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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Der Verfassungskonflikt in Norwegen.

jahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft erschienener Aufsatz von
Konrad Maurer, dem hervorragenden Kenner skandinavischen Rechtes.

Nach dem norwegischen Grundgesetze (Verfassungsurkunde) können die Mit¬
glieder des Staatsrates, d> h, die Minister, nicht in das Storthing gewählt
werden, und sie haben infolge dessen zu den Verhandlungen desselben keinen
Zutritt, soweit nicht das Storthiug von der ihm zustehenden Befugnis, sie zum
Erscheinen in einer Sitzung vorzuforderu, Gebrauch macht. Die Minister sind
dadurch von den Verhandlungen der Volksvertretung grundsätzlich ausgeschlossen
und einerseits an der persönlichen Vertretung ihres Standpunkte? gegenüber der
Volksvertretung gehindert, andrerseits in einen umso schärferen Gegensatz zu
derselben gebracht. Diese den Einrichtungen andrer parlamentarischen Länder
widersprechende Institution führte bald zu Versuchen zu Änderung dieses Zu¬
standes, welche anfänglich von der konservativen Partei ausgingen und von deren
Gegnern bekämpft wurden, später von der Opposition befürwortet und von der
Regierung und ihren Anhängern abgewiesen wurden. Der jetzige Führer der
Storthingsmajorität, Bankdirektor I. Sverdrup, setzte im Jahre 1872 den Be¬
schluß auf Zulassung der Staatsräte zu den Storthingsverhandlungen durch,
während er vorher Jahre lang die entgegengesetzte Ansicht vertreten hatte. Die
Änderung dieser Bestrebungen erklärt sich aus der seit der Einführung der Ver¬
fassung erfolgten Verschiebung der Machtverhältnisse der Parteien, indem der
inzwischen erstarkten Opposition die Anwesenheit der Staatsräte in den Sitzungen
des Storthings nicht mehr als eine gefährliche Verstärkung der konservativen
Partei, sondern als ein geeignetes Mittel erschien, um durch fortgesetzte Angriffe
auf die Regierung den Widerstand derselben zu brechen und zu einer rein par¬
lamentarischen Regierung zu gelangen. Die Regierung verlangte als Ersatz für
die von der Storthingsmajorität geforderte Zulassung der Staatsräte zu den
Sitzungen gewisse andre, ihre Macht verstärkende Verfassungsänderungen, darunter
als die erheblichsten die Gewährung einer bestimmten Pension für die abtretenden
Staatsräte, und das Recht des Königs, das Storthing aufzulösen und Neu¬
wahlen anzuordnen, welches Ansinnen von der Storthingsmajorität verworfen
wurde. Im Jahre 1874 und ebenso im Jahre 1877 wiederholte das Storthing
seinen frühern Beschluß, und nach einer inzwischen erfolgten Neuwahl wurde
derselbe Beschluß im Jahre 1880 aufs neue gefaßt. Auch diesem Beschlusse
verweigerte der König seine Sanktion und ließ durch die Regierung einen dem
frühern Vorschlage ziemlich gleichartigen einbringen, welcher verfassungsmäßig
nach einer vorgenommenen Neuwahl am Storthing des Jahres 1883 zur Ver¬
handlung kommen sollte. Inzwischen brachte am 2. Juni 1380 Sverdrup einen
Antrag beim Storthing dahin ein, daß der gefaßte Beschluß von diesem als
geltendes Grundgesetz Norwegens betrachtet und der Regierung mit der Auf¬
forderung zu dessen vorschriftsmäßiger Publikation übermittelt werde. Dieser
Antrag wurde am 9. Juni vom Storthing angenommen; unter dem 17. Juni


Der Verfassungskonflikt in Norwegen.

jahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft erschienener Aufsatz von
Konrad Maurer, dem hervorragenden Kenner skandinavischen Rechtes.

