Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
<Line Übersetzung von Goethes Faust.

Greises, der längst das Feuer und die dramatisch gestaltende Kraft der Jugend
verloren hatte, der sich freute, mit alter Routine glatte Verse und Reime zu
schreiben, dem aber die Idee des ersten Fnustwerkes ganz abhanden gekommen
war. Noch andre sagen: Die vielen Rätsel im zweiten Teile des "Faust" ver¬
stecken durchweg nur eine Menge literarischer, künstlerischer und wissenschaftlicher
Streitigkeiten, die Goethe mit seinen Zeitgenossen hatte. Je längere Zeit aber
darüber verflossen ist, desto weniger Interesse hat es, den Sinn derselben auf¬
zudecken, selbst wenn wir dazu imstande wären. Die Weisheit, die darin nieder¬
gelegt ist, wird nicht groß sein, denn Goethe war doch eigentlich kein Gelehrter,
sondern ein Dichter, was er in der Wissenschaft etwa leisten mochte, ist jeden¬
falls von den gewaltigen Fortschritten der Gegenwart längst überholt. Es wird
also der zweite Teil des "Faust" nach und nach allen Wert verlieren, wenn
dieser überhaupt je groß gewesen ist. Endlich giebt es auch noch ganz kluge
Leute, die sagen: Wir wissen es genau aus dem überlieferten Stadtklatsch von
Weimar und Jena, daß Goethe in der letzten Zeit nur durch den Buchhändler
Geld verdienen wollte, und weil er gewiß war, daß alles, was er schrieb, gut
honorirt wurde, so stellte er alle Fragmente, die in seinen Schubfächern
zerstreut lagen, zusammen und gab ihnen oberflächlich eine Art Zusammenhang
unter dem Titel "Faust," ganz unbekümmert darum, was das Publikum dazu
sagen würde.

Kaum einer aber würde antworten: Der erste und zweite Teil des
"Faust" sind von Anfang bis zu Ende ein einheitliches, nach demselben Plane
mit der höchsten dichterischen Kraft und philosophischen Tiefe durchgeführtes
Werk, welches bis auf das letzte Wort deutlich erklärt werden kann, sobald
man den Schlüssel dazu gefunden hat. Dies letztere verspricht aber jetzt ein
Schriftsteller, dessen Werk demnächst unter dem Titel: 8Mux loouta sse bei
Westermann in Braunschweig erscheinen wird. Er hat durch die Anwendung
der Kantischen Kategorien auf die Sprache, die Grammatik und den Sprach¬
unterricht schon manche schriftstellerischen Erfolge errungen, aber in diesem Falle
will er vorläufig noch anonym bleiben. Den Schlüssel zur Erklärung des
"Faust" glaubt er gefunden zu haben, indem er alle Figuren, die darin vor¬
kommen, als eine Kette von Allegorien*) betrachtet, die alle Bezug auf das mensch¬
liche Geistesleben haben, aber niemals lebende Geschöpfe darstellen.

Die Allegorie ist ohne Zweifel die älteste und ursprünglichste Form aller
Dichtung, denn ohne sie entstehen keine Mythen, Sagen, ja selbst keine heiligen
Schriften und Legenden. Oder muß man nicht die Schlange des Paradieses
und den Baum der Erkenntnis als Allegorien auffassen? Solange noch die
Völker auf einer kindlichen Entwicklungsstufe der Bildung standen -- und wann



") Dies Wort soll hier stets in dem ursprünglich einfachsten Sinne verstanden werden,
dnß etwas anders benannt wird, als wie sein eigentlicher Name ist.
<Line Übersetzung von Goethes Faust.

Greises, der längst das Feuer und die dramatisch gestaltende Kraft der Jugend
verloren hatte, der sich freute, mit alter Routine glatte Verse und Reime zu
schreiben, dem aber die Idee des ersten Fnustwerkes ganz abhanden gekommen
war. Noch andre sagen: Die vielen Rätsel im zweiten Teile des „Faust" ver¬
stecken durchweg nur eine Menge literarischer, künstlerischer und wissenschaftlicher
Streitigkeiten, die Goethe mit seinen Zeitgenossen hatte. Je längere Zeit aber
darüber verflossen ist, desto weniger Interesse hat es, den Sinn derselben auf¬
zudecken, selbst wenn wir dazu imstande wären. Die Weisheit, die darin nieder¬
gelegt ist, wird nicht groß sein, denn Goethe war doch eigentlich kein Gelehrter,
sondern ein Dichter, was er in der Wissenschaft etwa leisten mochte, ist jeden¬
falls von den gewaltigen Fortschritten der Gegenwart längst überholt. Es wird
also der zweite Teil des „Faust" nach und nach allen Wert verlieren, wenn
dieser überhaupt je groß gewesen ist. Endlich giebt es auch noch ganz kluge
Leute, die sagen: Wir wissen es genau aus dem überlieferten Stadtklatsch von
Weimar und Jena, daß Goethe in der letzten Zeit nur durch den Buchhändler
Geld verdienen wollte, und weil er gewiß war, daß alles, was er schrieb, gut
honorirt wurde, so stellte er alle Fragmente, die in seinen Schubfächern
zerstreut lagen, zusammen und gab ihnen oberflächlich eine Art Zusammenhang
unter dem Titel „Faust," ganz unbekümmert darum, was das Publikum dazu
sagen würde.

