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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Friedrich Hebbels Tagebücher.

Doch Wir müssen innehalten, um nicht das Buch in ungehöriger Weise zu
plündern. Daß es wichtige Beiträge zur Beleuchtung ganzer Reihen von lite¬
rarischen und künstlerischen Zweifeln und Streitpunkten des Augenblicks enthält,
wird sich jeder selbst sagen. Nur auf eine Einzelheit sei hier noch hingewiesen.
Bekanntlich gefällt sich die neueste philologische Kritik darin, dem Leben und
der Inspiration beinahe jede Mitwirkung an der Entstehung großer Dichtungen
abzusprechen. Gedichte werden auf Gedichte, Bücher auf Bücher zurückgeführt,
selbst Goethe muß von Wieland entlehnt oder, wie es wohlklingender lautet,
an Wieland angeknüpft haben. In Hebbels "Tagebüchern" finden sich ein paar
interessante Stellen, die den Widersinn dieses Nachspürens nach den "Quellen"
entscheidend herausstellen. Am 14. April 1340 zeichnet Hebbel auf: "König
David, ein trefflicher Drcimenftoff. Mrster Akt Sauls Überwindung und Tod.
Urias Weib. Absalon. In Erwägung zu ziehen bei mehr Muße." Indem sich
dem Auge des Dichters bei der Lesung der Bibel der innere und änßere Zu¬
sammenhang des Verhältnisses Davids und Bathsebas und der Empörung Ab-
salons auf den ersten Blick darstellte, schoß ihm der Stoff in derselben Form
zusammen, in der er sich über zwei Jahrhunderte zuvor dem englischen Dichter
Georg Peele, dem Zeitgenossen Shakespeares, gezeigt hatte. Wäre Hebbels Tra¬
gödie ausgeführt worden, so würde sie starke Ähnlichkeiten mit Peelcs "David und
Bathseba" erhalten haben und als ein Produkt des altenglischen Dramas vor
der heutigen Kritik gelten. Nun ist aber nichts gewisser, als daß Hebbel im
Jahre 1840 kein Englisch verstand, daß die Shakespearewissenschaft damals den
Namen Peeles kaum genannt hatte, die Annahme einer Nachahmung daher
so absurd als -- unvermeidlich wäre. Ähnliche Reflexionen ergeben sich bei¬
nahe Seite für Seite.

Alle Genugthuung, die wir über so vieles in dem ersten Bande der
Hebbelschen "Tagebücher" empfinden, erschüttert die Überzeugung nicht, daß sie im
Interesse des Dichters lieber später als heute hätten veröffentlicht werden sollen.
Da sie jedoch da sind, wollen wir dem Herausgeber für seine Pietät und Sorg¬
falt den verdienten Dank nicht schuldig bleiben und darüber hinaus von Herzen
wünschen, daß der deutschen Literatur die unerwartete Neujahrsgabe so zugute
kommen möge, wie es wohl möglich wäre, wenn alles mit rechten Dingen zu¬
ginge, was voraussichtlich leider nicht geschehen wird.




Friedrich Hebbels Tagebücher.

Doch Wir müssen innehalten, um nicht das Buch in ungehöriger Weise zu
plündern. Daß es wichtige Beiträge zur Beleuchtung ganzer Reihen von lite¬
rarischen und künstlerischen Zweifeln und Streitpunkten des Augenblicks enthält,
wird sich jeder selbst sagen. Nur auf eine Einzelheit sei hier noch hingewiesen.
Bekanntlich gefällt sich die neueste philologische Kritik darin, dem Leben und
der Inspiration beinahe jede Mitwirkung an der Entstehung großer Dichtungen
abzusprechen. Gedichte werden auf Gedichte, Bücher auf Bücher zurückgeführt,
selbst Goethe muß von Wieland entlehnt oder, wie es wohlklingender lautet,
an Wieland angeknüpft haben. In Hebbels „Tagebüchern" finden sich ein paar
interessante Stellen, die den Widersinn dieses Nachspürens nach den „Quellen"
entscheidend herausstellen. Am 14. April 1340 zeichnet Hebbel auf: „König
David, ein trefflicher Drcimenftoff. Mrster Akt Sauls Überwindung und Tod.
Urias Weib. Absalon. In Erwägung zu ziehen bei mehr Muße." Indem sich
dem Auge des Dichters bei der Lesung der Bibel der innere und änßere Zu¬
sammenhang des Verhältnisses Davids und Bathsebas und der Empörung Ab-
salons auf den ersten Blick darstellte, schoß ihm der Stoff in derselben Form
zusammen, in der er sich über zwei Jahrhunderte zuvor dem englischen Dichter
Georg Peele, dem Zeitgenossen Shakespeares, gezeigt hatte. Wäre Hebbels Tra¬
gödie ausgeführt worden, so würde sie starke Ähnlichkeiten mit Peelcs „David und
Bathseba" erhalten haben und als ein Produkt des altenglischen Dramas vor
der heutigen Kritik gelten. Nun ist aber nichts gewisser, als daß Hebbel im
Jahre 1840 kein Englisch verstand, daß die Shakespearewissenschaft damals den
Namen Peeles kaum genannt hatte, die Annahme einer Nachahmung daher
so absurd als — unvermeidlich wäre. Ähnliche Reflexionen ergeben sich bei¬
nahe Seite für Seite.

