Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Hol'liels Tagebücher.

tuugsrates zu zweifeln. Es ist keine leichte Aufgabe, gegenüber Hunderten von
Ansprüchen und angesichts oft drückender Not die Berechtigungsfrage, die mit
der Talcntfrage zusammenfällt, unbefangen zu prüfen. Es ist ein andres, im
kritischen Areopag zu sitzen, in dem entschieden wird, ob ein Gedicht, ein Buch
den Anforderungen der Kunst entspreche, und ein andres, in einem Gerichtshöfe
zu stimmen, wo sich das abfällige Urteil dahin zuspitzt, daß Talent und Lei¬
stungen eines Mannes so unzulänglich sind, um dem Hungernden ein Stück
Brot zu versagen. Gar mancher, welcher den Rechenschaftsbericht der Stiftung
bei der Feier ihres fünfllndzwanzigjührigen Bestehens gelesen, mag zu einem
oder dem andern Dutzend der darin aufgeführten Namen der Unterstützten den
Kopf geschüttelt haben. Hätte er aber im Verwaltnngsrate gesessen und die
Dinge einzeln an sich herankommen sehen, so würde sich sein Kopfschütteln viel¬
leicht elfmal in ein Kopfnicken verwandelt haben. Aber fiir den Fall, den wir
hier besprechen, ist die Schillcrstiftung sogut wie nutzlos. Hand aufs Herz --
wenn sich die Herren fragen, ob sie ein Talent gleich dem des jungen Hebbel
fiir unterstützungswürdig, das heißt für ein wahrhaftes Talent halten sollen, so
werden sie nein und abermals nein sagen. Der Glanz, der von einer großen
und im ganzen doch siegreichen Entwicklung auf die Anfänge eines Talents
zurückstrahlt, kommt dem Anfänger nicht zugute. Je stärker, eigentümlicher und
selbständiger das Talent ist, je weniger es Abhängigkeit von den gerade herrschenden
Moderichtungeu verrät, umso leichter erscheint es als problematische Natur.
Nein, die Lebenslage, in der sich Hebbel, teils einem vermeintlichen Zwange
seines Innern folgend, teils und vor allem mit den Nachwirkungen seiner be¬
drückten Jugend kämpfend, im Jahre 1840 befand, sie kann unter gleichen Um¬
ständen jeden Tag bei einer andern Natur wiederkehren, sie würde lediglich ver¬
schärft sein durch den Umschwung der Verhältnisse, der inzwischen für die
industriellen Vertreter der Literatur und auch, wie gern zugestanden sei, für
einige anmutige, leicht eingängliche und durch die Eigenart ihrer echten Be¬
gabung mit den besten Neigungen des Publikums in Einklang befindliche Ta¬
lente eingetreten ist.

Wer wie Hebbel eine Hauptaufgabe der Poesie darin erblickt, "durch den
Todesgedanken den goldenen Faden des Lebens zu ziehen," wird heute um nichts
besser gestellt sein als der Dichter der "Judith" und "Genoveva," der uns in
diesem ersten Bande der "Tagebücher" ausschließlich begegnet. Für ihn lag die
leidige Reflexion: "Es läßt sich im Leben doch nichts, garnichts nachholen, keine
Arbeit, keine Freude, ja sogar das Leid kann zu spät kommen," nahe genug,
während das spätere Leben ihm die Überzeugung brachte, daß sich allerdings
manches nachholen lasse, nur daß das Nachgeholte dem Ursprünglichen nicht
gleichkomme. Und doch welche rührende Dankbarkeit mitten im beschränktesten
Dasein, wenn ihn nur die Gewißheit, daß sein Schaffen echt und wahr sei,
beglückt. Am 23. September 1840 schreibt der Dichter in sein Tagebuch:


Friedrich Hol'liels Tagebücher.

