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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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gruberschen Muse, "'s is nix Geschenktes, 's liebe Leben, mein Haserl!" --
das ist sein sittliches Gesetz. "Nur mit offenen Augen und rührigen Händen
erringen wir unser Teil an der Welt und machen nur andre an unsre Stelle
rücken, die es da anfassen, wo wir es gelassen, die müssen, wie wir gemußt
haben, da einmal jede Kraft, die wir in uns verspüren, sich zu bethätigen
drängt."

Auf diesen tiefen sittlichen Gedanken ist der "Schandfleck" aufgebaut.

Der "Schandfleck" ist die Leni (Magdalena). Sie gilt als die Tochter
des Bauers Reindorfer in Langcndorf (man hat sich immer Niederösterreich
als Lokal zu denken), -- aber sie ist es in Wahrheit nicht. Sein Weib hat
sich, nachdem sie zwanzig Jahre mit ihm in ungetrübter Ehe gelebt hatte und
selbst schon über die Jahre der Jugendeselei hinaus war, in einem schwachen
Augenblicke dem herumstromernden Müllcrssohn Florian (auch einem "Bänkerl")
hingegeben, und die Leni ist die Frucht dieser Verirrung. "Aber auch der Bauer
hat seine Ehre." Der Reindorfer muß seinen Schimpf vor den Leuten verbeißen
und das Mädchen, welches ihm beim Eintritte des höhern Alters noch ins Haus ge¬
kommen ist, als sein eheliches Kind anerkennen. Es wächst aber zur Freude aller
als ein kreuzbraves Geschöpf heran, schön, klug, tugendhaft, und erwirbt sich
schließlich von seinem unechten Vater mehr Liebe, als dessen echte Kinder es je ver¬
mochten. Der Müllerssohn Florian hat seinerseits unterdes auch das Stromer-
lebcn aufgegeben, nach dem Tode seines Vaters den Besitz der Mühle ange¬
treten und ein ruhiges Familienleben geführt. Da will es das Schicksal, daß
sich sein herangewachsener Sohn Florian in die Leni verliebt, und daß beide
zur Heirat fest entschlossen sind. "Und man kann doch Geschwister nicht zu¬
sammengehen, selbst beim Tier thut das kein gut, der Stamm geht zurück, wie
jeder Züchter weiß, und daher ist wohl dem Menschen die Scheu davor gekommen,
denn was wider den Zweck geht, das schreckt ihn; das hat er aber auch nur
vom Aufmerken und nicht ans sich, denn in allem da rundum ist doch mehr
Vernunft, als wir selber in unser Leben hineinthun können. . . . Viel weiter
als das liebe Vieh hat es der Mensch auch nicht gebracht, nur daß er sich
schämen thut, das hat er voraus. ... Ich wollt', der Mensch müßt' sich lieber
über seine Schuftereien schämen als über seine Schwachheiten, so würde er nicht
so oft ans Scham über seine Schwäche zum Schuft. Der sakermentische Müller
hätte doch auch dazu thun können, daß es nicht dahin kommt, wo sich alle
Fäden bis zum Zerreißen spannen. Und jetzt sitzen alle, die angesponnen und
nicht angesponnen haben, im Netz und können sich anfallen wie Geziefer."
So denkt der Reindorfer und verhindert mit aller Energie die unnatürliche Ver¬
bindung, entdeckt, da er nicht anders kann, der Leni ihre Verwandtschaft zu
ihrem Geliebten, und um allem Gerede ein Ende zu machen, schickt er sie in
die Stadt, wo sie sich das Recht ihrer Existenz durch eigne Arbeit erwerben
soll. Denn nicht wie sie lebt, ist die Schuld, sondern daß sie lebt. Schon


gruberschen Muse, „'s is nix Geschenktes, 's liebe Leben, mein Haserl!" —
das ist sein sittliches Gesetz. „Nur mit offenen Augen und rührigen Händen
erringen wir unser Teil an der Welt und machen nur andre an unsre Stelle
rücken, die es da anfassen, wo wir es gelassen, die müssen, wie wir gemußt
haben, da einmal jede Kraft, die wir in uns verspüren, sich zu bethätigen
drängt."

Auf diesen tiefen sittlichen Gedanken ist der „Schandfleck" aufgebaut.

Der „Schandfleck" ist die Leni (Magdalena). Sie gilt als die Tochter
des Bauers Reindorfer in Langcndorf (man hat sich immer Niederösterreich
als Lokal zu denken), — aber sie ist es in Wahrheit nicht. Sein Weib hat
sich, nachdem sie zwanzig Jahre mit ihm in ungetrübter Ehe gelebt hatte und
selbst schon über die Jahre der Jugendeselei hinaus war, in einem schwachen
Augenblicke dem herumstromernden Müllcrssohn Florian (auch einem „Bänkerl")
hingegeben, und die Leni ist die Frucht dieser Verirrung. „Aber auch der Bauer
hat seine Ehre." Der Reindorfer muß seinen Schimpf vor den Leuten verbeißen
und das Mädchen, welches ihm beim Eintritte des höhern Alters noch ins Haus ge¬
kommen ist, als sein eheliches Kind anerkennen. Es wächst aber zur Freude aller
als ein kreuzbraves Geschöpf heran, schön, klug, tugendhaft, und erwirbt sich
schließlich von seinem unechten Vater mehr Liebe, als dessen echte Kinder es je ver¬
mochten. Der Müllerssohn Florian hat seinerseits unterdes auch das Stromer-
lebcn aufgegeben, nach dem Tode seines Vaters den Besitz der Mühle ange¬
treten und ein ruhiges Familienleben geführt. Da will es das Schicksal, daß
sich sein herangewachsener Sohn Florian in die Leni verliebt, und daß beide
zur Heirat fest entschlossen sind. „Und man kann doch Geschwister nicht zu¬
sammengehen, selbst beim Tier thut das kein gut, der Stamm geht zurück, wie
jeder Züchter weiß, und daher ist wohl dem Menschen die Scheu davor gekommen,
denn was wider den Zweck geht, das schreckt ihn; das hat er aber auch nur
vom Aufmerken und nicht ans sich, denn in allem da rundum ist doch mehr
Vernunft, als wir selber in unser Leben hineinthun können. . . . Viel weiter
als das liebe Vieh hat es der Mensch auch nicht gebracht, nur daß er sich
schämen thut, das hat er voraus. ... Ich wollt', der Mensch müßt' sich lieber
über seine Schuftereien schämen als über seine Schwachheiten, so würde er nicht
so oft ans Scham über seine Schwäche zum Schuft. Der sakermentische Müller
hätte doch auch dazu thun können, daß es nicht dahin kommt, wo sich alle
Fäden bis zum Zerreißen spannen. Und jetzt sitzen alle, die angesponnen und
nicht angesponnen haben, im Netz und können sich anfallen wie Geziefer."
So denkt der Reindorfer und verhindert mit aller Energie die unnatürliche Ver¬
bindung, entdeckt, da er nicht anders kann, der Leni ihre Verwandtschaft zu
ihrem Geliebten, und um allem Gerede ein Ende zu machen, schickt er sie in
die Stadt, wo sie sich das Recht ihrer Existenz durch eigne Arbeit erwerben
soll. Denn nicht wie sie lebt, ist die Schuld, sondern daß sie lebt. Schon


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/97>, abgerufen am 21.05.2024.