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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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fromme Realist und der ethische Idealist gegenüberstehen, so ist es ähnlich mit
den beiden russischen Dichtern, so wenig Gemeinsames sie im übrigen mit den
deutschen haben mögen.

Die Ohnmacht des sittlich bewußten Geistes der Natur gegenüber, das ist
die Grundanschauung Turgenjews. Darum herrscht eine so tiefe, hoffnungslose
Melancholie in seinen Dichtungen, in denen ein mächtiges und eigentümliches
Naturgefühl und das seltenste Vermögen der lyrischen Naturschilderung zunächst
ins Auge fallen. Darum ist er recht eigentlich der Dichter der menschlichen
Schwäche, darum ist er in überwiegender Weife der Dichter des Weibes. Er
wird garnicht müde, jene seine Grundanschauung von der Übermacht der Natur,
sei es nun als Leidenschaft oder schwerblütigen Hang oder Willensschwäche oder
als völlig unbewußte Macht des dumpfen Gefühlslebens zur Darstellung zu
bringen. Darum endlich auch herrscht ein so niederdrückender Fatalismus in
seineu Schriften, daß dem Leser das Herz sich bis zum schmerzlichen Aufschrei
zusammenschnürt. Kein Dichter der gesamten Literatur, kein Byron und kein
Lcopardi, kein Hölderlin und kein Lenau vermag eine so hoffnungslos ver¬
zweifelte Stimmung im Leser hervorzurufen wie Turgenjew.

Wir wollen nun nicht gerade behaupten, daß sich Dostojewsky vorwiegend
mit den lichtesten Seiten des menschlichen Lebens beschäftige. Ein Dichter, der,
wie er, mitten in einem von tausend sozialen Schäden gequälten Volke, in einem
gährenden Zeitalter aufwächst und selbst ein furchtbares Schicksal erlebt hat,
kann die Welt nicht in rosigem Lichte ansehen. Auch er behandelt haltlose
Charaktere, dunkle Thäte", und seine einzig dastehende Psychologie des Ver¬
brechens (in "Raskolnikow") ist ja gleich in rückhaltloser Bewunderung aner¬
kannt worden. Aber was ihn, unsrer Meinung nach, sowohl menschlich wie
dichterisch weit über Turgenjew stellt, das ist sein starkes ethisches Naturell, sein
hohes sittliches Pathos, die ungebrochene Kraft seines Glaubens an das Ideal
menschlicher Güte, die sein innerstes Wesen ausmacht, das feste Rückgrat, welches
die herbsten Leiden überdauerte und ihm schließlich eine Führcrrolle in der
Arbeit seines Volkes für die geistige und soziale Freiheit erwarb. Menschlich,
sagen wir, ist sein Charakter höher; denn, mit Lotze zu reden, ist der Glaube
an das Gute ein Entschluß des Willens. Dichterisch ist er im Vorzug; denn
die Dichtkunst hat diesen Glauben in letzter Instanz in uns zu befestigen, uns
die Harmonie der Welt zur Anschauung zu bringen. Wie tief uns auch der
Dichter in den Abgrund menschlicher Schwäche hinabführen darf, sie als die
einzige Wahrheit hinzustellen ist ein Fehler, eben weil es nur die halbe Wahrheit
ist. Mag er sich die metaphysischen Rätsel zurechtlegen, wie er will, mag er
einer religiösen Tradition angehören, welcher er will, gemeinsam ist allen großen
Religionen und philosophischen Systemen das Bewußtsein von der Erhabenheit
des Geistes über die Natur, die Einsicht, daß sittliches Wollen und natürliches
Streben keine unversöhnlichen Gegensätze sind.


fromme Realist und der ethische Idealist gegenüberstehen, so ist es ähnlich mit
den beiden russischen Dichtern, so wenig Gemeinsames sie im übrigen mit den
deutschen haben mögen.

Die Ohnmacht des sittlich bewußten Geistes der Natur gegenüber, das ist
die Grundanschauung Turgenjews. Darum herrscht eine so tiefe, hoffnungslose
Melancholie in seinen Dichtungen, in denen ein mächtiges und eigentümliches
Naturgefühl und das seltenste Vermögen der lyrischen Naturschilderung zunächst
ins Auge fallen. Darum ist er recht eigentlich der Dichter der menschlichen
Schwäche, darum ist er in überwiegender Weife der Dichter des Weibes. Er
wird garnicht müde, jene seine Grundanschauung von der Übermacht der Natur,
sei es nun als Leidenschaft oder schwerblütigen Hang oder Willensschwäche oder
als völlig unbewußte Macht des dumpfen Gefühlslebens zur Darstellung zu
bringen. Darum endlich auch herrscht ein so niederdrückender Fatalismus in
seineu Schriften, daß dem Leser das Herz sich bis zum schmerzlichen Aufschrei
zusammenschnürt. Kein Dichter der gesamten Literatur, kein Byron und kein
Lcopardi, kein Hölderlin und kein Lenau vermag eine so hoffnungslos ver¬
zweifelte Stimmung im Leser hervorzurufen wie Turgenjew.

Wir wollen nun nicht gerade behaupten, daß sich Dostojewsky vorwiegend
mit den lichtesten Seiten des menschlichen Lebens beschäftige. Ein Dichter, der,
wie er, mitten in einem von tausend sozialen Schäden gequälten Volke, in einem
gährenden Zeitalter aufwächst und selbst ein furchtbares Schicksal erlebt hat,
kann die Welt nicht in rosigem Lichte ansehen. Auch er behandelt haltlose
Charaktere, dunkle Thäte», und seine einzig dastehende Psychologie des Ver¬
brechens (in „Raskolnikow") ist ja gleich in rückhaltloser Bewunderung aner¬
kannt worden. Aber was ihn, unsrer Meinung nach, sowohl menschlich wie
dichterisch weit über Turgenjew stellt, das ist sein starkes ethisches Naturell, sein
hohes sittliches Pathos, die ungebrochene Kraft seines Glaubens an das Ideal
menschlicher Güte, die sein innerstes Wesen ausmacht, das feste Rückgrat, welches
die herbsten Leiden überdauerte und ihm schließlich eine Führcrrolle in der
Arbeit seines Volkes für die geistige und soziale Freiheit erwarb. Menschlich,
sagen wir, ist sein Charakter höher; denn, mit Lotze zu reden, ist der Glaube
an das Gute ein Entschluß des Willens. Dichterisch ist er im Vorzug; denn
die Dichtkunst hat diesen Glauben in letzter Instanz in uns zu befestigen, uns
die Harmonie der Welt zur Anschauung zu bringen. Wie tief uns auch der
Dichter in den Abgrund menschlicher Schwäche hinabführen darf, sie als die
einzige Wahrheit hinzustellen ist ein Fehler, eben weil es nur die halbe Wahrheit
ist. Mag er sich die metaphysischen Rätsel zurechtlegen, wie er will, mag er
einer religiösen Tradition angehören, welcher er will, gemeinsam ist allen großen
Religionen und philosophischen Systemen das Bewußtsein von der Erhabenheit
des Geistes über die Natur, die Einsicht, daß sittliches Wollen und natürliches
Streben keine unversöhnlichen Gegensätze sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/356>, abgerufen am 15.06.2024.