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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Friedrich Hebbels Tagebücher.

nisse werden verrückt und wieder eingerichtet, etwas weiteres geschieht nirgends.
Merkwürdig und bezeichnend ist vor allem die Art, wie sich Scott der stoff¬
artigen poetischen Elemente der Sagen, Träume, Ahnungen ze. bedient; er weiß
sie mit kräftiger Hand zu packen und aufs geschickteste in den Gang des Ganzen
zu verweben, aber er besprengt sie immer vorher wohlbedächtig mit dem kalten
Wasser des Verstandes und erschwert sich dadurch die Wirkung, die er zuletzt
doch hervorzubringen weiß. Jedenfalls ist er in der bloßen Unterhaltungs-
literatur eine ganz einzige Erscheinung, und zwar vornehmlich wegen der großen
Kunst, der Feinheit in der Motivirung, die er aufwendet, um die gewöhnlichsten
Zwecke zu erreichen." Wenn Hebbel, überall zugleich die höchsten und be¬
stimmte subjektive Maßstäbe anlegend, hier dem Dichter der "Jungfrau vom
See" des "Waverley" und der "Chronik von Ccmongate" den Dichternamen
abspricht, so ist dies freilich eine der Einseitigkeiten, die vom selbständigen
schöpferischen Talent untrennbar scheinen, aber er räumt doch anderseits die
eminenten Vorzüge des großen Erzählers unumwunden ein. Was er zu einer
Belletristik sagen würde, die nicht einen dieser Vorzüge besitzt, und indem sie
für ihre gewöhnlichsten Zwecke weder Kunst noch Feinheit der Motivirung,
noch irgendwelche Motivirung überhaupt aufwendet, sich doch höchste Bedeutuug
zuspricht, das läßt sich leicht erraten, und die folgenden Bünde der "Tage¬
bücher" können garnicht verfehlen, einige höchst schätzbare Beiträge zur Kritik
dessen zu bringen, was heutzutage für Poesie ausgegeben und auch für Poesie
genossen wird.

Wir würden kein Ende finden, wollten wir anfangen, auf alle zum Teil
grundverschiednen Einzelheiten des reichen Inhaltes hinzuweisen. Die kleine
Zahl Empfänglicher, die wir in diesem Falle voraussetzen dürfen, werden
sich die Lektüre des vorliegenden Buches ja schwerlich entgehen lassen. Die
Schärfe der Voraussicht und Vorempfindung des Dichters in allen Zeitfragen,
welche wirklich allgemeine Probleme umfassen, wird ihre Teilnahme nicht minder
in Anspruch nehmen als die künstlerische Seite seines Naturells und Seelenlebens.
In einer Zeit, in welcher der Liberalismus nach französischem Muster fast aus¬
schließlich die politische Formfrage betonte, spürte der Dichter, daß sich die
soziale Frage zu dem finstern Gewölk zusammenballte, durch welches wir jetzt
hindurchschreiten müssen. "Der Pauperismus ist doch eine ganz furchtbare
Frage. Auf der einen Seite hat jeder, den die Erde trägt, ein Recht darauf,
daß sie ihn auch ernähre; auf der andern würde eine allgemeine Gütergemein¬
schaft unendlich viele Motive aufheben, die der insolenten Menschennatur not¬
wendig sind, wenn sie nicht erschlaffen soll" (31. Juli 1843). Auch in bezug
auf andre Momente sah er das Kommende gut genug voraus. "Die Eman¬
zipation der Juden unter den Bedingungen, welche die Juden vorschreiben,
würde im weiteren geschichtlichen Verlaufe zu einer Krisis führen, welche die
Emanzipation der Christen notwendig machte" (20. Mai 1843).


Grenzboten I. 183S. S
Friedrich Hebbels Tagebücher.

nisse werden verrückt und wieder eingerichtet, etwas weiteres geschieht nirgends.
Merkwürdig und bezeichnend ist vor allem die Art, wie sich Scott der stoff¬
artigen poetischen Elemente der Sagen, Träume, Ahnungen ze. bedient; er weiß
sie mit kräftiger Hand zu packen und aufs geschickteste in den Gang des Ganzen
zu verweben, aber er besprengt sie immer vorher wohlbedächtig mit dem kalten
Wasser des Verstandes und erschwert sich dadurch die Wirkung, die er zuletzt
doch hervorzubringen weiß. Jedenfalls ist er in der bloßen Unterhaltungs-
literatur eine ganz einzige Erscheinung, und zwar vornehmlich wegen der großen
Kunst, der Feinheit in der Motivirung, die er aufwendet, um die gewöhnlichsten
Zwecke zu erreichen." Wenn Hebbel, überall zugleich die höchsten und be¬
stimmte subjektive Maßstäbe anlegend, hier dem Dichter der „Jungfrau vom
See" des „Waverley" und der „Chronik von Ccmongate" den Dichternamen
abspricht, so ist dies freilich eine der Einseitigkeiten, die vom selbständigen
schöpferischen Talent untrennbar scheinen, aber er räumt doch anderseits die
eminenten Vorzüge des großen Erzählers unumwunden ein. Was er zu einer
Belletristik sagen würde, die nicht einen dieser Vorzüge besitzt, und indem sie
für ihre gewöhnlichsten Zwecke weder Kunst noch Feinheit der Motivirung,
noch irgendwelche Motivirung überhaupt aufwendet, sich doch höchste Bedeutuug
zuspricht, das läßt sich leicht erraten, und die folgenden Bünde der „Tage¬
bücher" können garnicht verfehlen, einige höchst schätzbare Beiträge zur Kritik
dessen zu bringen, was heutzutage für Poesie ausgegeben und auch für Poesie
genossen wird.

Wir würden kein Ende finden, wollten wir anfangen, auf alle zum Teil
grundverschiednen Einzelheiten des reichen Inhaltes hinzuweisen. Die kleine
Zahl Empfänglicher, die wir in diesem Falle voraussetzen dürfen, werden
sich die Lektüre des vorliegenden Buches ja schwerlich entgehen lassen. Die
Schärfe der Voraussicht und Vorempfindung des Dichters in allen Zeitfragen,
welche wirklich allgemeine Probleme umfassen, wird ihre Teilnahme nicht minder
in Anspruch nehmen als die künstlerische Seite seines Naturells und Seelenlebens.
In einer Zeit, in welcher der Liberalismus nach französischem Muster fast aus¬
schließlich die politische Formfrage betonte, spürte der Dichter, daß sich die
soziale Frage zu dem finstern Gewölk zusammenballte, durch welches wir jetzt
hindurchschreiten müssen. „Der Pauperismus ist doch eine ganz furchtbare
Frage. Auf der einen Seite hat jeder, den die Erde trägt, ein Recht darauf,
daß sie ihn auch ernähre; auf der andern würde eine allgemeine Gütergemein¬
schaft unendlich viele Motive aufheben, die der insolenten Menschennatur not¬
wendig sind, wenn sie nicht erschlaffen soll" (31. Juli 1843). Auch in bezug
auf andre Momente sah er das Kommende gut genug voraus. „Die Eman¬
zipation der Juden unter den Bedingungen, welche die Juden vorschreiben,
würde im weiteren geschichtlichen Verlaufe zu einer Krisis führen, welche die
Emanzipation der Christen notwendig machte" (20. Mai 1843).


Grenzboten I. 183S. S
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/45>, abgerufen am 21.05.2024.