Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Pachtungen, die größtenteils noch heute giltig sind. Der Gedankengang der¬
selben beginnt mit folgenden Bemerkungen. Der ungestörte Besitz Indiens ist
die Grundbedingung der englischen Macht, ihn erschüttern, heißt sie tötlich
schwächen, und daß jenes möglich ist, wird von niemand mit Fug bezweifelt
und von Lord Auckland in seiner Kriegserklärung an den Emir Dose Mu¬
hammed ausdrücklich zugestanden. Seitdem hat England seine Stellung in
Indien allerdings bedeutend verstärkt, es hat hier eine beträchtliche Heeresmacht
stehen; gute Wege zu Lande und zu Wasser sind geschaffen, und im Nordwesten
hat man eine Anzahl von Depots zu militärischen Zwecken angelegt. Trotz-
alledem ist England hier verwundbar, und kaun auch Rußland, so lange die
Engländer das Meer beherrschen, Indien nicht für die Dauer erobern, so kann
man der britischen Größe hier doch wesentlich Abbruch thun. Die rechtlose
Stellung und die daraus entsprungene tiefe Erbitterung der indischen gebildeten
Klasse ist Englands gefährlichster Feind und Afghanistan sein bedenklichster
Nachbar. Den Hindus muß Nußland sich als Befreier, den Afghanen als Be¬
schützer ankündigen. Letztere halten sich jetzt nur aus Furcht, nicht aus irgend¬
welcher Neigung, zu England, ja 1837 wandten sie sich förmlich um Schutz
an Rußland. Verharrt England, indem es feine Armeen im Pendschab auf¬
stellt, in der Defensive, so wird ihm das ungeheure Kosten verursachen. Die
Feldzüge nach Afghanistan allein verschlangen 24, die Kriege von 1839 bis
1849 aber 200 Millionen Pfund Sterling. Die indischen Finanzen waren
1840 mit einem Defizit von 2138000 und zehn Jahre später schon mit einem
solchen von 15264484 Pfund Sterling belastet, und doch hatte Großbritannien
1839 nur 17 000, im Jahre 1849 nnr 54000 Mann Soldaten im Felde.
Die bloße Zerrüttung seiner Finanzen wöge für Rußland die Kosten und Ver¬
luste eines Feldzuges auf. Der Kaiser möge von seinem Volke diese Opfer
verlangen; es wird sie bringen.

Rußland war damals zu erschöpft durch den Krieg in der Krim, um auch
in Mittelasien vorgehen zu können. Demungeachtet erhob derselbe anonyme
Staatsmann, der die zweite Denkschrift verfaßt hatte, noch einmal seine Stimme
für den Plan, indem er 1355 dem Kaiser wiederum Vorstellungen machte, die
sich zunächst gegen die Politiker richteten, welche behaupteten, das Unternehmen
begegne großen Schwierigkeiten, es werde sehr viel Geld und Menschen ver¬
schlingen, laufe Gefahr, gleich zu Anfang zu scheitern und verspreche im gün¬
stigsten Falle nur verhältnismäßig geringen Gewinn. Nachdem die Denkschrift
diese Bedeuten mit sachkundiger Darstellung der in Betracht kommenden Dinge
widerlegt hatte, schloß sie mit den Worten: "An erster Stelle ist geboten, sich
in Afghanistan Anhänger zu erwerben und die Sikhs aufzuregen. Das Jahr
1848 hat den Beweis geliefert, daß ein Zusammenwirken der Afghanen und
der Sikhs nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. Sehr viele Truppen wird
England aus seinen indischen Besitzungen nicht an die nordwestliche Grenze vor-


Pachtungen, die größtenteils noch heute giltig sind. Der Gedankengang der¬
selben beginnt mit folgenden Bemerkungen. Der ungestörte Besitz Indiens ist
die Grundbedingung der englischen Macht, ihn erschüttern, heißt sie tötlich
schwächen, und daß jenes möglich ist, wird von niemand mit Fug bezweifelt
und von Lord Auckland in seiner Kriegserklärung an den Emir Dose Mu¬
hammed ausdrücklich zugestanden. Seitdem hat England seine Stellung in
Indien allerdings bedeutend verstärkt, es hat hier eine beträchtliche Heeresmacht
stehen; gute Wege zu Lande und zu Wasser sind geschaffen, und im Nordwesten
hat man eine Anzahl von Depots zu militärischen Zwecken angelegt. Trotz-
alledem ist England hier verwundbar, und kaun auch Rußland, so lange die
Engländer das Meer beherrschen, Indien nicht für die Dauer erobern, so kann
man der britischen Größe hier doch wesentlich Abbruch thun. Die rechtlose
Stellung und die daraus entsprungene tiefe Erbitterung der indischen gebildeten
Klasse ist Englands gefährlichster Feind und Afghanistan sein bedenklichster
Nachbar. Den Hindus muß Nußland sich als Befreier, den Afghanen als Be¬
schützer ankündigen. Letztere halten sich jetzt nur aus Furcht, nicht aus irgend¬
welcher Neigung, zu England, ja 1837 wandten sie sich förmlich um Schutz
an Rußland. Verharrt England, indem es feine Armeen im Pendschab auf¬
stellt, in der Defensive, so wird ihm das ungeheure Kosten verursachen. Die
Feldzüge nach Afghanistan allein verschlangen 24, die Kriege von 1839 bis
1849 aber 200 Millionen Pfund Sterling. Die indischen Finanzen waren
1840 mit einem Defizit von 2138000 und zehn Jahre später schon mit einem
solchen von 15264484 Pfund Sterling belastet, und doch hatte Großbritannien
1839 nur 17 000, im Jahre 1849 nnr 54000 Mann Soldaten im Felde.
