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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Der !veg nach Indien,

Baron Staat in London abgiebt, kann an der ernstlichen Absicht eines Vor¬
marsches ans Herat füglich nicht gezweifelt werden. Unternehmungslustige
Kosakengenercile pflegen sich nicht ängstlich an den Wortlaut russischer Staats¬
depeschen zu halten. Und sind die Vorposten erst handgemein geworden, so
bleiben diplomatische Unterhandlungen meistens fruchtlos.

Man kann nicht verkennen, daß die militärische Lage Großbritanniens
Nußland zu einem Vordringen in Afghanistan geradezu ermutigen muß. Die
Expedition in Ägypten zieht alle militärischen .Kräfte an sich und fordert sogar
die Verwendung indischer Truppen. Italien ist durch seine Kolonialbestrebungen
am Noten Meer, Frankreich in Tonkin engagirt. Wir legen der jüngsten zwischen
England und Deutschland eingetretenen Spannung, als einer leicht zu besei¬
tigenden Verstimmung, keine größere Bedeutung bei. Aber unsre Beziehungen
zu Großbritannien sind doch nicht derart, daß sie zu einer Intervention in
dem drohenden anglo-russischen Konflikt Anlaß böten. Auch läßt sich nicht er¬
kennen, wie wir in die Lage kommen könnten, ein russisches Vordringen gegen
Afghanistan zu verhindern. Denn selbst wenn die Reichsrcgiernug ihre versöhn¬
lichen Absichten England gegenüber in der noch unerledigten ägyptischen Frage
bethätigen sollte, so wird sich Rußland bei solchen diplomatischen Unterhand¬
lungen nachgiebig zeigen und eventuelle frühere Forderungen fallen lassen,
während gleichzeitig General Kvmarvw schrittweise in Afghanistan vorrückt.
Ganz objektiv betrachtet, hat Deutschland außerdem kein Interesse, Rußland
an der Gewinnung eines Kiistenplatzcs am Persischen oder Indischen Meer zu
hindern. Je mehr der Schiverpunkt des großen Reiches nach Osten verlegt
wird, desto friedlicher werden sich unsre Beziehungen an dem europäischen Grenz¬
gebiete gestalten.

Herat liegt etwa 1^0 englische Meilen von der russischen Grenze entfernt.
Der Weg dorthin führt dnrch wasserreiches, fruchtbares Gebiet. Die bedeu¬
tendere" Terrninschwierigteiten des afghanischen Gcbirgslandes befinden sich
weiter östlich bei Kabul und steigern sich bei den Pässen des Hindukusch.
Südlich nach Kandahar zu siud militärische Operationen durch die Terrain-
fvrmation nicht erheblich beeinträchtigt. Eine leichte Kriegführung aber wird
es nicht sein. Die afghanischen Stämme sind wild, fanatisch und kriegerisch.
Den wichtigsten Vorteil in einem solchen Kampfe zieht Rußland aus dem
Umstände, daß ihm in den kaukasischen und kaspischen Regimentern, vielleicht
mich in den ueuaugewvrbcueu turkmenischen Irregulären ein dem Feinde gleich¬
wertiges Material zu gehste steht, sowie daraus, daß die in Asien komman-
direnden Truppenführer vor den Mitteln einer grausamen und schvuungsloscu
Kampfweise nicht zurückschrecken. Der Emir von Afghanistan hat die englische
Unterstützung erbeten. Dieser Fürst ist in einer traurigen Lage. Wie auch
die Würfel rollen --- der Bundesgenosse so wenig wie der Feind werden
ihm seine Unabhängigkeit in Zukunft gewähren. Die Frage ist mir, ob


Der !veg nach Indien,

Baron Staat in London abgiebt, kann an der ernstlichen Absicht eines Vor¬
marsches ans Herat füglich nicht gezweifelt werden. Unternehmungslustige
Kosakengenercile pflegen sich nicht ängstlich an den Wortlaut russischer Staats¬
depeschen zu halten. Und sind die Vorposten erst handgemein geworden, so
bleiben diplomatische Unterhandlungen meistens fruchtlos.

Man kann nicht verkennen, daß die militärische Lage Großbritanniens
Nußland zu einem Vordringen in Afghanistan geradezu ermutigen muß. Die
Expedition in Ägypten zieht alle militärischen .Kräfte an sich und fordert sogar
die Verwendung indischer Truppen. Italien ist durch seine Kolonialbestrebungen
am Noten Meer, Frankreich in Tonkin engagirt. Wir legen der jüngsten zwischen
England und Deutschland eingetretenen Spannung, als einer leicht zu besei¬
tigenden Verstimmung, keine größere Bedeutung bei. Aber unsre Beziehungen
zu Großbritannien sind doch nicht derart, daß sie zu einer Intervention in
dem drohenden anglo-russischen Konflikt Anlaß böten. Auch läßt sich nicht er¬
kennen, wie wir in die Lage kommen könnten, ein russisches Vordringen gegen
Afghanistan zu verhindern. Denn selbst wenn die Reichsrcgiernug ihre versöhn¬
lichen Absichten England gegenüber in der noch unerledigten ägyptischen Frage
bethätigen sollte, so wird sich Rußland bei solchen diplomatischen Unterhand¬
lungen nachgiebig zeigen und eventuelle frühere Forderungen fallen lassen,
während gleichzeitig General Kvmarvw schrittweise in Afghanistan vorrückt.
Ganz objektiv betrachtet, hat Deutschland außerdem kein Interesse, Rußland
an der Gewinnung eines Kiistenplatzcs am Persischen oder Indischen Meer zu
hindern. Je mehr der Schiverpunkt des großen Reiches nach Osten verlegt
wird, desto friedlicher werden sich unsre Beziehungen an dem europäischen Grenz¬
gebiete gestalten.

