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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Faust.

nur von echtem Dichterhauche belebt sind, weit größere Wirkung thun als solche,
die geradezu aus der Natur entlehnt sind, weil der ursprüngliche Sinn des
Dichters unmittelbarer aus ihnen redet. Nehmen Mir z. B. an, daß der
Mephistopheles nur die Darstellung eines wirklichen Menschen, eines Bekannten
von Goethe sei, so wäre doch die ganze großartige Teufelsnatur durch diese
Ähnlichkeit nur beschränkt. Was die Rolle an Naturwahrheit dadurch gewinnen
könnte, müßte sie an dämonischer Bedeutung verlieren. Ein Mensch kann als
Teufel immer nur ein Stümper sein. Ist dagegen der Mephisto, wie unser
Verfasser will, die personifizirte Negation im intellektuellen und der Eigennutz
als Negation des Guten im moralischen Gebiet, so war der Dichter völlig
unbeschränkt, seinem Geschöpf eine unheimliche dämonische Größe zu verleihen,
die er außerdem beliebig mit Zügen lebendiger Menschen ausstatten konnte.
Und was würde es bedeuten, wenn wir sagten: der Mephisto ist nichts als
die poetisch idealisirte Gestalt des Teufels der Volkssage? in ihm sind alle Züge
der Vorstellungen, die sich das deutsche Volk je vom lebendigen Teufel gemacht
hat, zusammengefaßt? Damit hätten wir doch nichts andres gesagt, als daß
die Gestalt im Drama eine Allegorie sei; nur daß alsdann der Dichter sich den
Vorstellungen des Volkes akkommodirt hätte, ohne völlig frei über dem Geschöpfe
seiner Phantasie zu stehen. Nun ist aber das gerade das Geheimnis der Goethischen
Muse, daß er alle Gestalten, die er schuf, völlig klar, mit der größten Ruhe,
mit dem reflektirenden Verstände ausarbeitete, wenn sie auch die tiefsten Leiden¬
schaften in Bewegung setzten. Diese Freiheit des Schöpfers über dem Geschöpf
ist überall der Grund seiner Dichtergröße. Es kann also dem Wert einer Dich¬
tung niemals Eintrag thun, wenn sich zeigt, daß das Werk in allen Einzelheiten
Allegorie ist, welcher die Volkssage und hie und da die wirkliche Geschichte nur
als ein Mittel dient, um den Sinn so einzukleiden, daß ein poetisches Kunst¬
werk herauskommt.

Schwieriger wird es sein, nachzuweisen, welche Art der Philosophie in
der allegorischen Dichtung vertreten sei. Wir haben hierauf jüngst in einem
Aufsatze in diesen Blättern, über Goethes naturwissenschaftliche Schriften, hin¬
gedeutet. Wenn wir nur einen flüchtigen Blick auf die neuesten Erscheinungen
der philosophischen Literatur werfen, so scheint es in der That sehr verschiedene
Arten von Philosophie zu geben. Ich will versuchen, in Kürze den Leser
darüber zu orientiren.

Es handelt sich in aller Philosophie hauptsächlich um das Problem: wie
sich die menschliche Vernunft zur Welt der realen Dinge außer uns verhält;
und von jeher haben sich bei dem Versuche, die rechte Antwort hierauf zu finden,
zwei Richtungen gegenüber gestanden: der Idealismus und Realismus. Der
erstere nahm den Ausgangspunkt vom menschlichen Geiste und gelangte zu der
Ansicht, daß die ganze Außenwelt nichts sei als eine Vorstellung, also gleichsam
ein Produkt des menschlichen Geistes. Ob außer unsern Vorstellungen noch


Line Übersetzung von Goethes Faust.

nur von echtem Dichterhauche belebt sind, weit größere Wirkung thun als solche,
die geradezu aus der Natur entlehnt sind, weil der ursprüngliche Sinn des
Dichters unmittelbarer aus ihnen redet. Nehmen Mir z. B. an, daß der
Mephistopheles nur die Darstellung eines wirklichen Menschen, eines Bekannten
von Goethe sei, so wäre doch die ganze großartige Teufelsnatur durch diese
Ähnlichkeit nur beschränkt. Was die Rolle an Naturwahrheit dadurch gewinnen
könnte, müßte sie an dämonischer Bedeutung verlieren. Ein Mensch kann als
Teufel immer nur ein Stümper sein. Ist dagegen der Mephisto, wie unser
Verfasser will, die personifizirte Negation im intellektuellen und der Eigennutz
als Negation des Guten im moralischen Gebiet, so war der Dichter völlig
unbeschränkt, seinem Geschöpf eine unheimliche dämonische Größe zu verleihen,
die er außerdem beliebig mit Zügen lebendiger Menschen ausstatten konnte.
Und was würde es bedeuten, wenn wir sagten: der Mephisto ist nichts als
die poetisch idealisirte Gestalt des Teufels der Volkssage? in ihm sind alle Züge
der Vorstellungen, die sich das deutsche Volk je vom lebendigen Teufel gemacht
hat, zusammengefaßt? Damit hätten wir doch nichts andres gesagt, als daß
die Gestalt im Drama eine Allegorie sei; nur daß alsdann der Dichter sich den
Vorstellungen des Volkes akkommodirt hätte, ohne völlig frei über dem Geschöpfe
seiner Phantasie zu stehen. Nun ist aber das gerade das Geheimnis der Goethischen
Muse, daß er alle Gestalten, die er schuf, völlig klar, mit der größten Ruhe,
mit dem reflektirenden Verstände ausarbeitete, wenn sie auch die tiefsten Leiden¬
schaften in Bewegung setzten. Diese Freiheit des Schöpfers über dem Geschöpf
ist überall der Grund seiner Dichtergröße. Es kann also dem Wert einer Dich¬
tung niemals Eintrag thun, wenn sich zeigt, daß das Werk in allen Einzelheiten
Allegorie ist, welcher die Volkssage und hie und da die wirkliche Geschichte nur
als ein Mittel dient, um den Sinn so einzukleiden, daß ein poetisches Kunst¬
werk herauskommt.

Schwieriger wird es sein, nachzuweisen, welche Art der Philosophie in
der allegorischen Dichtung vertreten sei. Wir haben hierauf jüngst in einem
Aufsatze in diesen Blättern, über Goethes naturwissenschaftliche Schriften, hin¬
gedeutet. Wenn wir nur einen flüchtigen Blick auf die neuesten Erscheinungen
der philosophischen Literatur werfen, so scheint es in der That sehr verschiedene
Arten von Philosophie zu geben. Ich will versuchen, in Kürze den Leser
darüber zu orientiren.

Es handelt sich in aller Philosophie hauptsächlich um das Problem: wie
sich die menschliche Vernunft zur Welt der realen Dinge außer uns verhält;
und von jeher haben sich bei dem Versuche, die rechte Antwort hierauf zu finden,
zwei Richtungen gegenüber gestanden: der Idealismus und Realismus. Der
erstere nahm den Ausgangspunkt vom menschlichen Geiste und gelangte zu der
Ansicht, daß die ganze Außenwelt nichts sei als eine Vorstellung, also gleichsam
ein Produkt des menschlichen Geistes. Ob außer unsern Vorstellungen noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/234>, abgerufen am 15.06.2024.