Die bloße Zerrüttung seiner Finanzen wöge für Rußland die Kosten und Ver¬
luste eines Feldzuges auf. Der Kaiser möge von seinem Volke diese Opfer
verlangen; es wird sie bringen.

Rußland war damals zu erschöpft durch den Krieg in der Krim, um auch
in Mittelasien vorgehen zu können. Demungeachtet erhob derselbe anonyme
Staatsmann, der die zweite Denkschrift verfaßt hatte, noch einmal seine Stimme
für den Plan, indem er 1355 dem Kaiser wiederum Vorstellungen machte, die
sich zunächst gegen die Politiker richteten, welche behaupteten, das Unternehmen
begegne großen Schwierigkeiten, es werde sehr viel Geld und Menschen ver¬
schlingen, laufe Gefahr, gleich zu Anfang zu scheitern und verspreche im gün¬
stigsten Falle nur verhältnismäßig geringen Gewinn. Nachdem die Denkschrift
diese Bedeuten mit sachkundiger Darstellung der in Betracht kommenden Dinge
widerlegt hatte, schloß sie mit den Worten: „An erster Stelle ist geboten, sich
in Afghanistan Anhänger zu erwerben und die Sikhs aufzuregen. Das Jahr
1848 hat den Beweis geliefert, daß ein Zusammenwirken der Afghanen und
der Sikhs nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. Sehr viele Truppen wird
England aus seinen indischen Besitzungen nicht an die nordwestliche Grenze vor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195504"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_419" prev="#ID_418"> Pachtungen, die größtenteils noch heute giltig sind. Der Gedankengang der¬<lb/>
selben beginnt mit folgenden Bemerkungen. Der ungestörte Besitz Indiens ist<lb/>
die Grundbedingung der englischen Macht, ihn erschüttern, heißt sie tötlich<lb/>
schwächen, und daß jenes möglich ist, wird von niemand mit Fug bezweifelt<lb/>
und von Lord Auckland in seiner Kriegserklärung an den Emir Dose Mu¬<lb/>
hammed ausdrücklich zugestanden. Seitdem hat England seine Stellung in<lb/>
Indien allerdings bedeutend verstärkt, es hat hier eine beträchtliche Heeresmacht<lb/>
stehen; gute Wege zu Lande und zu Wasser sind geschaffen, und im Nordwesten<lb/>
hat man eine Anzahl von Depots zu militärischen Zwecken angelegt. Trotz-<lb/>
alledem ist England hier verwundbar, und kaun auch Rußland, so lange die<lb/>
Engländer das Meer beherrschen, Indien nicht für die Dauer erobern, so kann<lb/>
man der britischen Größe hier doch wesentlich Abbruch thun. Die rechtlose<lb/>
Stellung und die daraus entsprungene tiefe Erbitterung der indischen gebildeten<lb/>
Klasse ist Englands gefährlichster Feind und Afghanistan sein bedenklichster<lb/>
Nachbar. Den Hindus muß Nußland sich als Befreier, den Afghanen als Be¬<lb/>
schützer ankündigen. Letztere halten sich jetzt nur aus Furcht, nicht aus irgend¬<lb/>
welcher Neigung, zu England, ja 1837 wandten sie sich förmlich um Schutz<lb/>
an Rußland. Verharrt England, indem es feine Armeen im Pendschab auf¬<lb/>
stellt, in der Defensive, so wird ihm das ungeheure Kosten verursachen. Die<lb/>
Feldzüge nach Afghanistan allein verschlangen 24, die Kriege von 1839 bis<lb/>
1849 aber 200 Millionen Pfund Sterling. Die indischen Finanzen waren<lb/>
1840 mit einem Defizit von 2138000 und zehn Jahre später schon mit einem<lb/>
solchen von 15264484 Pfund Sterling belastet, und doch hatte Großbritannien<lb/>
1839 nur 17 000, im Jahre 1849 nnr 54000 Mann Soldaten im Felde.<lb/>
Die bloße Zerrüttung seiner Finanzen wöge für Rußland die Kosten und Ver¬<lb/>
luste eines Feldzuges auf. Der Kaiser möge von seinem Volke diese Opfer<lb/>
verlangen; es wird sie bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_420" next="#ID_421"> Rußland war damals zu erschöpft durch den Krieg in der Krim, um auch<lb/>
in Mittelasien vorgehen zu können. Demungeachtet erhob derselbe anonyme<lb/>
Staatsmann, der die zweite Denkschrift verfaßt hatte, noch einmal seine Stimme<lb/>
für den Plan, indem er 1355 dem Kaiser wiederum Vorstellungen machte, die<lb/>
sich zunächst gegen die Politiker richteten, welche behaupteten, das Unternehmen<lb/>
