! Beim zweiten Teile war es schon schwieriger, ihn als eine einfache Weiterentwicklung der Volks¬ sage aufzufassen. Es drängten sich die rätselhaften Stellen so massenhaft auf,, daß eine allegorische Deutung derselben nötig schien, ja die von Goethe hie und da absichtlich gewählten mystischen Formen schienen eine solche geradezu zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/230>, abgerufen am 15.06.2024.