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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Philosophie, sondern stilvoll dargestellte Ergebnisse innerer Erfahrungen und
tiefsten eignen Forschens. . , . Von einer Individualität wie der seinigen aus¬
gehend, haben seine innern Beobachtungen über das Wesen der Poesie und das
Auftreten der poetischen Kraft unleugbar allgemein wissenschaftlichen Wert; auf
ihn selbst bezogen wirkten sie aber geradezu tragisch, indem er einerseits, wenn
sich bei ihm nicht die natürlichen Prozesse einstellten, außer stände war zu dichten,
mithin für den Markt von vornherein zu kurz kam; anderseits der Maßstab,
den er gemäß dieser seiner eignen Beschaffenheit teils mündlich, teils schriftlich
an Dritte legte, seine Lebensverhältnisse verbitterte und seine eigne Anerkennung
verspätete,"

Die Erfahrung, welche sich aus der Lebensgeschichte Hebbels ergiebt, bleibt
immer die, daß, ein paar seltene Nusunhmefälle abgerechnet, der wirkliche Dichter,
der einer innern Notwendigkeit folgt, eine andre Basis seiner unentbehrlichen
Unabhängigkeit bedarf/ als die eigne Produktion. Die Verhältnisse sind
seit 1840 vielfach andre geworden, und dennoch, sobald wir uus die Frage vor¬
legen: Konnte sich unter heutigen Umständen das Geschick erneuern, welches diese
Blätter vor uus aufrollen, die Autwort müßte ohne Zögern bejaht werden.
Was Hütte sich denn zum Guten geändert? Der unverwöhnte Hebbel zeichnet
unter dein 25. März 1841 in sein Tagebuch ein: "Judith hat mir nun im
ganzen 43 Louisdor eingebracht, eine schöne Summe sür ein erstes Werk." Er
rechnet dabei die Bühnenhonvrare von Berlin und Hamburg und die zehn
Lonisdors, welche ihm der Verleger Julius Campe für die geniale Tragödie
zahlte, zusammen. Welcher Verleger würde heute den Mut haben, für ein noch
so vielversprechendes dramatisches Werk, das keinen "sensationellen" Erfolg gehabt,
mich nur deu bescheidenen Ehrensold zu zahlen, den 1841 die Hoffmann und
Campesche Buchhandlung in Hamburg bieten konnte. Aber wir haben seitdem
die Tantieme erhalten! Nun, wer glaubt im Ernst, daß sie einem Werke von
der Bedeutsamkeit und Gestaltungskraft, aber auch von der düstern Eigenart,
dem übersteigerten Ausdruck der "Judith" zugute kommen könnte? Wir wissen
nur zu wohl, welches Metalls und Gepräges die Mehrzahl der "theatralisch wirk¬
samen" Werke find, deren Tantiemen auf den Börsen der literarischen Industrie
nach Tausenden und Zehntausenden notirt werden, und welcher Zufälle es be¬
darf, um einer gehaltvollen Dichtung auch nur deu zehnten Teil der Autoren-
antcilc einer armseligen Feerie oder eines schwankes zu verschaffen, bei welchem
man so sehr über die Tölpelei der auf die Bretter gebrachten Figuren lachen
muß, daß man ganz vergißt, über die des Verfassers zu lachen. Die Aussicht,
welche heute für eine "Judith" und ihren Dichter vorhanden wäre, stellt sich
um nichts günstiger als vor einem Menschenalter. Aber die "Schillerstiftuug"!
werden Wohlmeinende ausrufen. Wir sind weit entfernt, die höchst wohlthä¬
tigen und segensreichen Wirkungen, welche die Schillerstiftung in einzelnen
Fällen gehabt hat, zu verkennen oder an dein redlichen Ernste ihres Verwal-


Philosophie, sondern stilvoll dargestellte Ergebnisse innerer Erfahrungen und
tiefsten eignen Forschens. . , . Von einer Individualität wie der seinigen aus¬
gehend, haben seine innern Beobachtungen über das Wesen der Poesie und das
Auftreten der poetischen Kraft unleugbar allgemein wissenschaftlichen Wert; auf
ihn selbst bezogen wirkten sie aber geradezu tragisch, indem er einerseits, wenn
sich bei ihm nicht die natürlichen Prozesse einstellten, außer stände war zu dichten,
mithin für den Markt von vornherein zu kurz kam; anderseits der Maßstab,
den er gemäß dieser seiner eignen Beschaffenheit teils mündlich, teils schriftlich
an Dritte legte, seine Lebensverhältnisse verbitterte und seine eigne Anerkennung
verspätete,"

