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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Landesuniversität Tübingen, auftrat. Vor bald fünfundzwanzig Jahren ist der
geistvolle, als Philosoph und Statistiker mit Recht überall berühmte und an¬
gesehene Mann über dem Konkordat zu Falle gekommen, gegen das sich das
protestantische Gefühl mit Macht empört hatte; nach so langer Frist trat er
wieder in einer kirchlichen Debatte im Vorderkampfe auf, und sofort erhielt der
ganze Streit eine Wendung, welche ihm eine Bedeutung über die würtem-
bergischen Grenzpfähle hinaus sichert. Rümelin sprach sich mit aller Schärfe
gegen den Entwurf aus, weil er dahin führe, daß die Synode, welche bis jetzt
bloß auf königlicher Verordnung beruhe und durch eine solche auch wieder auf¬
gehoben werden könne, staatlich anerkannt werden würde; denn indem der Kirchen-
Vertretung das Recht gewährt würde, kirchliche Anlagen zu beschließen, würde
sie auch staatlich als bestehend hingenommen. Zu diesem Schritte aber könne
er sich nicht verstehen, weil die Synode nicht bloß unnötig, sondern auch positiv
schädlich sei. Unnötig sei sie, insofern sie gar keinen dauernden Stoff zur Be¬
ratung besitze; denn kirchliche Gesetze seien nur selten notwendig, und über andre
Dinge entschieden besser andre Körperschaften; so über Gesangbücher, Choral-
bücher u. s. w., zu deren zweckmäßiger Fassung einige sachverständige Männer,
nicht aber eine Synode von etlichen sechzig Köpfen berufen sei. Positiv schädlich
aber sei die Synode, weil jeder, der in sie eintritt, sich auf das "Bekenntnis
der evangelischen Kirche" verpflichten müsse; und unter diesem Bekenntnis seien
ohne Zweifel die Lehrsätze der symbolischen Bücher des sechzehnten Jahrhunderts
verstanden, zu welchen die Zeitübung und die Wissenschaft des neunzehnten Jahr¬
hunderts in schroffem Gegensatze stünden. Eine große Zahl von Männern, die
nichts weniger sein wollten als Gegner ihrer Kirche, die wie er, der Redner,
es sich selbst zum höchsten Gewinn schätzten, der evangelischen Kirche Deutsch¬
lands anzugehören, und ihr den Besitz ihrer geistigen Güter zu verdanken glaubten,
werde durch diese Eidesformel thatsächlich aus der Synode ausgeschlossen; sie
fühlten sich dem überlieferten Kultus der Kirche entfremdet, weil sie mit den
Akten desselben den von der Kirche geforderten Sinn nicht zu verbinden ver¬
möchten; und obwohl sie Protestanten sein und bleiben wollten, müßten sie sich
doch zur Zeit der Kirche äußerlich fern halten. Daraus folge, daß die dring¬
lichste Aufgabe der Gegenwart die sei, Theologie und Wissenschaft wieder in
Fühlung mit einander zu bringen und Glauben und Wissen unter einander
auszugleichen. Diesen so nötigen Prozeß der leisen, allmählichen Umbildung
des Dogmas im Zusammenhang mit der Wissenschaft störe die Synode, sie
mache jede Änderung vom orthodoxen Gesichtspunkte abhängig. Deshalb stimme
er, obwohl er ein abgesagter Feind aller materialistischen Weltanschauung, alles
Unglaubens, alles Wissenshochmuts sei, gegen den Entwurf, welcher in 8 57
eine ganze Reihe von Artikeln der Synvdalvrdnnng staatlich so festlegen wolle,
daß der König ohne ständische Verabschiedung nichts von derselben zurücknehme"
könnte.


Landesuniversität Tübingen, auftrat. Vor bald fünfundzwanzig Jahren ist der
geistvolle, als Philosoph und Statistiker mit Recht überall berühmte und an¬
gesehene Mann über dem Konkordat zu Falle gekommen, gegen das sich das
protestantische Gefühl mit Macht empört hatte; nach so langer Frist trat er
wieder in einer kirchlichen Debatte im Vorderkampfe auf, und sofort erhielt der
ganze Streit eine Wendung, welche ihm eine Bedeutung über die würtem-
bergischen Grenzpfähle hinaus sichert. Rümelin sprach sich mit aller Schärfe
gegen den Entwurf aus, weil er dahin führe, daß die Synode, welche bis jetzt
bloß auf königlicher Verordnung beruhe und durch eine solche auch wieder auf¬
gehoben werden könne, staatlich anerkannt werden würde; denn indem der Kirchen-
Vertretung das Recht gewährt würde, kirchliche Anlagen zu beschließen, würde
sie auch staatlich als bestehend hingenommen. Zu diesem Schritte aber könne
er sich nicht verstehen, weil die Synode nicht bloß unnötig, sondern auch positiv
schädlich sei. Unnötig sei sie, insofern sie gar keinen dauernden Stoff zur Be¬
ratung besitze; denn kirchliche Gesetze seien nur selten notwendig, und über andre
Dinge entschieden besser andre Körperschaften; so über Gesangbücher, Choral-
bücher u. s. w., zu deren zweckmäßiger Fassung einige sachverständige Männer,
nicht aber eine Synode von etlichen sechzig Köpfen berufen sei. Positiv schädlich
aber sei die Synode, weil jeder, der in sie eintritt, sich auf das „Bekenntnis
der evangelischen Kirche" verpflichten müsse; und unter diesem Bekenntnis seien
