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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Faust.

Verfahren Goethes immer gewesen; aus dem wirklichen Leben nahm er die
Stoffe, aber indem er sie in dichterischen Formen gestaltet, ist nicht die Dar¬
stellung der Stoffe selbst sein eigentliches Ziel, sondern vielmehr der Ausdruck
seiner eignen Gedanken und Gefühle im Bilde der historischen oder mytholo¬
gischen Gelvandung. Deswegen hat man ihn auch einen schlechten Dra¬
matiker genannt, einen Dichter, dem der Begriff der mechanischen Kausalität
gefehlt und der daher den Aufbau des Dramas nicht verstanden habe, im
Gegensatz zu Shakespeare.

Alles dies soll nur darau erinnern, daß es erlaubt ist, auch im "Faust"
die Darstellung des Mythus lediglich als äußeres Gewand zu betrachten, dessen
Inhalt überall ein tieferer philosophischer Sinn ist. Ebensowenig wie es
Goethe darum zu thun war, Egmont gerade so zu schildern, wie er wirklich in
seiner Zeit gelebt hatte, so wenig war ihm daran gelegen, den Faust so dar¬
zustellen, wie die Volkssage ihn gestaltet hatte. Je verschwommener die Umrisse
der mythischen Gestalt, desto besser war sie geeignet, als poetisches Gefäß für
den philosophischen Inhalt zu dienen.

Zwei Ansichten stehen einander gegenüber bei der Frage, wie ein Drama
zu schaffen sei. Die einen finden die Aufgabe des Dichters darin, Charaktere
aus dem wirklichen Leben in möglichst voller, höchstens etwas idealisirter
Wahrheit nachzubilden und nur durch eine künstliche Anordnung der Verhält¬
nisse den Gang der Ereignisse selbst zu einem übersichtlichen Bilde abzu¬
runden; sie verlangen historische Wahrheit und Naturtreue möglichst in allen
Situationen. Die andern nehmen die Charaktere zwar auch aus dem wirklichen
Leben, aber sie übertragen sie nicht mit photographischer Treue in die Dichtung,
sondern sie sichten und wägen sie, und trennen, was in ihnen allgemeinen Wert
hat. von dem, was zufällig und individuell ist. Es ist ihnen nicht um die
historische Treue in allen Einzelheiten zu thun, sondern nur um die Darstellung
des Typus, der Entelechie des Individuums. Zu dieser letztern Art gehörte
Goethe. Alle seine Figuren sind Typen für ganze Arten von Menschen,
niemals ganz bestimmte Personen. Aber niemand kann behaupten, daß diese
poetischen Gestalten nun weniger Leben und Natur hätten, weil sie Formen sind,
welche abstrakte Begriffe enthalten. Im Gegenteil, ihre Naturwahrheit ist so
frappant, daß es oft schwer hält, sich davon zu überzeugen, daß es keine
Personen, sondern eben nur Typen für Personen sind. Wenn wir aber das
erst eingesehen haben, daß alle diese lebensfrischen dramatischen Figuren typisch,
d- h. anschauliche Formen sind, die allgemeine Begriffe umkleiden, dann ist es
uicht mehr schwierig zu begreifen, daß auch ganz allgemeine Begriffe, die sich
garnicht auf sinnliche Anschauung, sondern auf Vorgänge im geistigen Leben
beziehen, in poetisch lebendige Gestalten eingekleidet werden und als solche durch
die gewaltige schöpferische Kraft des Dichters den Eindruck lebenswahrer Figuren
wachen können. Offenbar werden solche künstlich erzeugte Figuren, wenn sie


Grimzbvten III. 18L4. 2"
Line Übersetzung von Goethes Faust.

Verfahren Goethes immer gewesen; aus dem wirklichen Leben nahm er die
Stoffe, aber indem er sie in dichterischen Formen gestaltet, ist nicht die Dar¬
stellung der Stoffe selbst sein eigentliches Ziel, sondern vielmehr der Ausdruck
seiner eignen Gedanken und Gefühle im Bilde der historischen oder mytholo¬
gischen Gelvandung. Deswegen hat man ihn auch einen schlechten Dra¬
matiker genannt, einen Dichter, dem der Begriff der mechanischen Kausalität
gefehlt und der daher den Aufbau des Dramas nicht verstanden habe, im
Gegensatz zu Shakespeare.

Alles dies soll nur darau erinnern, daß es erlaubt ist, auch im „Faust"
die Darstellung des Mythus lediglich als äußeres Gewand zu betrachten, dessen
Inhalt überall ein tieferer philosophischer Sinn ist. Ebensowenig wie es
Goethe darum zu thun war, Egmont gerade so zu schildern, wie er wirklich in
seiner Zeit gelebt hatte, so wenig war ihm daran gelegen, den Faust so dar¬
zustellen, wie die Volkssage ihn gestaltet hatte. Je verschwommener die Umrisse
der mythischen Gestalt, desto besser war sie geeignet, als poetisches Gefäß für
den philosophischen Inhalt zu dienen.