Herat liegt etwa 1^0 englische Meilen von der russischen Grenze entfernt.
Der Weg dorthin führt dnrch wasserreiches, fruchtbares Gebiet. Die bedeu¬
tendere« Terrninschwierigteiten des afghanischen Gcbirgslandes befinden sich
weiter östlich bei Kabul und steigern sich bei den Pässen des Hindukusch.
Südlich nach Kandahar zu siud militärische Operationen durch die Terrain-
fvrmation nicht erheblich beeinträchtigt. Eine leichte Kriegführung aber wird
es nicht sein. Die afghanischen Stämme sind wild, fanatisch und kriegerisch.
Den wichtigsten Vorteil in einem solchen Kampfe zieht Rußland aus dem
Umstände, daß ihm in den kaukasischen und kaspischen Regimentern, vielleicht
mich in den ueuaugewvrbcueu turkmenischen Irregulären ein dem Feinde gleich¬
wertiges Material zu gehste steht, sowie daraus, daß die in Asien komman-
direnden Truppenführer vor den Mitteln einer grausamen und schvuungsloscu
Kampfweise nicht zurückschrecken. Der Emir von Afghanistan hat die englische
Unterstützung erbeten. Dieser Fürst ist in einer traurigen Lage. Wie auch
die Würfel rollen —- der Bundesgenosse so wenig wie der Feind werden
ihm seine Unabhängigkeit in Zukunft gewähren. Die Frage ist mir, ob


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[0611] Der !veg nach Indien, Baron Staat in London abgiebt, kann an der ernstlichen Absicht eines Vor¬ marsches ans Herat füglich nicht gezweifelt werden. Unternehmungslustige Kosakengenercile pflegen sich nicht ängstlich an den Wortlaut russischer Staats¬ depeschen zu halten. Und sind die Vorposten erst handgemein geworden, so bleiben diplomatische Unterhandlungen meistens fruchtlos. Man kann nicht verkennen, daß die militärische Lage Großbritanniens Nußland zu einem Vordringen in Afghanistan geradezu ermutigen muß. Die Expedition in Ägypten zieht alle militärischen .Kräfte an sich und fordert sogar die Verwendung indischer Truppen. Italien ist durch seine Kolonialbestrebungen am Noten Meer, Frankreich in Tonkin engagirt. Wir legen der jüngsten zwischen England und Deutschland eingetretenen Spannung, als einer leicht zu besei¬ tigenden Verstimmung, keine größere Bedeutung bei. Aber unsre Beziehungen zu Großbritannien sind doch nicht derart, daß sie zu einer Intervention in dem drohenden anglo-russischen Konflikt Anlaß böten. Auch läßt sich nicht er¬ kennen, wie wir in die Lage kommen könnten, ein russisches Vordringen gegen Afghanistan zu verhindern. Denn selbst wenn die Reichsrcgiernug ihre versöhn¬ lichen Absichten England gegenüber in der noch unerledigten ägyptischen Frage bethätigen sollte, so wird sich Rußland bei solchen diplomatischen Unterhand¬ lungen nachgiebig zeigen und eventuelle frühere Forderungen fallen lassen, während gleichzeitig General Kvmarvw schrittweise in Afghanistan vorrückt. Ganz objektiv betrachtet, hat Deutschland außerdem kein Interesse, Rußland an der Gewinnung eines Kiistenplatzcs am Persischen oder Indischen Meer zu hindern. Je mehr der Schiverpunkt des großen Reiches nach Osten verlegt wird, desto friedlicher werden sich unsre Beziehungen an dem europäischen Grenz¬ gebiete gestalten. Herat liegt etwa 1^0 englische Meilen von der russischen Grenze entfernt. Der Weg dorthin führt dnrch wasserreiches, fruchtbares Gebiet. Die bedeu¬ tendere« Terrninschwierigteiten des afghanischen Gcbirgslandes befinden sich weiter östlich bei Kabul und steigern sich bei den Pässen des Hindukusch. Südlich nach Kandahar zu siud militärische Operationen durch die Terrain- fvrmation nicht erheblich beeinträchtigt. Eine leichte Kriegführung aber wird es nicht sein. Die afghanischen Stämme sind wild, fanatisch und kriegerisch. Den wichtigsten Vorteil in einem solchen Kampfe zieht Rußland aus dem Umstände, daß ihm in den kaukasischen und kaspischen Regimentern, vielleicht mich in den ueuaugewvrbcueu turkmenischen Irregulären ein dem Feinde gleich¬ wertiges Material zu gehste steht, sowie daraus, daß die in Asien komman- direnden Truppenführer vor den Mitteln einer grausamen und schvuungsloscu Kampfweise nicht zurückschrecken. Der Emir von Afghanistan hat die englische Unterstützung erbeten. Dieser Fürst ist in einer traurigen Lage. Wie auch die Würfel rollen —- der Bundesgenosse so wenig wie der Feind werden ihm seine Unabhängigkeit in Zukunft gewähren. Die Frage ist mir, ob

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/611>, abgerufen am 16.05.2024.