Kaum einer aber würde antworten: Der erste und zweite Teil des
„Faust" sind von Anfang bis zu Ende ein einheitliches, nach demselben Plane
mit der höchsten dichterischen Kraft und philosophischen Tiefe durchgeführtes
Werk, welches bis auf das letzte Wort deutlich erklärt werden kann, sobald
man den Schlüssel dazu gefunden hat. Dies letztere verspricht aber jetzt ein
Schriftsteller, dessen Werk demnächst unter dem Titel: 8Mux loouta sse bei
Westermann in Braunschweig erscheinen wird. Er hat durch die Anwendung
der Kantischen Kategorien auf die Sprache, die Grammatik und den Sprach¬
unterricht schon manche schriftstellerischen Erfolge errungen, aber in diesem Falle
will er vorläufig noch anonym bleiben. Den Schlüssel zur Erklärung des
"Faust" glaubt er gefunden zu haben, indem er alle Figuren, die darin vor¬
kommen, als eine Kette von Allegorien*) betrachtet, die alle Bezug auf das mensch¬
liche Geistesleben haben, aber niemals lebende Geschöpfe darstellen.

Die Allegorie ist ohne Zweifel die älteste und ursprünglichste Form aller
Dichtung, denn ohne sie entstehen keine Mythen, Sagen, ja selbst keine heiligen
Schriften und Legenden. Oder muß man nicht die Schlange des Paradieses
und den Baum der Erkenntnis als Allegorien auffassen? Solange noch die
Völker auf einer kindlichen Entwicklungsstufe der Bildung standen — und wann