Nach dem norwegischen Grundgesetze (Verfassungsurkunde) können die Mit¬
glieder des Staatsrates, d> h, die Minister, nicht in das Storthing gewählt
werden, und sie haben infolge dessen zu den Verhandlungen desselben keinen
Zutritt, soweit nicht das Storthiug von der ihm zustehenden Befugnis, sie zum
Erscheinen in einer Sitzung vorzuforderu, Gebrauch macht. Die Minister sind
dadurch von den Verhandlungen der Volksvertretung grundsätzlich ausgeschlossen
und einerseits an der persönlichen Vertretung ihres Standpunkte? gegenüber der
Volksvertretung gehindert, andrerseits in einen umso schärferen Gegensatz zu
derselben gebracht. Diese den Einrichtungen andrer parlamentarischen Länder
widersprechende Institution führte bald zu Versuchen zu Änderung dieses Zu¬
standes, welche anfänglich von der konservativen Partei ausgingen und von deren
Gegnern bekämpft wurden, später von der Opposition befürwortet und von der
Regierung und ihren Anhängern abgewiesen wurden. Der jetzige Führer der
Storthingsmajorität, Bankdirektor I. Sverdrup, setzte im Jahre 1872 den Be¬
schluß auf Zulassung der Staatsräte zu den Storthingsverhandlungen durch,
während er vorher Jahre lang die entgegengesetzte Ansicht vertreten hatte. Die
Änderung dieser Bestrebungen erklärt sich aus der seit der Einführung der Ver¬
fassung erfolgten Verschiebung der Machtverhältnisse der Parteien, indem der
inzwischen erstarkten Opposition die Anwesenheit der Staatsräte in den Sitzungen
des Storthings nicht mehr als eine gefährliche Verstärkung der konservativen
Partei, sondern als ein geeignetes Mittel erschien, um durch fortgesetzte Angriffe
auf die Regierung den Widerstand derselben zu brechen und zu einer rein par¬
lamentarischen Regierung zu gelangen. Die Regierung verlangte als Ersatz für
die von der Storthingsmajorität geforderte Zulassung der Staatsräte zu den
Sitzungen gewisse andre, ihre Macht verstärkende Verfassungsänderungen, darunter
als die erheblichsten die Gewährung einer bestimmten Pension für die abtretenden
Staatsräte, und das Recht des Königs, das Storthing aufzulösen und Neu¬
wahlen anzuordnen, welches Ansinnen von der Storthingsmajorität verworfen
wurde. Im Jahre 1874 und ebenso im Jahre 1877 wiederholte das Storthing
seinen frühern Beschluß, und nach einer inzwischen erfolgten Neuwahl wurde
derselbe Beschluß im Jahre 1880 aufs neue gefaßt. Auch diesem Beschlusse
verweigerte der König seine Sanktion und ließ durch die Regierung einen dem
frühern Vorschlage ziemlich gleichartigen einbringen, welcher verfassungsmäßig
nach einer vorgenommenen Neuwahl am Storthing des Jahres 1883 zur Ver¬
handlung kommen sollte. Inzwischen brachte am 2. Juni 1380 Sverdrup einen
Antrag beim Storthing dahin ein, daß der gefaßte Beschluß von diesem als
geltendes Grundgesetz Norwegens betrachtet und der Regierung mit der Auf¬
forderung zu dessen vorschriftsmäßiger Publikation übermittelt werde. Dieser
Antrag wurde am 9. Juni vom Storthing angenommen; unter dem 17. Juni


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[0644] Der Verfassungskonflikt in Norwegen. jahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft erschienener Aufsatz von Konrad Maurer, dem hervorragenden Kenner skandinavischen Rechtes. Nach dem norwegischen Grundgesetze (Verfassungsurkunde) können die Mit¬ glieder des Staatsrates, d> h, die Minister, nicht in das Storthing gewählt werden, und sie haben infolge dessen zu den Verhandlungen desselben keinen Zutritt, soweit nicht das Storthiug von der ihm zustehenden Befugnis, sie zum Erscheinen in einer Sitzung vorzuforderu, Gebrauch macht. Die Minister sind dadurch von den Verhandlungen der Volksvertretung grundsätzlich ausgeschlossen und einerseits an der persönlichen Vertretung ihres Standpunkte? gegenüber der Volksvertretung gehindert, andrerseits in einen umso schärferen Gegensatz zu derselben gebracht. Diese den Einrichtungen andrer parlamentarischen Länder widersprechende Institution führte bald zu Versuchen zu Änderung dieses Zu¬ standes, welche anfänglich von der konservativen Partei ausgingen und von deren Gegnern bekämpft wurden, später von der Opposition befürwortet und von der Regierung und ihren Anhängern abgewiesen wurden. Der jetzige Führer der Storthingsmajorität, Bankdirektor I. Sverdrup, setzte im Jahre 1872 den Be¬ schluß auf Zulassung der Staatsräte zu den Storthingsverhandlungen durch, während er vorher Jahre lang die entgegengesetzte Ansicht vertreten hatte. Die Änderung dieser Bestrebungen erklärt sich aus der seit der Einführung der Ver¬ fassung erfolgten Verschiebung der Machtverhältnisse der Parteien, indem der inzwischen erstarkten Opposition die Anwesenheit der Staatsräte in den Sitzungen des Storthings nicht mehr als eine gefährliche Verstärkung der konservativen Partei, sondern als ein geeignetes Mittel erschien, um durch fortgesetzte Angriffe auf die Regierung den Widerstand derselben zu brechen und zu einer rein par¬ lamentarischen Regierung zu gelangen. Die Regierung verlangte als Ersatz für die von der Storthingsmajorität geforderte Zulassung der Staatsräte zu den Sitzungen gewisse andre, ihre Macht verstärkende Verfassungsänderungen, darunter als die erheblichsten die Gewährung einer bestimmten Pension für die abtretenden Staatsräte, und das Recht des Königs, das Storthing aufzulösen und Neu¬ wahlen anzuordnen, welches Ansinnen von der Storthingsmajorität verworfen wurde. Im Jahre 1874 und ebenso im Jahre 1877 wiederholte das Storthing seinen frühern Beschluß, und nach einer inzwischen erfolgten Neuwahl wurde derselbe Beschluß im Jahre 1880 aufs neue gefaßt. Auch diesem Beschlusse verweigerte der König seine Sanktion und ließ durch die Regierung einen dem frühern Vorschlage ziemlich gleichartigen einbringen, welcher verfassungsmäßig nach einer vorgenommenen Neuwahl am Storthing des Jahres 1883 zur Ver¬ handlung kommen sollte. Inzwischen brachte am 2. Juni 1380 Sverdrup einen Antrag beim Storthing dahin ein, daß der gefaßte Beschluß von diesem als geltendes Grundgesetz Norwegens betrachtet und der Regierung mit der Auf¬ forderung zu dessen vorschriftsmäßiger Publikation übermittelt werde. Dieser Antrag wurde am 9. Juni vom Storthing angenommen; unter dem 17. Juni

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/644>, abgerufen am 23.05.2024.