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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Aus der französischen Revolution.

Je tiefer auf der Leiter der hierarchischen Ordnung man hinabsteigt -- wenn
man überhaupt diesen Ausdruck für den Zustand einer in Permanenz erklärten
Anarchie gebrauchen darf --, desto kläglichere Gruppen raubgieriger Bestien
in Menschengestalt treten einem entgegen. In Paris sind es etwa fünf- bis
sechstausend, die der gleiche Hang um das gleiche Dogma schart, die einen, weil
sie sich in Not befinde", die andern, weil sie die Ausübung der souveränen
Nvlksrechte der Arbeit gänzlich entwöhnt hat -- alle von demselben Haß erfüllt
gegen die Verbrecher in Sänften, gegen die Reichen und Besitzenden. Diesen
Leuten hat die Revolution eine reiche Weide für ihre Begierden und Laster zur
Verfügung gestellt; bestrafte Diebe, Fälscher, Betrüger, Sträflinge aller Art,
Handwerker mit der geringsten Kenntnis der Orthographie, Trunkenbolde leiten
überall die Geschäfte. Man sehe sich nur einmal einen solchen Mann in der
Nähe an, wie Buchöl, Minister der auswärtigen Angelegenheiten, den Robespierre
selbst zweimal als einen braven, fähigen, energischen und für die wichtigsten
Geschäfte brauchbaren Mann bezeichnet hat, in Wahrheit ein Schulmeister aus
dem Jura, dessen Unwissenheit und gemeine Art alle Phantasie übersteigen.
Seine Untergebenen meiden ihn, und er selbst befindet sich niemals in seinem
Bureau. Um eine Unterschrift zu erlangen, muß man ihn im Cafe aufsuchen,
wo er im Trunk seine Tage verbringt. Nach dem Thermidor entsetzt, bettelt er
seinen Nachsolger um irgendeine Schreiberstelle im Ministerium an und will sich,
auf das Unpassende dieses Schrittes aufmerksam gemacht, zuletzt mit einer Ver¬
sorgung als Kauzleidiener begnügen. Dabei ist er noch ein unschädlicher Mann.
Schlimmere Seiten weist der berüchtigte Kommandant der Nationalgarde Henriot
ans, dessen Tagesbefehle wahre Kunstwerke des Blödsinns eines Trunkenboldes
und eines im Branntweinfnsel rasenden Tyrannen bilden. Wie schwer müssen
hier die Achiver den Wahnsinn ihrer "Herrscher" büßen, denn in den Provinzen
will das Volk durchaus nichts von seiner jakobinischen Regeneration wissen;
wer es überhaupt kann, zieht sich von Wahlen und sonstigen öffentlichen Ge¬
schäften zurück, und der jakobinische Klub sieht sich genötigt, fortwährend
Emissäre auszusenden, die in den einzelnen Städten, Flecken und Dörfern die
Hefe des Pöbels organisiren, um mit seiner Hilfe die Anarchie zu schaffen
und aufrecht zu erhalten. So fällt auch die Provinz in die Hände ihrer
Provinzinl-, Kreis-, Stadt- und Dorfbanditen, und es setzen sich Konfiskationen
mit Unterschlagungen und Erpressungen in ununterbrochener Reihe fort.

Das also war das Regiment derjenigen, die sich als "humanitäre Philo¬
sophen" ausgaben. Was sich die Welt schaudernd ans den wilden Zeiten der
mittelalterlichen Kriege bei einer einzelnen That, in einer einzigen Stadt erzählte,
das sah man jetzt im ganzen Reiche erfüllt. Das waren die Ergebnisse
des wieder in den Naturzustand zurückgeleiteten Menschen! Wie hebt sich von
ihnen das Mvisu rv^uns ab! Das Übergewicht Frankreichs im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert in Europa ist sicherlich nicht bloß seinen kriegerischen


Grenzboten I. 188S. Z
Aus der französischen Revolution.

Je tiefer auf der Leiter der hierarchischen Ordnung man hinabsteigt — wenn
man überhaupt diesen Ausdruck für den Zustand einer in Permanenz erklärten
Anarchie gebrauchen darf —, desto kläglichere Gruppen raubgieriger Bestien
in Menschengestalt treten einem entgegen. In Paris sind es etwa fünf- bis
sechstausend, die der gleiche Hang um das gleiche Dogma schart, die einen, weil
sie sich in Not befinde», die andern, weil sie die Ausübung der souveränen
Nvlksrechte der Arbeit gänzlich entwöhnt hat — alle von demselben Haß erfüllt
gegen die Verbrecher in Sänften, gegen die Reichen und Besitzenden. Diesen
Leuten hat die Revolution eine reiche Weide für ihre Begierden und Laster zur
Verfügung gestellt; bestrafte Diebe, Fälscher, Betrüger, Sträflinge aller Art,
Handwerker mit der geringsten Kenntnis der Orthographie, Trunkenbolde leiten
überall die Geschäfte. Man sehe sich nur einmal einen solchen Mann in der
Nähe an, wie Buchöl, Minister der auswärtigen Angelegenheiten, den Robespierre
selbst zweimal als einen braven, fähigen, energischen und für die wichtigsten
Geschäfte brauchbaren Mann bezeichnet hat, in Wahrheit ein Schulmeister aus
dem Jura, dessen Unwissenheit und gemeine Art alle Phantasie übersteigen.
Seine Untergebenen meiden ihn, und er selbst befindet sich niemals in seinem
Bureau. Um eine Unterschrift zu erlangen, muß man ihn im Cafe aufsuchen,
wo er im Trunk seine Tage verbringt. Nach dem Thermidor entsetzt, bettelt er
seinen Nachsolger um irgendeine Schreiberstelle im Ministerium an und will sich,
auf das Unpassende dieses Schrittes aufmerksam gemacht, zuletzt mit einer Ver¬
sorgung als Kauzleidiener begnügen. Dabei ist er noch ein unschädlicher Mann.
Schlimmere Seiten weist der berüchtigte Kommandant der Nationalgarde Henriot
ans, dessen Tagesbefehle wahre Kunstwerke des Blödsinns eines Trunkenboldes
und eines im Branntweinfnsel rasenden Tyrannen bilden. Wie schwer müssen
hier die Achiver den Wahnsinn ihrer „Herrscher" büßen, denn in den Provinzen
will das Volk durchaus nichts von seiner jakobinischen Regeneration wissen;
wer es überhaupt kann, zieht sich von Wahlen und sonstigen öffentlichen Ge¬
schäften zurück, und der jakobinische Klub sieht sich genötigt, fortwährend
Emissäre auszusenden, die in den einzelnen Städten, Flecken und Dörfern die
Hefe des Pöbels organisiren, um mit seiner Hilfe die Anarchie zu schaffen
und aufrecht zu erhalten. So fällt auch die Provinz in die Hände ihrer
Provinzinl-, Kreis-, Stadt- und Dorfbanditen, und es setzen sich Konfiskationen
mit Unterschlagungen und Erpressungen in ununterbrochener Reihe fort.