tuugsrates zu zweifeln. Es ist keine leichte Aufgabe, gegenüber Hunderten von
Ansprüchen und angesichts oft drückender Not die Berechtigungsfrage, die mit
der Talcntfrage zusammenfällt, unbefangen zu prüfen. Es ist ein andres, im
kritischen Areopag zu sitzen, in dem entschieden wird, ob ein Gedicht, ein Buch
den Anforderungen der Kunst entspreche, und ein andres, in einem Gerichtshöfe
zu stimmen, wo sich das abfällige Urteil dahin zuspitzt, daß Talent und Lei¬
stungen eines Mannes so unzulänglich sind, um dem Hungernden ein Stück
Brot zu versagen. Gar mancher, welcher den Rechenschaftsbericht der Stiftung
bei der Feier ihres fünfllndzwanzigjührigen Bestehens gelesen, mag zu einem
oder dem andern Dutzend der darin aufgeführten Namen der Unterstützten den
Kopf geschüttelt haben. Hätte er aber im Verwaltnngsrate gesessen und die
Dinge einzeln an sich herankommen sehen, so würde sich sein Kopfschütteln viel¬
leicht elfmal in ein Kopfnicken verwandelt haben. Aber fiir den Fall, den wir
hier besprechen, ist die Schillcrstiftung sogut wie nutzlos. Hand aufs Herz —
wenn sich die Herren fragen, ob sie ein Talent gleich dem des jungen Hebbel
fiir unterstützungswürdig, das heißt für ein wahrhaftes Talent halten sollen, so
werden sie nein und abermals nein sagen. Der Glanz, der von einer großen
und im ganzen doch siegreichen Entwicklung auf die Anfänge eines Talents
zurückstrahlt, kommt dem Anfänger nicht zugute. Je stärker, eigentümlicher und
selbständiger das Talent ist, je weniger es Abhängigkeit von den gerade herrschenden
Moderichtungeu verrät, umso leichter erscheint es als problematische Natur.
Nein, die Lebenslage, in der sich Hebbel, teils einem vermeintlichen Zwange
seines Innern folgend, teils und vor allem mit den Nachwirkungen seiner be¬
drückten Jugend kämpfend, im Jahre 1840 befand, sie kann unter gleichen Um¬
ständen jeden Tag bei einer andern Natur wiederkehren, sie würde lediglich ver¬
schärft sein durch den Umschwung der Verhältnisse, der inzwischen für die
industriellen Vertreter der Literatur und auch, wie gern zugestanden sei, für
einige anmutige, leicht eingängliche und durch die Eigenart ihrer echten Be¬
gabung mit den besten Neigungen des Publikums in Einklang befindliche Ta¬
lente eingetreten ist.

Wer wie Hebbel eine Hauptaufgabe der Poesie darin erblickt, „durch den
Todesgedanken den goldenen Faden des Lebens zu ziehen," wird heute um nichts
besser gestellt sein als der Dichter der „Judith" und „Genoveva," der uns in
diesem ersten Bande der „Tagebücher" ausschließlich begegnet. Für ihn lag die
leidige Reflexion: „Es läßt sich im Leben doch nichts, garnichts nachholen, keine
Arbeit, keine Freude, ja sogar das Leid kann zu spät kommen," nahe genug,
während das spätere Leben ihm die Überzeugung brachte, daß sich allerdings
manches nachholen lasse, nur daß das Nachgeholte dem Ursprünglichen nicht
gleichkomme. Und doch welche rührende Dankbarkeit mitten im beschränktesten
Dasein, wenn ihn nur die Gewißheit, daß sein Schaffen echt und wahr sei,
beglückt. Am 23. September 1840 schreibt der Dichter in sein Tagebuch:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0042" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194718"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Hol'liels Tagebücher.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_79" prev="#ID_78"> tuugsrates zu zweifeln. Es ist keine leichte Aufgabe, gegenüber Hunderten von<lb/>
