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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Der N)eg nach Indien.

fallen, und erst am 4. gelang es, die Festung Koschut-Chan-Kala zu besetzen,
womit die Eroberung Merws vollzogen war. Am 22. März wurde das Expe¬
ditionskorps aufgelöst, und die Verwaltung des Landes begann. Den beteiligten
russischen Truppen wurde durch kaiserlichen Mas die Expedition als Feldzug
angerechnet.

Die Besitznahme Merws bildet den Abschluß der dreißigjährigen Kriegs¬
arbeit, durch welche die beiden wichtigsten Stromgebiete Mittelasiens und die
Persien benachbarten Teile des Turangebietes in russische Hände gebracht worden
sind: auf drei gesicherten Wegen, von denen einer an das Kaspische Meer führt
und zwei die Verbindung mit dem Aralsee herstellen, wird Rußland alle zu¬
künftigen Expeditionen mit Kriegsmaterial versorgen können. Merw bildet
die Südspitze eines Operationsdreiecks, das sich keilförmig gegen Afghanistan
vorschiebt. Die Stadt ist aber auch in handelspolitischer Beziehung ein wich¬
tiger Schlüsselpunkt. Von Buchara, dem Mittelpunkte des Karmvanenhandels
zwischen Indien und Europa, kaun man nnr über Merw nach Mesched ge¬
langen. Mesched aber ist die wichtigste Fabrik- und Handelsstadt des nord¬
östlichen Persiens, von den Zentralpnnkten dieses Landes durch eine ungeheure
Salzwüste getrennt und von altersher den Einflüssen der Beherrscher des be¬
nachbarten Turkestan ausgesetzt. Die frühere englische Staatsleitung hatte die
Wichtigkeit des Platzes wohl erkannt. Unter der schlaffen Politik des Glad-
stoneschen Kabinets blieben die Vorgänge in Zcntralasien weniger beachtet. Von
einer Regierung, die nicht einmal in Äghptcu zu festen Entschlüsse" gelangte,
wo die Ehre der englischen Armee und britisches Kapital engagirt waren, konnte
und kann man nicht erwarten, daß sie in dem entlegenen Grenzgebiet Anglv-
Jndiens Umsicht und Thatkraft entwickelt. Rußland weiß dies und macht sich
den gegenwärtigen Schwächezustand seines Rivalen zunutze. Die vor kurzem
auftauchende Nachricht, daß General Kvmarvw sich zu einem Vormarsch auf
Herat anschicke, konnte für diejenigen Politiker daher nichts überraschendes
haben, welche den bisherigen Vorgängen in Zentralasien mit Aufmerksamkeit
gefolgt waren. Allerdings nehmen die Ereignisse einen schnelleren Gang, als
selbst die chauvinistische Moskaner Presse noch vor einem Jahre annahm. Da¬
mals hieß es, das gegenwärtige Geschlecht werde es wohl kaum erleben, daß
aus der bedeutsamen Okkupation Merws die letzten Konsequenzen gezogen
würden- Jetzt ist durch die Indiskretion eines polnischen Blattes die Thatsache
bekannt, daß ein Expeditionskorps von 35 000 Mann Baku verläßt, um den
afghanischen Grcnzkonslikt zum Austrag zu bringen. In den offiziellen De¬
peschen des Petersburger Kabinets ist natürlich nur von einer Abwehr räube¬
rischer Einfälle afghanischer Stämme die Rede. Aber das ist der bekannte
Vorwand für alle außereuropäischen Annexionsgelüste. Diese afghanischen
Räuber habe" eine auffallende Ähnlichkeit mit den tunesischen Krnmirs nud deu
albanesischen Hammeldieben. Trotz aller beruhigenden Zusicherungen, welche


Der N)eg nach Indien.

fallen, und erst am 4. gelang es, die Festung Koschut-Chan-Kala zu besetzen,
womit die Eroberung Merws vollzogen war. Am 22. März wurde das Expe¬
ditionskorps aufgelöst, und die Verwaltung des Landes begann. Den beteiligten
russischen Truppen wurde durch kaiserlichen Mas die Expedition als Feldzug
angerechnet.