Alle Genugthuung, die wir über so vieles in dem ersten Bande der
Hebbelschen „Tagebücher" empfinden, erschüttert die Überzeugung nicht, daß sie im
Interesse des Dichters lieber später als heute hätten veröffentlicht werden sollen.
Da sie jedoch da sind, wollen wir dem Herausgeber für seine Pietät und Sorg¬
falt den verdienten Dank nicht schuldig bleiben und darüber hinaus von Herzen
wünschen, daß der deutschen Literatur die unerwartete Neujahrsgabe so zugute
kommen möge, wie es wohl möglich wäre, wenn alles mit rechten Dingen zu¬
ginge, was voraussichtlich leider nicht geschehen wird.




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[0046] Friedrich Hebbels Tagebücher. Doch Wir müssen innehalten, um nicht das Buch in ungehöriger Weise zu plündern. Daß es wichtige Beiträge zur Beleuchtung ganzer Reihen von lite¬ rarischen und künstlerischen Zweifeln und Streitpunkten des Augenblicks enthält, wird sich jeder selbst sagen. Nur auf eine Einzelheit sei hier noch hingewiesen. Bekanntlich gefällt sich die neueste philologische Kritik darin, dem Leben und der Inspiration beinahe jede Mitwirkung an der Entstehung großer Dichtungen abzusprechen. Gedichte werden auf Gedichte, Bücher auf Bücher zurückgeführt, selbst Goethe muß von Wieland entlehnt oder, wie es wohlklingender lautet, an Wieland angeknüpft haben. In Hebbels „Tagebüchern" finden sich ein paar interessante Stellen, die den Widersinn dieses Nachspürens nach den „Quellen" entscheidend herausstellen. Am 14. April 1340 zeichnet Hebbel auf: „König David, ein trefflicher Drcimenftoff. Mrster Akt Sauls Überwindung und Tod. Urias Weib. Absalon. In Erwägung zu ziehen bei mehr Muße." Indem sich dem Auge des Dichters bei der Lesung der Bibel der innere und änßere Zu¬ sammenhang des Verhältnisses Davids und Bathsebas und der Empörung Ab- salons auf den ersten Blick darstellte, schoß ihm der Stoff in derselben Form zusammen, in der er sich über zwei Jahrhunderte zuvor dem englischen Dichter Georg Peele, dem Zeitgenossen Shakespeares, gezeigt hatte. Wäre Hebbels Tra¬ gödie ausgeführt worden, so würde sie starke Ähnlichkeiten mit Peelcs „David und Bathseba" erhalten haben und als ein Produkt des altenglischen Dramas vor der heutigen Kritik gelten. Nun ist aber nichts gewisser, als daß Hebbel im Jahre 1840 kein Englisch verstand, daß die Shakespearewissenschaft damals den Namen Peeles kaum genannt hatte, die Annahme einer Nachahmung daher so absurd als — unvermeidlich wäre. Ähnliche Reflexionen ergeben sich bei¬ nahe Seite für Seite. Alle Genugthuung, die wir über so vieles in dem ersten Bande der Hebbelschen „Tagebücher" empfinden, erschüttert die Überzeugung nicht, daß sie im Interesse des Dichters lieber später als heute hätten veröffentlicht werden sollen. Da sie jedoch da sind, wollen wir dem Herausgeber für seine Pietät und Sorg¬ falt den verdienten Dank nicht schuldig bleiben und darüber hinaus von Herzen wünschen, daß der deutschen Literatur die unerwartete Neujahrsgabe so zugute kommen möge, wie es wohl möglich wäre, wenn alles mit rechten Dingen zu¬ ginge, was voraussichtlich leider nicht geschehen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/46>, abgerufen am 21.05.2024.