Die Erfahrung, welche sich aus der Lebensgeschichte Hebbels ergiebt, bleibt
immer die, daß, ein paar seltene Nusunhmefälle abgerechnet, der wirkliche Dichter,
der einer innern Notwendigkeit folgt, eine andre Basis seiner unentbehrlichen
Unabhängigkeit bedarf/ als die eigne Produktion. Die Verhältnisse sind
seit 1840 vielfach andre geworden, und dennoch, sobald wir uus die Frage vor¬
legen: Konnte sich unter heutigen Umständen das Geschick erneuern, welches diese
Blätter vor uus aufrollen, die Autwort müßte ohne Zögern bejaht werden.
Was Hütte sich denn zum Guten geändert? Der unverwöhnte Hebbel zeichnet
unter dein 25. März 1841 in sein Tagebuch ein: „Judith hat mir nun im
ganzen 43 Louisdor eingebracht, eine schöne Summe sür ein erstes Werk." Er
rechnet dabei die Bühnenhonvrare von Berlin und Hamburg und die zehn
Lonisdors, welche ihm der Verleger Julius Campe für die geniale Tragödie
zahlte, zusammen. Welcher Verleger würde heute den Mut haben, für ein noch
so vielversprechendes dramatisches Werk, das keinen „sensationellen" Erfolg gehabt,
mich nur deu bescheidenen Ehrensold zu zahlen, den 1841 die Hoffmann und
Campesche Buchhandlung in Hamburg bieten konnte. Aber wir haben seitdem
die Tantieme erhalten! Nun, wer glaubt im Ernst, daß sie einem Werke von
der Bedeutsamkeit und Gestaltungskraft, aber auch von der düstern Eigenart,
dem übersteigerten Ausdruck der „Judith" zugute kommen könnte? Wir wissen
nur zu wohl, welches Metalls und Gepräges die Mehrzahl der „theatralisch wirk¬
samen" Werke find, deren Tantiemen auf den Börsen der literarischen Industrie
nach Tausenden und Zehntausenden notirt werden, und welcher Zufälle es be¬
darf, um einer gehaltvollen Dichtung auch nur deu zehnten Teil der Autoren-
antcilc einer armseligen Feerie oder eines schwankes zu verschaffen, bei welchem
man so sehr über die Tölpelei der auf die Bretter gebrachten Figuren lachen
muß, daß man ganz vergißt, über die des Verfassers zu lachen. Die Aussicht,
welche heute für eine „Judith" und ihren Dichter vorhanden wäre, stellt sich
um nichts günstiger als vor einem Menschenalter. Aber die „Schillerstiftuug"!
werden Wohlmeinende ausrufen. Wir sind weit entfernt, die höchst wohlthä¬
tigen und segensreichen Wirkungen, welche die Schillerstiftung in einzelnen
Fällen gehabt hat, zu verkennen oder an dein redlichen Ernste ihres Verwal-


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[0041] Philosophie, sondern stilvoll dargestellte Ergebnisse innerer Erfahrungen und tiefsten eignen Forschens. . , . Von einer Individualität wie der seinigen aus¬ gehend, haben seine innern Beobachtungen über das Wesen der Poesie und das Auftreten der poetischen Kraft unleugbar allgemein wissenschaftlichen Wert; auf ihn selbst bezogen wirkten sie aber geradezu tragisch, indem er einerseits, wenn sich bei ihm nicht die natürlichen Prozesse einstellten, außer stände war zu dichten, mithin für den Markt von vornherein zu kurz kam; anderseits der Maßstab, den er gemäß dieser seiner eignen Beschaffenheit teils mündlich, teils schriftlich an Dritte legte, seine Lebensverhältnisse verbitterte und seine eigne Anerkennung verspätete," Die Erfahrung, welche sich aus der Lebensgeschichte Hebbels ergiebt, bleibt immer die, daß, ein paar seltene Nusunhmefälle abgerechnet, der wirkliche Dichter, der einer innern Notwendigkeit folgt, eine andre Basis seiner unentbehrlichen Unabhängigkeit bedarf/ als die eigne Produktion. Die Verhältnisse sind seit 1840 vielfach andre geworden, und dennoch, sobald wir uus die Frage vor¬ legen: Konnte sich unter heutigen Umständen das Geschick erneuern, welches diese Blätter vor uus aufrollen, die Autwort müßte ohne Zögern bejaht werden. Was Hütte sich denn zum Guten geändert? Der unverwöhnte Hebbel zeichnet unter dein 25. März 1841 in sein Tagebuch ein: „Judith hat mir nun im ganzen 43 Louisdor eingebracht, eine schöne Summe sür ein erstes Werk." Er rechnet dabei die Bühnenhonvrare von Berlin und Hamburg und die zehn Lonisdors, welche ihm der Verleger Julius Campe für die geniale Tragödie zahlte, zusammen. Welcher Verleger würde heute den Mut haben, für ein noch so vielversprechendes dramatisches Werk, das keinen „sensationellen" Erfolg gehabt, mich nur deu bescheidenen Ehrensold zu zahlen, den 1841 die Hoffmann und Campesche Buchhandlung in Hamburg bieten konnte. Aber wir haben seitdem die Tantieme erhalten! Nun, wer glaubt im Ernst, daß sie einem Werke von der Bedeutsamkeit und Gestaltungskraft, aber auch von der düstern Eigenart, dem übersteigerten Ausdruck der „Judith" zugute kommen könnte? Wir wissen nur zu wohl, welches Metalls und Gepräges die Mehrzahl der „theatralisch wirk¬ samen" Werke find, deren Tantiemen auf den Börsen der literarischen Industrie nach Tausenden und Zehntausenden notirt werden, und welcher Zufälle es be¬ darf, um einer gehaltvollen Dichtung auch nur deu zehnten Teil der Autoren- antcilc einer armseligen Feerie oder eines schwankes zu verschaffen, bei welchem man so sehr über die Tölpelei der auf die Bretter gebrachten Figuren lachen muß, daß man ganz vergißt, über die des Verfassers zu lachen. Die Aussicht, welche heute für eine „Judith" und ihren Dichter vorhanden wäre, stellt sich um nichts günstiger als vor einem Menschenalter. Aber die „Schillerstiftuug"! werden Wohlmeinende ausrufen. Wir sind weit entfernt, die höchst wohlthä¬ tigen und segensreichen Wirkungen, welche die Schillerstiftung in einzelnen Fällen gehabt hat, zu verkennen oder an dein redlichen Ernste ihres Verwal-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/41>, abgerufen am 21.05.2024.