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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Musikalische Genüsse,

durch einen einheitlichen Eindruck entlassen. Der kleine Klughardt, geschickter
als alle seine großen Kollegen, ein wahrer Pipin unter sovielen Rittern von der
traurigen Gestalt, deren Bekanntschaft man in Weimar machen konnte, weiß die
Zügel der formalen Entwicklung in so sichern Händen zu halten, daß er gewiß
noch bedeutendes leisten wird, wenn sein Schaffen immer von höheren Kunst¬
anschauungen geleitet bleibt.

Wenn auch der Ausführung des Quartetts bereits die verdiente Aner¬
kennung gezollt wurde, gegen eines muß ich mich doch im Interesse der Klang¬
wirkung verwahren: gegen die Verwendung der Viola g-leg. im Streichquartett.
Nicht als ob Herr Sitt seine Partie nicht tadellos gespielt hätte, aber sein
Instrument paßte schlechterdings nicht in den Quartettrahmen. Dieser kräftige,
volle Ton mag im Orchester, wo ja die Violen in der Regel nur schwach be¬
setzt sind, von vorzüglicher Wirkung sein, hier stört die große Viola wie ein
altes, vorlautes und geschwätziges Weib durch seine Aufdringlichkeit jede har¬
monische Gesamtwirkung. Nicht allein die Geigen, die nur mühsam gegen sie
aufkommen können, wurden durch sie beeinträchtigt, sie legt auch das Cello,
das sich ängstlich vor diesem Tonsimson zu verkriechen scheint, völlig lahm und
raubt ihm jede Selbständigkeit. Die Viola hat sich ihrer Natur und Tonlage
nach im Quartett bescheiden einzufügen und zurückzuhalten, die Viola alls. aber
führt das große Wort, sie klettert über die Geigen hinauf und steigt unter den
Baß herunter. Ein verständiger Cellist wird und darf sich im Interesse seiner
Aufgabe und seiner Stellung im Quartett solcher dominirenden Kollegenschaft
nicht anschließen, er müßte denn seine Partie auf dem Kontrabaß spielen wollen.

In dem zweiten, einem Kirchenkonzerte, war wieder ergiebiger Stoff für
zwei Aufführungen zusammengepfercht. Wer war nach dem H. Berliozschen
1s voulu. noch fähig, das Oratorium von I. Raff zu hören und seine Schön¬
heiten ganz zu empfinden? Das ?<z vsnin ist jedenfalls eine interessante und
effektvolle Komposition, aber sie verrät in keinem Momente kirchlichen Geist, und
ein Hauptfaktor der beabsichtigten Wirkung, die zwei und drei hier vereinigten
Chöre, erweist sich als völlig problematisch, weil der Komponist die sich gegen¬
überstehenden Chormassen, welche deutlich hervortreten und sich ablösen sollten,
nicht entsprechend auseinanderzuhalten gewußt hat. Mau glaubte immer nur
einen Chor zu hören, und das mit allem modernen Raffinement behandelte
Orchester verwischte und verschlang vollends alle Chornüancen. Vier- und mehr¬
stimmige Chöre lassen sich mit Orchester stets wirkungsvoll begleiten, ebenso
Doppelchöre, wenn sie so angelegt und auch im Orchester schattirt sind, wie
die in Bachs Matthäuspassion, in Händels "Israel in Ägypten", in Spohrs "Fall
Babylons"; aber der Eindruck dreier Chöre, die gleichmäßig von einem starken
Orchester getragen werden, kann nur ein unvollkommener, wenigstens nicht der
beabsichtigte sein. Drei verschiedne Chöre dürften wohl nnr im g. oaxpella-Gesang
mit künstlerischem Erfolge zu verwenden sein.


Musikalische Genüsse,

durch einen einheitlichen Eindruck entlassen. Der kleine Klughardt, geschickter
als alle seine großen Kollegen, ein wahrer Pipin unter sovielen Rittern von der
traurigen Gestalt, deren Bekanntschaft man in Weimar machen konnte, weiß die
Zügel der formalen Entwicklung in so sichern Händen zu halten, daß er gewiß
noch bedeutendes leisten wird, wenn sein Schaffen immer von höheren Kunst¬
anschauungen geleitet bleibt.

Wenn auch der Ausführung des Quartetts bereits die verdiente Aner¬
kennung gezollt wurde, gegen eines muß ich mich doch im Interesse der Klang¬
wirkung verwahren: gegen die Verwendung der Viola g-leg. im Streichquartett.
Nicht als ob Herr Sitt seine Partie nicht tadellos gespielt hätte, aber sein
Instrument paßte schlechterdings nicht in den Quartettrahmen. Dieser kräftige,
volle Ton mag im Orchester, wo ja die Violen in der Regel nur schwach be¬
setzt sind, von vorzüglicher Wirkung sein, hier stört die große Viola wie ein
altes, vorlautes und geschwätziges Weib durch seine Aufdringlichkeit jede har¬
monische Gesamtwirkung. Nicht allein die Geigen, die nur mühsam gegen sie
aufkommen können, wurden durch sie beeinträchtigt, sie legt auch das Cello,
das sich ängstlich vor diesem Tonsimson zu verkriechen scheint, völlig lahm und
raubt ihm jede Selbständigkeit. Die Viola hat sich ihrer Natur und Tonlage
nach im Quartett bescheiden einzufügen und zurückzuhalten, die Viola alls. aber
führt das große Wort, sie klettert über die Geigen hinauf und steigt unter den
Baß herunter. Ein verständiger Cellist wird und darf sich im Interesse seiner
Aufgabe und seiner Stellung im Quartett solcher dominirenden Kollegenschaft
nicht anschließen, er müßte denn seine Partie auf dem Kontrabaß spielen wollen.