") Dies Wort soll hier stets in dem ursprünglich einfachsten Sinne verstanden werden,
dnß etwas anders benannt wird, als wie sein eigentlicher Name ist.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0229" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156500"/>
          <fw type="header" place="top"> &lt;Line Übersetzung von Goethes Faust.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_965" prev="#ID_964"> Greises, der längst das Feuer und die dramatisch gestaltende Kraft der Jugend<lb/>
verloren hatte, der sich freute, mit alter Routine glatte Verse und Reime zu<lb/>
schreiben, dem aber die Idee des ersten Fnustwerkes ganz abhanden gekommen<lb/>
war. Noch andre sagen: Die vielen Rätsel im zweiten Teile des &#x201E;Faust" ver¬<lb/>
stecken durchweg nur eine Menge literarischer, künstlerischer und wissenschaftlicher<lb/>
Streitigkeiten, die Goethe mit seinen Zeitgenossen hatte. Je längere Zeit aber<lb/>
darüber verflossen ist, desto weniger Interesse hat es, den Sinn derselben auf¬<lb/>
zudecken, selbst wenn wir dazu imstande wären. Die Weisheit, die darin nieder¬<lb/>
gelegt ist, wird nicht groß sein, denn Goethe war doch eigentlich kein Gelehrter,<lb/>
sondern ein Dichter, was er in der Wissenschaft etwa leisten mochte, ist jeden¬<lb/>
falls von den gewaltigen Fortschritten der Gegenwart längst überholt. Es wird<lb/>
also der zweite Teil des &#x201E;Faust" nach und nach allen Wert verlieren, wenn<lb/>
dieser überhaupt je groß gewesen ist. Endlich giebt es auch noch ganz kluge<lb/>
Leute, die sagen: Wir wissen es genau aus dem überlieferten Stadtklatsch von<lb/>
Weimar und Jena, daß Goethe in der letzten Zeit nur durch den Buchhändler<lb/>
Geld verdienen wollte, und weil er gewiß war, daß alles, was er schrieb, gut<lb/>
honorirt wurde, so stellte er alle Fragmente, die in seinen Schubfächern<lb/>
zerstreut lagen, zusammen und gab ihnen oberflächlich eine Art Zusammenhang<lb/>
unter dem Titel &#x201E;Faust," ganz unbekümmert darum, was das Publikum dazu<lb/>
sagen würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_966"> Kaum einer aber würde antworten: Der erste und zweite Teil des<lb/>
&#x201E;Faust" sind von Anfang bis zu Ende ein einheitliches, nach demselben Plane<lb/>
mit der höchsten dichterischen Kraft und philosophischen Tiefe durchgeführtes<lb/>
Werk, welches bis auf das letzte Wort deutlich erklärt werden kann, sobald<lb/>
man den Schlüssel dazu gefunden hat. Dies letztere verspricht aber jetzt ein<lb/>
Schriftsteller, dessen Werk demnächst unter dem Titel: 8Mux loouta sse bei<lb/>
Westermann in Braunschweig erscheinen wird. Er hat durch die Anwendung<lb/>
der Kantischen Kategorien auf die Sprache, die Grammatik und den Sprach¬<lb/>
unterricht schon manche schriftstellerischen Erfolge errungen, aber in diesem Falle<lb/>
will er vorläufig noch anonym bleiben. Den Schlüssel zur Erklärung des<lb/>
"Faust" glaubt er gefunden zu haben, indem er alle Figuren, die darin vor¬<lb/>
kommen, als eine Kette von Allegorien*) betrachtet, die alle Bezug auf das mensch¬<lb/>
liche Geistesleben haben, aber niemals lebende Geschöpfe darstellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_967" next="#ID_968"> Die Allegorie ist ohne Zweifel die älteste und ursprünglichste Form aller<lb/>
Dichtung, denn ohne sie entstehen keine Mythen, Sagen, ja selbst keine heiligen<lb/>
Schriften und Legenden. Oder muß man nicht die Schlange des Paradieses<lb/>
und den Baum der Erkenntnis als Allegorien auffassen? Solange noch die<lb/>
Völker auf einer kindlichen Entwicklungsstufe der Bildung standen &#x2014; und wann</p><lb/>
          <note xml:id="FID_10" place="foot"> ") Dies Wort soll hier stets in dem ursprünglich einfachsten Sinne verstanden werden,<lb/>
dnß etwas anders benannt wird, als wie sein eigentlicher Name ist.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0229] <Line Übersetzung von Goethes Faust. Greises, der längst das Feuer und die dramatisch gestaltende Kraft der Jugend verloren hatte, der sich freute, mit alter Routine glatte Verse und Reime zu schreiben, dem aber die Idee des ersten Fnustwerkes ganz abhanden gekommen war. Noch andre sagen: Die vielen Rätsel im zweiten Teile des „Faust" ver¬ stecken durchweg nur eine Menge literarischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Streitigkeiten, die Goethe mit seinen Zeitgenossen hatte. Je längere Zeit aber darüber verflossen ist, desto weniger Interesse hat es, den Sinn derselben auf¬ zudecken, selbst wenn wir dazu imstande wären. Die Weisheit, die darin nieder¬ gelegt ist, wird nicht groß sein, denn Goethe war doch eigentlich kein Gelehrter, sondern ein Dichter, was er in der Wissenschaft etwa leisten mochte, ist jeden¬ falls von den gewaltigen Fortschritten der Gegenwart längst überholt. Es wird also der zweite Teil des „Faust" nach und nach allen Wert verlieren, wenn dieser überhaupt je groß gewesen ist. Endlich giebt es auch noch ganz kluge Leute, die sagen: Wir wissen es genau aus dem überlieferten Stadtklatsch von Weimar und Jena, daß Goethe in der letzten Zeit nur durch den Buchhändler Geld verdienen wollte, und weil er gewiß war, daß alles, was er schrieb, gut honorirt wurde, so stellte er alle Fragmente, die in seinen Schubfächern zerstreut lagen, zusammen und gab ihnen oberflächlich eine Art Zusammenhang unter dem Titel „Faust," ganz unbekümmert darum, was das Publikum dazu sagen würde. Kaum einer aber würde antworten: Der erste und zweite Teil des „Faust" sind von Anfang bis zu Ende ein einheitliches, nach demselben Plane mit der höchsten dichterischen Kraft und philosophischen Tiefe durchgeführtes Werk, welches bis auf das letzte Wort deutlich erklärt werden kann, sobald man den Schlüssel dazu gefunden hat. Dies letztere verspricht aber jetzt ein Schriftsteller, dessen Werk demnächst unter dem Titel: 8Mux loouta sse bei Westermann in Braunschweig erscheinen wird. Er hat durch die Anwendung der Kantischen Kategorien auf die Sprache, die Grammatik und den Sprach¬ unterricht schon manche schriftstellerischen Erfolge errungen, aber in diesem Falle will er vorläufig noch anonym bleiben. Den Schlüssel zur Erklärung des "Faust" glaubt er gefunden zu haben, indem er alle Figuren, die darin vor¬ kommen, als eine Kette von Allegorien*) betrachtet, die alle Bezug auf das mensch¬ liche Geistesleben haben, aber niemals lebende Geschöpfe darstellen. Die Allegorie ist ohne Zweifel die älteste und ursprünglichste Form aller Dichtung, denn ohne sie entstehen keine Mythen, Sagen, ja selbst keine heiligen Schriften und Legenden. Oder muß man nicht die Schlange des Paradieses und den Baum der Erkenntnis als Allegorien auffassen? Solange noch die Völker auf einer kindlichen Entwicklungsstufe der Bildung standen — und wann ") Dies Wort soll hier stets in dem ursprünglich einfachsten Sinne verstanden werden, dnß etwas anders benannt wird, als wie sein eigentlicher Name ist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/229
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/229>, abgerufen am 16.06.2024.