ohne Zweifel die Lehrsätze der symbolischen Bücher des sechzehnten Jahrhunderts
verstanden, zu welchen die Zeitübung und die Wissenschaft des neunzehnten Jahr¬
hunderts in schroffem Gegensatze stünden. Eine große Zahl von Männern, die
nichts weniger sein wollten als Gegner ihrer Kirche, die wie er, der Redner,
es sich selbst zum höchsten Gewinn schätzten, der evangelischen Kirche Deutsch¬
lands anzugehören, und ihr den Besitz ihrer geistigen Güter zu verdanken glaubten,
werde durch diese Eidesformel thatsächlich aus der Synode ausgeschlossen; sie
fühlten sich dem überlieferten Kultus der Kirche entfremdet, weil sie mit den
Akten desselben den von der Kirche geforderten Sinn nicht zu verbinden ver¬
möchten; und obwohl sie Protestanten sein und bleiben wollten, müßten sie sich
doch zur Zeit der Kirche äußerlich fern halten. Daraus folge, daß die dring¬
lichste Aufgabe der Gegenwart die sei, Theologie und Wissenschaft wieder in
Fühlung mit einander zu bringen und Glauben und Wissen unter einander
auszugleichen. Diesen so nötigen Prozeß der leisen, allmählichen Umbildung
des Dogmas im Zusammenhang mit der Wissenschaft störe die Synode, sie
mache jede Änderung vom orthodoxen Gesichtspunkte abhängig. Deshalb stimme
er, obwohl er ein abgesagter Feind aller materialistischen Weltanschauung, alles
Unglaubens, alles Wissenshochmuts sei, gegen den Entwurf, welcher in 8 57
eine ganze Reihe von Artikeln der Synvdalvrdnnng staatlich so festlegen wolle,
daß der König ohne ständische Verabschiedung nichts von derselben zurücknehme»
könnte.


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[0336] Landesuniversität Tübingen, auftrat. Vor bald fünfundzwanzig Jahren ist der geistvolle, als Philosoph und Statistiker mit Recht überall berühmte und an¬ gesehene Mann über dem Konkordat zu Falle gekommen, gegen das sich das protestantische Gefühl mit Macht empört hatte; nach so langer Frist trat er wieder in einer kirchlichen Debatte im Vorderkampfe auf, und sofort erhielt der ganze Streit eine Wendung, welche ihm eine Bedeutung über die würtem- bergischen Grenzpfähle hinaus sichert. Rümelin sprach sich mit aller Schärfe gegen den Entwurf aus, weil er dahin führe, daß die Synode, welche bis jetzt bloß auf königlicher Verordnung beruhe und durch eine solche auch wieder auf¬ gehoben werden könne, staatlich anerkannt werden würde; denn indem der Kirchen- Vertretung das Recht gewährt würde, kirchliche Anlagen zu beschließen, würde sie auch staatlich als bestehend hingenommen. Zu diesem Schritte aber könne er sich nicht verstehen, weil die Synode nicht bloß unnötig, sondern auch positiv schädlich sei. Unnötig sei sie, insofern sie gar keinen dauernden Stoff zur Be¬ ratung besitze; denn kirchliche Gesetze seien nur selten notwendig, und über andre Dinge entschieden besser andre Körperschaften; so über Gesangbücher, Choral- bücher u. s. w., zu deren zweckmäßiger Fassung einige sachverständige Männer, nicht aber eine Synode von etlichen sechzig Köpfen berufen sei. Positiv schädlich aber sei die Synode, weil jeder, der in sie eintritt, sich auf das „Bekenntnis der evangelischen Kirche" verpflichten müsse; und unter diesem Bekenntnis seien ohne Zweifel die Lehrsätze der symbolischen Bücher des sechzehnten Jahrhunderts verstanden, zu welchen die Zeitübung und die Wissenschaft des neunzehnten Jahr¬ hunderts in schroffem Gegensatze stünden. Eine große Zahl von Männern, die nichts weniger sein wollten als Gegner ihrer Kirche, die wie er, der Redner, es sich selbst zum höchsten Gewinn schätzten, der evangelischen Kirche Deutsch¬ lands anzugehören, und ihr den Besitz ihrer geistigen Güter zu verdanken glaubten, werde durch diese Eidesformel thatsächlich aus der Synode ausgeschlossen; sie fühlten sich dem überlieferten Kultus der Kirche entfremdet, weil sie mit den Akten desselben den von der Kirche geforderten Sinn nicht zu verbinden ver¬ möchten; und obwohl sie Protestanten sein und bleiben wollten, müßten sie sich doch zur Zeit der Kirche äußerlich fern halten. Daraus folge, daß die dring¬ lichste Aufgabe der Gegenwart die sei, Theologie und Wissenschaft wieder in Fühlung mit einander zu bringen und Glauben und Wissen unter einander auszugleichen. Diesen so nötigen Prozeß der leisen, allmählichen Umbildung des Dogmas im Zusammenhang mit der Wissenschaft störe die Synode, sie mache jede Änderung vom orthodoxen Gesichtspunkte abhängig. Deshalb stimme er, obwohl er ein abgesagter Feind aller materialistischen Weltanschauung, alles Unglaubens, alles Wissenshochmuts sei, gegen den Entwurf, welcher in 8 57 eine ganze Reihe von Artikeln der Synvdalvrdnnng staatlich so festlegen wolle, daß der König ohne ständische Verabschiedung nichts von derselben zurücknehme» könnte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/336>, abgerufen am 22.05.2024.