Die Besitznahme Merws bildet den Abschluß der dreißigjährigen Kriegs¬
arbeit, durch welche die beiden wichtigsten Stromgebiete Mittelasiens und die
Persien benachbarten Teile des Turangebietes in russische Hände gebracht worden
sind: auf drei gesicherten Wegen, von denen einer an das Kaspische Meer führt
und zwei die Verbindung mit dem Aralsee herstellen, wird Rußland alle zu¬
künftigen Expeditionen mit Kriegsmaterial versorgen können. Merw bildet
die Südspitze eines Operationsdreiecks, das sich keilförmig gegen Afghanistan
vorschiebt. Die Stadt ist aber auch in handelspolitischer Beziehung ein wich¬
tiger Schlüsselpunkt. Von Buchara, dem Mittelpunkte des Karmvanenhandels
zwischen Indien und Europa, kaun man nnr über Merw nach Mesched ge¬
langen. Mesched aber ist die wichtigste Fabrik- und Handelsstadt des nord¬
östlichen Persiens, von den Zentralpnnkten dieses Landes durch eine ungeheure
Salzwüste getrennt und von altersher den Einflüssen der Beherrscher des be¬
nachbarten Turkestan ausgesetzt. Die frühere englische Staatsleitung hatte die
Wichtigkeit des Platzes wohl erkannt. Unter der schlaffen Politik des Glad-
stoneschen Kabinets blieben die Vorgänge in Zcntralasien weniger beachtet. Von
einer Regierung, die nicht einmal in Äghptcu zu festen Entschlüsse» gelangte,
wo die Ehre der englischen Armee und britisches Kapital engagirt waren, konnte
und kann man nicht erwarten, daß sie in dem entlegenen Grenzgebiet Anglv-
Jndiens Umsicht und Thatkraft entwickelt. Rußland weiß dies und macht sich
den gegenwärtigen Schwächezustand seines Rivalen zunutze. Die vor kurzem
auftauchende Nachricht, daß General Kvmarvw sich zu einem Vormarsch auf
Herat anschicke, konnte für diejenigen Politiker daher nichts überraschendes
haben, welche den bisherigen Vorgängen in Zentralasien mit Aufmerksamkeit
gefolgt waren. Allerdings nehmen die Ereignisse einen schnelleren Gang, als
selbst die chauvinistische Moskaner Presse noch vor einem Jahre annahm. Da¬
mals hieß es, das gegenwärtige Geschlecht werde es wohl kaum erleben, daß
aus der bedeutsamen Okkupation Merws die letzten Konsequenzen gezogen
würden- Jetzt ist durch die Indiskretion eines polnischen Blattes die Thatsache
bekannt, daß ein Expeditionskorps von 35 000 Mann Baku verläßt, um den
afghanischen Grcnzkonslikt zum Austrag zu bringen. In den offiziellen De¬
peschen des Petersburger Kabinets ist natürlich nur von einer Abwehr räube¬
rischer Einfälle afghanischer Stämme die Rede. Aber das ist der bekannte
Vorwand für alle außereuropäischen Annexionsgelüste. Diese afghanischen
Räuber habe» eine auffallende Ähnlichkeit mit den tunesischen Krnmirs nud deu
albanesischen Hammeldieben. Trotz aller beruhigenden Zusicherungen, welche


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[0610] Der N)eg nach Indien. fallen, und erst am 4. gelang es, die Festung Koschut-Chan-Kala zu besetzen, womit die Eroberung Merws vollzogen war. Am 22. März wurde das Expe¬ ditionskorps aufgelöst, und die Verwaltung des Landes begann. Den beteiligten russischen Truppen wurde durch kaiserlichen Mas die Expedition als Feldzug angerechnet. Die Besitznahme Merws bildet den Abschluß der dreißigjährigen Kriegs¬ arbeit, durch welche die beiden wichtigsten Stromgebiete Mittelasiens und die Persien benachbarten Teile des Turangebietes in russische Hände gebracht worden sind: auf drei gesicherten Wegen, von denen einer an das Kaspische Meer führt und zwei die Verbindung mit dem Aralsee herstellen, wird Rußland alle zu¬ künftigen Expeditionen mit Kriegsmaterial versorgen können. Merw bildet die Südspitze eines Operationsdreiecks, das sich keilförmig gegen Afghanistan vorschiebt. Die Stadt ist aber auch in handelspolitischer Beziehung ein wich¬ tiger Schlüsselpunkt. Von Buchara, dem Mittelpunkte des Karmvanenhandels zwischen Indien und Europa, kaun man nnr über Merw nach Mesched ge¬ langen. Mesched aber ist die wichtigste Fabrik- und Handelsstadt des nord¬ östlichen Persiens, von den Zentralpnnkten dieses Landes durch eine ungeheure Salzwüste getrennt und von altersher den Einflüssen der Beherrscher des be¬ nachbarten Turkestan ausgesetzt. Die frühere englische Staatsleitung hatte die Wichtigkeit des Platzes wohl erkannt. Unter der schlaffen Politik des Glad- stoneschen Kabinets blieben die Vorgänge in Zcntralasien weniger beachtet. Von einer Regierung, die nicht einmal in Äghptcu zu festen Entschlüsse» gelangte, wo die Ehre der englischen Armee und britisches Kapital engagirt waren, konnte und kann man nicht erwarten, daß sie in dem entlegenen Grenzgebiet Anglv- Jndiens Umsicht und Thatkraft entwickelt. Rußland weiß dies und macht sich den gegenwärtigen Schwächezustand seines Rivalen zunutze. Die vor kurzem auftauchende Nachricht, daß General Kvmarvw sich zu einem Vormarsch auf Herat anschicke, konnte für diejenigen Politiker daher nichts überraschendes haben, welche den bisherigen Vorgängen in Zentralasien mit Aufmerksamkeit gefolgt waren. Allerdings nehmen die Ereignisse einen schnelleren Gang, als selbst die chauvinistische Moskaner Presse noch vor einem Jahre annahm. Da¬ mals hieß es, das gegenwärtige Geschlecht werde es wohl kaum erleben, daß aus der bedeutsamen Okkupation Merws die letzten Konsequenzen gezogen würden- Jetzt ist durch die Indiskretion eines polnischen Blattes die Thatsache bekannt, daß ein Expeditionskorps von 35 000 Mann Baku verläßt, um den afghanischen Grcnzkonslikt zum Austrag zu bringen. In den offiziellen De¬ peschen des Petersburger Kabinets ist natürlich nur von einer Abwehr räube¬ rischer Einfälle afghanischer Stämme die Rede. Aber das ist der bekannte Vorwand für alle außereuropäischen Annexionsgelüste. Diese afghanischen Räuber habe» eine auffallende Ähnlichkeit mit den tunesischen Krnmirs nud deu albanesischen Hammeldieben. Trotz aller beruhigenden Zusicherungen, welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/610>, abgerufen am 05.06.2024.