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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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F. M. Dostojewsky.

land dein europäischen Publikum etwas näher gerückt habe, betrachte ich als
das größte Glück meines Lebens." In der That ist Turgenjew der literarische
Entdecker des russischen Volkes und seiner Psychologie für das europäische
Publikum geworden, wie Georg Brandes in einer Charakteristik desselben mit
Recht hervorhob. Turgenjew schrieb und schuf aber auch mit Rücksicht auf
dieses Publikum; da er seit dem Jahre 1854 sich ständig außerhalb des Zaren¬
reiches aufhielt, nahm sein Wesen in dem Verkehr mit fast allen Nationen und
großen Literaturen des Weltteils einen kosmopolitischen Zug an, der ihn zum
berufensten Erklärer russischen Lebens für Europa machte. Dostojewsky aber
hat vom Kosmopolitismus nicht das Mindeste an sich; er schreibt mir für sein
eignes Volk. Daß er sich außerhalb Rußlands je aufgehalten hätte, ist nicht
bekannt, wohl aber haben die bittersten Schicksale nicht vermocht, feine Anhäng¬
lichkeit an die heimatliche Erde zu erschüttern. In jungen Jahren, 1849 (er
war geboren am 30. Oktober 1821) widerfahr ihm das verhängnisvolle Un¬
glück, in Gesellschaft andrer Altersgenossen ganz unschuldiger Weise einer stnats-
gefährlicheu Verschwörung verdächtigt zu werden; er wurde mit den andern zum
Tode verurteilt, auf dem NichtPlatze aber wurde er zu achtjähriger Verbannung
nach Sibirien begnadigt, von wo er erst 1858 wieder zurückkehren konnte. Und
doch, wie ergreifend offenbart sich in seinen Dichtungen seine Liebe zur Heimat!
Dem zur Deportation verurteilten Dimitrh in dem Romane, der uns hier
näher beschäftigen soll,*) giebt man die Mittel an die Hand, nach Amerika zu
entfliehen. Aber der Dichter läßt ihn erwiedern: "Wenn ich auch entfliehe,
mit Geld und Paß ausgerüstet, so ermutigt mich noch der Gedanke, daß ich
nicht zur Freude, nicht zum Glücke entfliehe, sondern in Wirklichkeit zu einer
andern Sträflingsarbeit, welche vielleicht nicht geringer ist als diese hier!
Schon jetzt hasse ich dieses Amerika! Und wenn sie dort alle bis zum letzten
wer weiß wie großartige Maschinisten sind, oder sonst was -- hol' sie der
Teufel, meine Leute sind es nicht, meiner Seele nicht verwandt! Rußland
liebe ich, den russischen Gott liebe ich, wenn ich auch selbst ein Schuft bin!
Dort aber werde ich umkommen!" (IV, 308.) Dostojewsky ist also, wie man
zu sagen Pflegt, ein Stockrnsse.

Aber noch ein weiterer, höchst wichtiger Unterschied besteht zwischen ihm
und Turgenjew; er betrifft das innerste Wesen beider Schriftsteller und läßt
sich, überraschenderweise, leicht an Gegensätze anknüpfen, welche wir aus unsrer
eignen Literatur sehr genau kennen. Es scheint uns sehr bedeutsam zu sein,
daß Turgenjew mit Vorliebe Goethe studirte, und daß Dostojewsky von
deutschen Dichter" Schiller mit Verehrung zitirt; wahlverwandte Elemente ent¬
schieden wohl ihre Neigungen. Wie sich in Goethe und Schiller der natur-



*) Die Brüder Karnmasow. Roman in vier Biwde" von F. M. Dostojewski.
Leipzig, Gnmow. '1884.
F. M. Dostojewsky.

land dein europäischen Publikum etwas näher gerückt habe, betrachte ich als
das größte Glück meines Lebens." In der That ist Turgenjew der literarische
Entdecker des russischen Volkes und seiner Psychologie für das europäische
Publikum geworden, wie Georg Brandes in einer Charakteristik desselben mit
Recht hervorhob. Turgenjew schrieb und schuf aber auch mit Rücksicht auf
dieses Publikum; da er seit dem Jahre 1854 sich ständig außerhalb des Zaren¬
reiches aufhielt, nahm sein Wesen in dem Verkehr mit fast allen Nationen und
großen Literaturen des Weltteils einen kosmopolitischen Zug an, der ihn zum
berufensten Erklärer russischen Lebens für Europa machte. Dostojewsky aber
hat vom Kosmopolitismus nicht das Mindeste an sich; er schreibt mir für sein
eignes Volk. Daß er sich außerhalb Rußlands je aufgehalten hätte, ist nicht
bekannt, wohl aber haben die bittersten Schicksale nicht vermocht, feine Anhäng¬
lichkeit an die heimatliche Erde zu erschüttern. In jungen Jahren, 1849 (er
war geboren am 30. Oktober 1821) widerfahr ihm das verhängnisvolle Un¬
glück, in Gesellschaft andrer Altersgenossen ganz unschuldiger Weise einer stnats-
gefährlicheu Verschwörung verdächtigt zu werden; er wurde mit den andern zum
Tode verurteilt, auf dem NichtPlatze aber wurde er zu achtjähriger Verbannung
nach Sibirien begnadigt, von wo er erst 1858 wieder zurückkehren konnte. Und
doch, wie ergreifend offenbart sich in seinen Dichtungen seine Liebe zur Heimat!
Dem zur Deportation verurteilten Dimitrh in dem Romane, der uns hier
näher beschäftigen soll,*) giebt man die Mittel an die Hand, nach Amerika zu
entfliehen. Aber der Dichter läßt ihn erwiedern: „Wenn ich auch entfliehe,
mit Geld und Paß ausgerüstet, so ermutigt mich noch der Gedanke, daß ich
nicht zur Freude, nicht zum Glücke entfliehe, sondern in Wirklichkeit zu einer
andern Sträflingsarbeit, welche vielleicht nicht geringer ist als diese hier!
Schon jetzt hasse ich dieses Amerika! Und wenn sie dort alle bis zum letzten
wer weiß wie großartige Maschinisten sind, oder sonst was — hol' sie der
Teufel, meine Leute sind es nicht, meiner Seele nicht verwandt! Rußland
liebe ich, den russischen Gott liebe ich, wenn ich auch selbst ein Schuft bin!
Dort aber werde ich umkommen!" (IV, 308.) Dostojewsky ist also, wie man
zu sagen Pflegt, ein Stockrnsse.

Aber noch ein weiterer, höchst wichtiger Unterschied besteht zwischen ihm
und Turgenjew; er betrifft das innerste Wesen beider Schriftsteller und läßt
sich, überraschenderweise, leicht an Gegensätze anknüpfen, welche wir aus unsrer
eignen Literatur sehr genau kennen. Es scheint uns sehr bedeutsam zu sein,
daß Turgenjew mit Vorliebe Goethe studirte, und daß Dostojewsky von
deutschen Dichter» Schiller mit Verehrung zitirt; wahlverwandte Elemente ent¬
schieden wohl ihre Neigungen. Wie sich in Goethe und Schiller der natur-



*) Die Brüder Karnmasow. Roman in vier Biwde» von F. M. Dostojewski.
Leipzig, Gnmow. '1884.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/355>, abgerufen am 22.05.2024.