Das also war das Regiment derjenigen, die sich als „humanitäre Philo¬
sophen" ausgaben. Was sich die Welt schaudernd ans den wilden Zeiten der
mittelalterlichen Kriege bei einer einzelnen That, in einer einzigen Stadt erzählte,
das sah man jetzt im ganzen Reiche erfüllt. Das waren die Ergebnisse
des wieder in den Naturzustand zurückgeleiteten Menschen! Wie hebt sich von
ihnen das Mvisu rv^uns ab! Das Übergewicht Frankreichs im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert in Europa ist sicherlich nicht bloß seinen kriegerischen


Grenzboten I. 188S. Z
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[0029] Aus der französischen Revolution. Je tiefer auf der Leiter der hierarchischen Ordnung man hinabsteigt — wenn man überhaupt diesen Ausdruck für den Zustand einer in Permanenz erklärten Anarchie gebrauchen darf —, desto kläglichere Gruppen raubgieriger Bestien in Menschengestalt treten einem entgegen. In Paris sind es etwa fünf- bis sechstausend, die der gleiche Hang um das gleiche Dogma schart, die einen, weil sie sich in Not befinde», die andern, weil sie die Ausübung der souveränen Nvlksrechte der Arbeit gänzlich entwöhnt hat — alle von demselben Haß erfüllt gegen die Verbrecher in Sänften, gegen die Reichen und Besitzenden. Diesen Leuten hat die Revolution eine reiche Weide für ihre Begierden und Laster zur Verfügung gestellt; bestrafte Diebe, Fälscher, Betrüger, Sträflinge aller Art, Handwerker mit der geringsten Kenntnis der Orthographie, Trunkenbolde leiten überall die Geschäfte. Man sehe sich nur einmal einen solchen Mann in der Nähe an, wie Buchöl, Minister der auswärtigen Angelegenheiten, den Robespierre selbst zweimal als einen braven, fähigen, energischen und für die wichtigsten Geschäfte brauchbaren Mann bezeichnet hat, in Wahrheit ein Schulmeister aus dem Jura, dessen Unwissenheit und gemeine Art alle Phantasie übersteigen. Seine Untergebenen meiden ihn, und er selbst befindet sich niemals in seinem Bureau. Um eine Unterschrift zu erlangen, muß man ihn im Cafe aufsuchen, wo er im Trunk seine Tage verbringt. Nach dem Thermidor entsetzt, bettelt er seinen Nachsolger um irgendeine Schreiberstelle im Ministerium an und will sich, auf das Unpassende dieses Schrittes aufmerksam gemacht, zuletzt mit einer Ver¬ sorgung als Kauzleidiener begnügen. Dabei ist er noch ein unschädlicher Mann. Schlimmere Seiten weist der berüchtigte Kommandant der Nationalgarde Henriot ans, dessen Tagesbefehle wahre Kunstwerke des Blödsinns eines Trunkenboldes und eines im Branntweinfnsel rasenden Tyrannen bilden. Wie schwer müssen hier die Achiver den Wahnsinn ihrer „Herrscher" büßen, denn in den Provinzen will das Volk durchaus nichts von seiner jakobinischen Regeneration wissen; wer es überhaupt kann, zieht sich von Wahlen und sonstigen öffentlichen Ge¬ schäften zurück, und der jakobinische Klub sieht sich genötigt, fortwährend Emissäre auszusenden, die in den einzelnen Städten, Flecken und Dörfern die Hefe des Pöbels organisiren, um mit seiner Hilfe die Anarchie zu schaffen und aufrecht zu erhalten. So fällt auch die Provinz in die Hände ihrer Provinzinl-, Kreis-, Stadt- und Dorfbanditen, und es setzen sich Konfiskationen mit Unterschlagungen und Erpressungen in ununterbrochener Reihe fort. Das also war das Regiment derjenigen, die sich als „humanitäre Philo¬ sophen" ausgaben. Was sich die Welt schaudernd ans den wilden Zeiten der mittelalterlichen Kriege bei einer einzelnen That, in einer einzigen Stadt erzählte, das sah man jetzt im ganzen Reiche erfüllt. Das waren die Ergebnisse des wieder in den Naturzustand zurückgeleiteten Menschen! Wie hebt sich von ihnen das Mvisu rv^uns ab! Das Übergewicht Frankreichs im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert in Europa ist sicherlich nicht bloß seinen kriegerischen Grenzboten I. 188S. Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/29>, abgerufen am 21.05.2024.