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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Faust.

eine reale, von unserm Geiste unabhängige Welt da sei, ließ er unentschieden
und kam nicht über den Zweifel daran hinaus. Daher wird dieser -- vor-
kantische -- Idealismus der subjektive genannt. Der Realismus dagegen nahm
von jeher das Dasein wirklicher Dinge außer uns zur Voraussetzung, erfand
und erhob die Methode der induktiven Forschung zum alleiugiltigen Prinzip
aller Erfahrungswissenschaften, kümmerte sich anfänglich sehr wenig um den
menschlichen Geist und dessen eigentümliches Wesen, gelangte aber schließlich
immer mehr dahin, den Geist als ein unbedeutendes Anhängsel der Natur, als
eine eigne Art der Materie oder als deren Absonderung anzusehen. Man nennt
diese Konsequenz den Materialismus. Beide Richtungen, Idealismus und Rea¬
lismus, scheinen unversöhnliche Gegensätze zu sein. Der Idealismus weiß nur
vom menschlichen Geiste mit Sicherheit zu reden, die Außenwelt wird ihm zum
bloßen Schein, dessen wirkliche Ursache unbegreiflich bleibt. Die Empfindung
der Sinne gilt ihm als eine trübe Quelle für Täuschungen aller Art, die erst
durch den reflektirenden Verstand geläutert und gereinigt werden muß. Über
beiden ist das höchste geistige Vermögen die Vernunft, die uns unmittelbar mit
der Gottheit verbindet. Der Realismus dagegen wirkt als lebendige treibende
Kraft in den Erfahrungswissenschaften und im praktischen Leben, verhält sich
aber gegenüber dem Geiste und seinen höchsten Interessen, wenn nicht geradezu
negirend, so doch äußerst skeptisch und zersetzend und treibt auf diese Weise in
seinen Konsequenzen eine Menge Keime, die revolutionär und zerstörend im
menschlichen Leben und in den menschlichen Ordnungen wirken.

Nun hat aber Kant das Problem zum Abschluß gebracht, wie diese Gegen¬
sätze zu versöhnen seien, wie die Außenwelt erklärt werden könne, ohne sie in
subjektiven Schein zu verwandeln, wie die Erfahrungswissenschaften vollendet
werden können, ohne die höchsten Interessen des Geistes zu gefährden. Er be¬
stimmte das Verhältnis des Menschengeistes zur Natur dahin, daß wir freilich
nur von der Welt unsrer Vorstellungen reden können, denn was wir erkennen
wollen, müssen wir doch erst vorstellen, d. h. uns seiner auf irgendeine Weise
geistig bemächtigen oder bewußt werden. Daher ist es unvermeidlich, daß alle
Dinge, die wir erkennen, sich nach der Eigentümlichkeit unsrer Vorstellungsweise
richten müssen, daß also die Gesetze, nach denen unsre Vorstellungen zustande
kommen, auch die Gesetze sein müssen, nach denen sich die Erscheinung der Dinge
richtet. Aber die Erscheinung der Dinge wird nicht von unserm Geiste allein
hervorgebracht, sondern sie wird uns aufgezwungen durch die gegebene Einrich¬
tung, durch welche unsre Sinne mit der Welt in Verbindung stehen. Daher
können unsre Sinne niemals täuschen, denn wir haben nichts andres zum Gegen¬
stande unsrer Erkenntnis, als was uns durch die Sinne gegeben wird. Wenn
trotzdem Sinnestäuschungen vorkommen, so liegt die Ursache davon nicht darin,
wie es der Idealismus wollte, daß die Sinnesempfindung stets nur trübe und
verworren sei und durch den Verstand rektifizirt werden müsse, sondern vielmehr


Line Übersetzung von Goethes Faust.

eine reale, von unserm Geiste unabhängige Welt da sei, ließ er unentschieden
und kam nicht über den Zweifel daran hinaus. Daher wird dieser — vor-
kantische — Idealismus der subjektive genannt. Der Realismus dagegen nahm
von jeher das Dasein wirklicher Dinge außer uns zur Voraussetzung, erfand
und erhob die Methode der induktiven Forschung zum alleiugiltigen Prinzip
aller Erfahrungswissenschaften, kümmerte sich anfänglich sehr wenig um den
menschlichen Geist und dessen eigentümliches Wesen, gelangte aber schließlich
immer mehr dahin, den Geist als ein unbedeutendes Anhängsel der Natur, als
eine eigne Art der Materie oder als deren Absonderung anzusehen. Man nennt
diese Konsequenz den Materialismus. Beide Richtungen, Idealismus und Rea¬
lismus, scheinen unversöhnliche Gegensätze zu sein. Der Idealismus weiß nur
vom menschlichen Geiste mit Sicherheit zu reden, die Außenwelt wird ihm zum
bloßen Schein, dessen wirkliche Ursache unbegreiflich bleibt. Die Empfindung
der Sinne gilt ihm als eine trübe Quelle für Täuschungen aller Art, die erst
durch den reflektirenden Verstand geläutert und gereinigt werden muß. Über
beiden ist das höchste geistige Vermögen die Vernunft, die uns unmittelbar mit
der Gottheit verbindet. Der Realismus dagegen wirkt als lebendige treibende
Kraft in den Erfahrungswissenschaften und im praktischen Leben, verhält sich
aber gegenüber dem Geiste und seinen höchsten Interessen, wenn nicht geradezu
negirend, so doch äußerst skeptisch und zersetzend und treibt auf diese Weise in
seinen Konsequenzen eine Menge Keime, die revolutionär und zerstörend im
menschlichen Leben und in den menschlichen Ordnungen wirken.

Nun hat aber Kant das Problem zum Abschluß gebracht, wie diese Gegen¬
sätze zu versöhnen seien, wie die Außenwelt erklärt werden könne, ohne sie in
subjektiven Schein zu verwandeln, wie die Erfahrungswissenschaften vollendet
werden können, ohne die höchsten Interessen des Geistes zu gefährden. Er be¬
stimmte das Verhältnis des Menschengeistes zur Natur dahin, daß wir freilich
nur von der Welt unsrer Vorstellungen reden können, denn was wir erkennen
wollen, müssen wir doch erst vorstellen, d. h. uns seiner auf irgendeine Weise
geistig bemächtigen oder bewußt werden. Daher ist es unvermeidlich, daß alle
Dinge, die wir erkennen, sich nach der Eigentümlichkeit unsrer Vorstellungsweise
richten müssen, daß also die Gesetze, nach denen unsre Vorstellungen zustande
kommen, auch die Gesetze sein müssen, nach denen sich die Erscheinung der Dinge
richtet. Aber die Erscheinung der Dinge wird nicht von unserm Geiste allein
hervorgebracht, sondern sie wird uns aufgezwungen durch die gegebene Einrich¬
tung, durch welche unsre Sinne mit der Welt in Verbindung stehen. Daher
können unsre Sinne niemals täuschen, denn wir haben nichts andres zum Gegen¬
stande unsrer Erkenntnis, als was uns durch die Sinne gegeben wird. Wenn
trotzdem Sinnestäuschungen vorkommen, so liegt die Ursache davon nicht darin,
wie es der Idealismus wollte, daß die Sinnesempfindung stets nur trübe und
verworren sei und durch den Verstand rektifizirt werden müsse, sondern vielmehr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/235>, abgerufen am 16.06.2024.