In dem zweiten, einem Kirchenkonzerte, war wieder ergiebiger Stoff für
zwei Aufführungen zusammengepfercht. Wer war nach dem H. Berliozschen
1s voulu. noch fähig, das Oratorium von I. Raff zu hören und seine Schön¬
heiten ganz zu empfinden? Das ?<z vsnin ist jedenfalls eine interessante und
effektvolle Komposition, aber sie verrät in keinem Momente kirchlichen Geist, und
ein Hauptfaktor der beabsichtigten Wirkung, die zwei und drei hier vereinigten
Chöre, erweist sich als völlig problematisch, weil der Komponist die sich gegen¬
überstehenden Chormassen, welche deutlich hervortreten und sich ablösen sollten,
nicht entsprechend auseinanderzuhalten gewußt hat. Mau glaubte immer nur
einen Chor zu hören, und das mit allem modernen Raffinement behandelte
Orchester verwischte und verschlang vollends alle Chornüancen. Vier- und mehr¬
stimmige Chöre lassen sich mit Orchester stets wirkungsvoll begleiten, ebenso
Doppelchöre, wenn sie so angelegt und auch im Orchester schattirt sind, wie
die in Bachs Matthäuspassion, in Händels „Israel in Ägypten", in Spohrs „Fall
Babylons"; aber der Eindruck dreier Chöre, die gleichmäßig von einem starken
Orchester getragen werden, kann nur ein unvollkommener, wenigstens nicht der
beabsichtigte sein. Drei verschiedne Chöre dürften wohl nnr im g. oaxpella-Gesang
mit künstlerischem Erfolge zu verwenden sein.


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[0042] Musikalische Genüsse, durch einen einheitlichen Eindruck entlassen. Der kleine Klughardt, geschickter als alle seine großen Kollegen, ein wahrer Pipin unter sovielen Rittern von der traurigen Gestalt, deren Bekanntschaft man in Weimar machen konnte, weiß die Zügel der formalen Entwicklung in so sichern Händen zu halten, daß er gewiß noch bedeutendes leisten wird, wenn sein Schaffen immer von höheren Kunst¬ anschauungen geleitet bleibt. Wenn auch der Ausführung des Quartetts bereits die verdiente Aner¬ kennung gezollt wurde, gegen eines muß ich mich doch im Interesse der Klang¬ wirkung verwahren: gegen die Verwendung der Viola g-leg. im Streichquartett. Nicht als ob Herr Sitt seine Partie nicht tadellos gespielt hätte, aber sein Instrument paßte schlechterdings nicht in den Quartettrahmen. Dieser kräftige, volle Ton mag im Orchester, wo ja die Violen in der Regel nur schwach be¬ setzt sind, von vorzüglicher Wirkung sein, hier stört die große Viola wie ein altes, vorlautes und geschwätziges Weib durch seine Aufdringlichkeit jede har¬ monische Gesamtwirkung. Nicht allein die Geigen, die nur mühsam gegen sie aufkommen können, wurden durch sie beeinträchtigt, sie legt auch das Cello, das sich ängstlich vor diesem Tonsimson zu verkriechen scheint, völlig lahm und raubt ihm jede Selbständigkeit. Die Viola hat sich ihrer Natur und Tonlage nach im Quartett bescheiden einzufügen und zurückzuhalten, die Viola alls. aber führt das große Wort, sie klettert über die Geigen hinauf und steigt unter den Baß herunter. Ein verständiger Cellist wird und darf sich im Interesse seiner Aufgabe und seiner Stellung im Quartett solcher dominirenden Kollegenschaft nicht anschließen, er müßte denn seine Partie auf dem Kontrabaß spielen wollen. In dem zweiten, einem Kirchenkonzerte, war wieder ergiebiger Stoff für zwei Aufführungen zusammengepfercht. Wer war nach dem H. Berliozschen 1s voulu. noch fähig, das Oratorium von I. Raff zu hören und seine Schön¬ heiten ganz zu empfinden? Das ?<z vsnin ist jedenfalls eine interessante und effektvolle Komposition, aber sie verrät in keinem Momente kirchlichen Geist, und ein Hauptfaktor der beabsichtigten Wirkung, die zwei und drei hier vereinigten Chöre, erweist sich als völlig problematisch, weil der Komponist die sich gegen¬ überstehenden Chormassen, welche deutlich hervortreten und sich ablösen sollten, nicht entsprechend auseinanderzuhalten gewußt hat. Mau glaubte immer nur einen Chor zu hören, und das mit allem modernen Raffinement behandelte Orchester verwischte und verschlang vollends alle Chornüancen. Vier- und mehr¬ stimmige Chöre lassen sich mit Orchester stets wirkungsvoll begleiten, ebenso Doppelchöre, wenn sie so angelegt und auch im Orchester schattirt sind, wie die in Bachs Matthäuspassion, in Händels „Israel in Ägypten", in Spohrs „Fall Babylons"; aber der Eindruck dreier Chöre, die gleichmäßig von einem starken Orchester getragen werden, kann nur ein unvollkommener, wenigstens nicht der beabsichtigte sein. Drei verschiedne Chöre dürften wohl nnr im g. oaxpella-Gesang mit künstlerischem Erfolge zu verwenden sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/42>, abgerufen am 22.05.2024.