Ansprüchen und angesichts oft drückender Not die Berechtigungsfrage, die mit<lb/>
der Talcntfrage zusammenfällt, unbefangen zu prüfen. Es ist ein andres, im<lb/>
kritischen Areopag zu sitzen, in dem entschieden wird, ob ein Gedicht, ein Buch<lb/>
den Anforderungen der Kunst entspreche, und ein andres, in einem Gerichtshöfe<lb/>
zu stimmen, wo sich das abfällige Urteil dahin zuspitzt, daß Talent und Lei¬<lb/>
stungen eines Mannes so unzulänglich sind, um dem Hungernden ein Stück<lb/>
Brot zu versagen. Gar mancher, welcher den Rechenschaftsbericht der Stiftung<lb/>
bei der Feier ihres fünfllndzwanzigjührigen Bestehens gelesen, mag zu einem<lb/>
oder dem andern Dutzend der darin aufgeführten Namen der Unterstützten den<lb/>
Kopf geschüttelt haben. Hätte er aber im Verwaltnngsrate gesessen und die<lb/>
Dinge einzeln an sich herankommen sehen, so würde sich sein Kopfschütteln viel¬<lb/>
leicht elfmal in ein Kopfnicken verwandelt haben. Aber fiir den Fall, den wir<lb/>
hier besprechen, ist die Schillcrstiftung sogut wie nutzlos. Hand aufs Herz &#x2014;<lb/>
wenn sich die Herren fragen, ob sie ein Talent gleich dem des jungen Hebbel<lb/>
fiir unterstützungswürdig, das heißt für ein wahrhaftes Talent halten sollen, so<lb/>
werden sie nein und abermals nein sagen. Der Glanz, der von einer großen<lb/>
und im ganzen doch siegreichen Entwicklung auf die Anfänge eines Talents<lb/>
zurückstrahlt, kommt dem Anfänger nicht zugute. Je stärker, eigentümlicher und<lb/>
selbständiger das Talent ist, je weniger es Abhängigkeit von den gerade herrschenden<lb/>
Moderichtungeu verrät, umso leichter erscheint es als problematische Natur.<lb/>
Nein, die Lebenslage, in der sich Hebbel, teils einem vermeintlichen Zwange<lb/>
seines Innern folgend, teils und vor allem mit den Nachwirkungen seiner be¬<lb/>
drückten Jugend kämpfend, im Jahre 1840 befand, sie kann unter gleichen Um¬<lb/>
ständen jeden Tag bei einer andern Natur wiederkehren, sie würde lediglich ver¬<lb/>
schärft sein durch den Umschwung der Verhältnisse, der inzwischen für die<lb/>
industriellen Vertreter der Literatur und auch, wie gern zugestanden sei, für<lb/>
einige anmutige, leicht eingängliche und durch die Eigenart ihrer echten Be¬<lb/>
gabung mit den besten Neigungen des Publikums in Einklang befindliche Ta¬<lb/>
lente eingetreten ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_80" next="#ID_81"> Wer wie Hebbel eine Hauptaufgabe der Poesie darin erblickt, &#x201E;durch den<lb/>
Todesgedanken den goldenen Faden des Lebens zu ziehen," wird heute um nichts<lb/>
besser gestellt sein als der Dichter der &#x201E;Judith" und &#x201E;Genoveva," der uns in<lb/>
diesem ersten Bande der &#x201E;Tagebücher" ausschließlich begegnet. Für ihn lag die<lb/>
leidige Reflexion: &#x201E;Es läßt sich im Leben doch nichts, garnichts nachholen, keine<lb/>
Arbeit, keine Freude, ja sogar das Leid kann zu spät kommen," nahe genug,<lb/>
während das spätere Leben ihm die Überzeugung brachte, daß sich allerdings<lb/>
manches nachholen lasse, nur daß das Nachgeholte dem Ursprünglichen nicht<lb/>
gleichkomme. Und doch welche rührende Dankbarkeit mitten im beschränktesten<lb/>
Dasein, wenn ihn nur die Gewißheit, daß sein Schaffen echt und wahr sei,<lb/>