Zwei Ansichten stehen einander gegenüber bei der Frage, wie ein Drama
zu schaffen sei. Die einen finden die Aufgabe des Dichters darin, Charaktere
aus dem wirklichen Leben in möglichst voller, höchstens etwas idealisirter
Wahrheit nachzubilden und nur durch eine künstliche Anordnung der Verhält¬
nisse den Gang der Ereignisse selbst zu einem übersichtlichen Bilde abzu¬
runden; sie verlangen historische Wahrheit und Naturtreue möglichst in allen
Situationen. Die andern nehmen die Charaktere zwar auch aus dem wirklichen
Leben, aber sie übertragen sie nicht mit photographischer Treue in die Dichtung,
sondern sie sichten und wägen sie, und trennen, was in ihnen allgemeinen Wert
hat. von dem, was zufällig und individuell ist. Es ist ihnen nicht um die
historische Treue in allen Einzelheiten zu thun, sondern nur um die Darstellung
des Typus, der Entelechie des Individuums. Zu dieser letztern Art gehörte
Goethe. Alle seine Figuren sind Typen für ganze Arten von Menschen,
niemals ganz bestimmte Personen. Aber niemand kann behaupten, daß diese
poetischen Gestalten nun weniger Leben und Natur hätten, weil sie Formen sind,
welche abstrakte Begriffe enthalten. Im Gegenteil, ihre Naturwahrheit ist so
frappant, daß es oft schwer hält, sich davon zu überzeugen, daß es keine
Personen, sondern eben nur Typen für Personen sind. Wenn wir aber das
erst eingesehen haben, daß alle diese lebensfrischen dramatischen Figuren typisch,
d- h. anschauliche Formen sind, die allgemeine Begriffe umkleiden, dann ist es
uicht mehr schwierig zu begreifen, daß auch ganz allgemeine Begriffe, die sich
garnicht auf sinnliche Anschauung, sondern auf Vorgänge im geistigen Leben
beziehen, in poetisch lebendige Gestalten eingekleidet werden und als solche durch
die gewaltige schöpferische Kraft des Dichters den Eindruck lebenswahrer Figuren
wachen können. Offenbar werden solche künstlich erzeugte Figuren, wenn sie


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[0233] Line Übersetzung von Goethes Faust. Verfahren Goethes immer gewesen; aus dem wirklichen Leben nahm er die Stoffe, aber indem er sie in dichterischen Formen gestaltet, ist nicht die Dar¬ stellung der Stoffe selbst sein eigentliches Ziel, sondern vielmehr der Ausdruck seiner eignen Gedanken und Gefühle im Bilde der historischen oder mytholo¬ gischen Gelvandung. Deswegen hat man ihn auch einen schlechten Dra¬ matiker genannt, einen Dichter, dem der Begriff der mechanischen Kausalität gefehlt und der daher den Aufbau des Dramas nicht verstanden habe, im Gegensatz zu Shakespeare. Alles dies soll nur darau erinnern, daß es erlaubt ist, auch im „Faust" die Darstellung des Mythus lediglich als äußeres Gewand zu betrachten, dessen Inhalt überall ein tieferer philosophischer Sinn ist. Ebensowenig wie es Goethe darum zu thun war, Egmont gerade so zu schildern, wie er wirklich in seiner Zeit gelebt hatte, so wenig war ihm daran gelegen, den Faust so dar¬ zustellen, wie die Volkssage ihn gestaltet hatte. Je verschwommener die Umrisse der mythischen Gestalt, desto besser war sie geeignet, als poetisches Gefäß für den philosophischen Inhalt zu dienen. Zwei Ansichten stehen einander gegenüber bei der Frage, wie ein Drama zu schaffen sei. Die einen finden die Aufgabe des Dichters darin, Charaktere aus dem wirklichen Leben in möglichst voller, höchstens etwas idealisirter Wahrheit nachzubilden und nur durch eine künstliche Anordnung der Verhält¬ nisse den Gang der Ereignisse selbst zu einem übersichtlichen Bilde abzu¬ runden; sie verlangen historische Wahrheit und Naturtreue möglichst in allen Situationen. Die andern nehmen die Charaktere zwar auch aus dem wirklichen Leben, aber sie übertragen sie nicht mit photographischer Treue in die Dichtung, sondern sie sichten und wägen sie, und trennen, was in ihnen allgemeinen Wert hat. von dem, was zufällig und individuell ist. Es ist ihnen nicht um die historische Treue in allen Einzelheiten zu thun, sondern nur um die Darstellung des Typus, der Entelechie des Individuums. Zu dieser letztern Art gehörte Goethe. Alle seine Figuren sind Typen für ganze Arten von Menschen, niemals ganz bestimmte Personen. Aber niemand kann behaupten, daß diese poetischen Gestalten nun weniger Leben und Natur hätten, weil sie Formen sind, welche abstrakte Begriffe enthalten. Im Gegenteil, ihre Naturwahrheit ist so frappant, daß es oft schwer hält, sich davon zu überzeugen, daß es keine Personen, sondern eben nur Typen für Personen sind. Wenn wir aber das erst eingesehen haben, daß alle diese lebensfrischen dramatischen Figuren typisch, d- h. anschauliche Formen sind, die allgemeine Begriffe umkleiden, dann ist es uicht mehr schwierig zu begreifen, daß auch ganz allgemeine Begriffe, die sich garnicht auf sinnliche Anschauung, sondern auf Vorgänge im geistigen Leben beziehen, in poetisch lebendige Gestalten eingekleidet werden und als solche durch die gewaltige schöpferische Kraft des Dichters den Eindruck lebenswahrer Figuren wachen können. Offenbar werden solche künstlich erzeugte Figuren, wenn sie Grimzbvten III. 18L4. 2»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/233>, abgerufen am 16.06.2024.