begegne großen Schwierigkeiten, es werde sehr viel Geld und Menschen ver¬<lb/>
schlingen, laufe Gefahr, gleich zu Anfang zu scheitern und verspreche im gün¬<lb/>
stigsten Falle nur verhältnismäßig geringen Gewinn. Nachdem die Denkschrift<lb/>
diese Bedeuten mit sachkundiger Darstellung der in Betracht kommenden Dinge<lb/>
widerlegt hatte, schloß sie mit den Worten: &#x201E;An erster Stelle ist geboten, sich<lb/>
in Afghanistan Anhänger zu erwerben und die Sikhs aufzuregen. Das Jahr<lb/>
1848 hat den Beweis geliefert, daß ein Zusammenwirken der Afghanen und<lb/>
der Sikhs nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. Sehr viele Truppen wird<lb/>
England aus seinen indischen Besitzungen nicht an die nordwestliche Grenze vor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0115] Pachtungen, die größtenteils noch heute giltig sind. Der Gedankengang der¬ selben beginnt mit folgenden Bemerkungen. Der ungestörte Besitz Indiens ist die Grundbedingung der englischen Macht, ihn erschüttern, heißt sie tötlich schwächen, und daß jenes möglich ist, wird von niemand mit Fug bezweifelt und von Lord Auckland in seiner Kriegserklärung an den Emir Dose Mu¬ hammed ausdrücklich zugestanden. Seitdem hat England seine Stellung in Indien allerdings bedeutend verstärkt, es hat hier eine beträchtliche Heeresmacht stehen; gute Wege zu Lande und zu Wasser sind geschaffen, und im Nordwesten hat man eine Anzahl von Depots zu militärischen Zwecken angelegt. Trotz- alledem ist England hier verwundbar, und kaun auch Rußland, so lange die Engländer das Meer beherrschen, Indien nicht für die Dauer erobern, so kann man der britischen Größe hier doch wesentlich Abbruch thun. Die rechtlose Stellung und die daraus entsprungene tiefe Erbitterung der indischen gebildeten Klasse ist Englands gefährlichster Feind und Afghanistan sein bedenklichster Nachbar. Den Hindus muß Nußland sich als Befreier, den Afghanen als Be¬ schützer ankündigen. Letztere halten sich jetzt nur aus Furcht, nicht aus irgend¬ welcher Neigung, zu England, ja 1837 wandten sie sich förmlich um Schutz an Rußland. Verharrt England, indem es feine Armeen im Pendschab auf¬ stellt, in der Defensive, so wird ihm das ungeheure Kosten verursachen. Die Feldzüge nach Afghanistan allein verschlangen 24, die Kriege von 1839 bis 1849 aber 200 Millionen Pfund Sterling. Die indischen Finanzen waren 1840 mit einem Defizit von 2138000 und zehn Jahre später schon mit einem solchen von 15264484 Pfund Sterling belastet, und doch hatte Großbritannien 1839 nur 17 000, im Jahre 1849 nnr 54000 Mann Soldaten im Felde. Die bloße Zerrüttung seiner Finanzen wöge für Rußland die Kosten und Ver¬ luste eines Feldzuges auf. Der Kaiser möge von seinem Volke diese Opfer verlangen; es wird sie bringen. Rußland war damals zu erschöpft durch den Krieg in der Krim, um auch in Mittelasien vorgehen zu können. Demungeachtet erhob derselbe anonyme Staatsmann, der die zweite Denkschrift verfaßt hatte, noch einmal seine Stimme für den Plan, indem er 1355 dem Kaiser wiederum Vorstellungen machte, die sich zunächst gegen die Politiker richteten, welche behaupteten, das Unternehmen begegne großen Schwierigkeiten, es werde sehr viel Geld und Menschen ver¬ schlingen, laufe Gefahr, gleich zu Anfang zu scheitern und verspreche im gün¬ stigsten Falle nur verhältnismäßig geringen Gewinn. Nachdem die Denkschrift diese Bedeuten mit sachkundiger Darstellung der in Betracht kommenden Dinge widerlegt hatte, schloß sie mit den Worten: „An erster Stelle ist geboten, sich in Afghanistan Anhänger zu erwerben und die Sikhs aufzuregen. Das Jahr 1848 hat den Beweis geliefert, daß ein Zusammenwirken der Afghanen und der Sikhs nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. Sehr viele Truppen wird England aus seinen indischen Besitzungen nicht an die nordwestliche Grenze vor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/115
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/115>, abgerufen am 21.05.2024.