beglückt.  Am 23. September 1840 schreibt der Dichter in sein Tagebuch:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0042] Friedrich Hol'liels Tagebücher. tuugsrates zu zweifeln. Es ist keine leichte Aufgabe, gegenüber Hunderten von Ansprüchen und angesichts oft drückender Not die Berechtigungsfrage, die mit der Talcntfrage zusammenfällt, unbefangen zu prüfen. Es ist ein andres, im kritischen Areopag zu sitzen, in dem entschieden wird, ob ein Gedicht, ein Buch den Anforderungen der Kunst entspreche, und ein andres, in einem Gerichtshöfe zu stimmen, wo sich das abfällige Urteil dahin zuspitzt, daß Talent und Lei¬ stungen eines Mannes so unzulänglich sind, um dem Hungernden ein Stück Brot zu versagen. Gar mancher, welcher den Rechenschaftsbericht der Stiftung bei der Feier ihres fünfllndzwanzigjührigen Bestehens gelesen, mag zu einem oder dem andern Dutzend der darin aufgeführten Namen der Unterstützten den Kopf geschüttelt haben. Hätte er aber im Verwaltnngsrate gesessen und die Dinge einzeln an sich herankommen sehen, so würde sich sein Kopfschütteln viel¬ leicht elfmal in ein Kopfnicken verwandelt haben. Aber fiir den Fall, den wir hier besprechen, ist die Schillcrstiftung sogut wie nutzlos. Hand aufs Herz — wenn sich die Herren fragen, ob sie ein Talent gleich dem des jungen Hebbel fiir unterstützungswürdig, das heißt für ein wahrhaftes Talent halten sollen, so werden sie nein und abermals nein sagen. Der Glanz, der von einer großen und im ganzen doch siegreichen Entwicklung auf die Anfänge eines Talents zurückstrahlt, kommt dem Anfänger nicht zugute. Je stärker, eigentümlicher und selbständiger das Talent ist, je weniger es Abhängigkeit von den gerade herrschenden Moderichtungeu verrät, umso leichter erscheint es als problematische Natur. Nein, die Lebenslage, in der sich Hebbel, teils einem vermeintlichen Zwange seines Innern folgend, teils und vor allem mit den Nachwirkungen seiner be¬ drückten Jugend kämpfend, im Jahre 1840 befand, sie kann unter gleichen Um¬ ständen jeden Tag bei einer andern Natur wiederkehren, sie würde lediglich ver¬ schärft sein durch den Umschwung der Verhältnisse, der inzwischen für die industriellen Vertreter der Literatur und auch, wie gern zugestanden sei, für einige anmutige, leicht eingängliche und durch die Eigenart ihrer echten Be¬ gabung mit den besten Neigungen des Publikums in Einklang befindliche Ta¬ lente eingetreten ist. Wer wie Hebbel eine Hauptaufgabe der Poesie darin erblickt, „durch den Todesgedanken den goldenen Faden des Lebens zu ziehen," wird heute um nichts besser gestellt sein als der Dichter der „Judith" und „Genoveva," der uns in diesem ersten Bande der „Tagebücher" ausschließlich begegnet. Für ihn lag die leidige Reflexion: „Es läßt sich im Leben doch nichts, garnichts nachholen, keine Arbeit, keine Freude, ja sogar das Leid kann zu spät kommen," nahe genug, während das spätere Leben ihm die Überzeugung brachte, daß sich allerdings manches nachholen lasse, nur daß das Nachgeholte dem Ursprünglichen nicht gleichkomme. Und doch welche rührende Dankbarkeit mitten im beschränktesten Dasein, wenn ihn nur die Gewißheit, daß sein Schaffen echt und wahr sei, beglückt. Am 23. September 1840 schreibt der Dichter in sein Tagebuch:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/42
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/42>, abgerufen am 21.05.2024.