Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der ewige Jude.

Aventiure und Minne, die Zwerge, die ganze Szenerie des Untersberges, welche
der Leser im ersten Teile kennen lernte, wieder hervorgeholt. Auch im Theater
wandelt Ahasverus auf und ab; indes alle Komödie spielen, bleibt er sich
immer selbst treu. Zu guterletzt wird in dieser tollen Nacht noch ein Festspiel
aufgeführt: "Der letzte Mensch." Nur zwei Personen hat das Stück: die eine
ist der letzte Mensch, die zweite muß aus dem Kreise der Zuschauer selbst zum
improvisirten Gegenspiel auf die Bühne treten -- Ahasver. Der letzte Mensch
berichtet von der kolossal rapiden Entwicklung, welche die Menschheit in den
zweitausend Jahren seit 1886 durchgemacht hat. Nach der Sozialrevolution,
die einige Menschenalter darauf folgte, kam alles, was in der Menschheit liegt,
zur Entfaltung


An Tugend wie an Scheußlichkeit:
Sinnlose Lüste -- männlichste Entfaltung --
Geldherrschast -- Pöbelzoru -- Vcrkäuflichl'eit --
Hvchherz'ge That -- brutaler Egoismus --
Aufopferung und Massenfanatismus!
Da sah man Dicbsbrnt an Ministcrstellen,
Und Orgien auf dem Tribunal;
Dort Sittenrichter in Bordellen --
Ein Mißbrauch war's von Hoheit und Skandal,
Ein Hexensabbath, wie die Welt
Nie vorher einer ans den Kopf gestellt! --
Ein Rückschlag freilich kam hernach,
Der grausam seinem Zweck entsprach,
Der Riesenstädte von der Erde fegte
Und Völker schweigend zu den Akten legte.
Noch zweimal wiederholte sich das Spiel:
Dann endlich ward's der Menschheit doch zu viel;
Sie kam allmählich in das Klare
Und füllte ihre letzten tausend Jahre
Mit Bessern: aus. Da kam denn die Erfindung
Der Einhcitssprache; dann die Überwindung
Der Schwerkraft; chemisch-reine Bolksernährnng,
Dann das Diabolin --

ein Sprengstoff aus kvnzentrirter Elektrizität, mit dem der Erdball in die Luft
gesprengt werden sollte. Aber die Trümmer hielten doch zusammen, und das
letzte Menscheuhäuflein, das am Leben blieb, hat ein Trünklein zubereitet, mit
dessen Hilfe man in süßen Träumen aus dem Leben scheidet. Der biedere
Ahasver hat Respekt vor diesen Fortschritten und fragt: "So habt ihr also rein
im Schoß der lautersten Glückseligkeit geendet?" Aber der letzte Mensch ruft,
indem er den Spott fahren läßt:


Glückseligkeit? Ein Schall! Glückseligkeit,
Wie wenig kennst du deine Zeit!
Ach, alter Mann! Wir haben wohl gerungen,
Titnnengleich! Die Schöpfung ward bezwungen,

Der ewige Jude.

Aventiure und Minne, die Zwerge, die ganze Szenerie des Untersberges, welche
der Leser im ersten Teile kennen lernte, wieder hervorgeholt. Auch im Theater
wandelt Ahasverus auf und ab; indes alle Komödie spielen, bleibt er sich
immer selbst treu. Zu guterletzt wird in dieser tollen Nacht noch ein Festspiel
aufgeführt: „Der letzte Mensch." Nur zwei Personen hat das Stück: die eine
ist der letzte Mensch, die zweite muß aus dem Kreise der Zuschauer selbst zum
improvisirten Gegenspiel auf die Bühne treten — Ahasver. Der letzte Mensch
berichtet von der kolossal rapiden Entwicklung, welche die Menschheit in den
zweitausend Jahren seit 1886 durchgemacht hat. Nach der Sozialrevolution,
die einige Menschenalter darauf folgte, kam alles, was in der Menschheit liegt,
zur Entfaltung


An Tugend wie an Scheußlichkeit:
Sinnlose Lüste — männlichste Entfaltung —
Geldherrschast — Pöbelzoru — Vcrkäuflichl'eit —
Hvchherz'ge That — brutaler Egoismus —
Aufopferung und Massenfanatismus!
Da sah man Dicbsbrnt an Ministcrstellen,
Und Orgien auf dem Tribunal;
Dort Sittenrichter in Bordellen —
Ein Mißbrauch war's von Hoheit und Skandal,
Ein Hexensabbath, wie die Welt
Nie vorher einer ans den Kopf gestellt! —
Ein Rückschlag freilich kam hernach,
Der grausam seinem Zweck entsprach,
Der Riesenstädte von der Erde fegte
Und Völker schweigend zu den Akten legte.
Noch zweimal wiederholte sich das Spiel:
Dann endlich ward's der Menschheit doch zu viel;
Sie kam allmählich in das Klare
Und füllte ihre letzten tausend Jahre
Mit Bessern: aus. Da kam denn die Erfindung
Der Einhcitssprache; dann die Überwindung
Der Schwerkraft; chemisch-reine Bolksernährnng,
Dann das Diabolin —

ein Sprengstoff aus kvnzentrirter Elektrizität, mit dem der Erdball in die Luft
gesprengt werden sollte. Aber die Trümmer hielten doch zusammen, und das
letzte Menscheuhäuflein, das am Leben blieb, hat ein Trünklein zubereitet, mit
dessen Hilfe man in süßen Träumen aus dem Leben scheidet. Der biedere
Ahasver hat Respekt vor diesen Fortschritten und fragt: „So habt ihr also rein
im Schoß der lautersten Glückseligkeit geendet?" Aber der letzte Mensch ruft,
indem er den Spott fahren läßt:


Glückseligkeit? Ein Schall! Glückseligkeit,
Wie wenig kennst du deine Zeit!
Ach, alter Mann! Wir haben wohl gerungen,
Titnnengleich! Die Schöpfung ward bezwungen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199641"/>
          <fw type="header" place="top"> Der ewige Jude.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1162" prev="#ID_1161" next="#ID_1163"> Aventiure und Minne, die Zwerge, die ganze Szenerie des Untersberges, welche<lb/>
der Leser im ersten Teile kennen lernte, wieder hervorgeholt. Auch im Theater<lb/>
wandelt Ahasverus auf und ab; indes alle Komödie spielen, bleibt er sich<lb/>
immer selbst treu. Zu guterletzt wird in dieser tollen Nacht noch ein Festspiel<lb/>
aufgeführt: &#x201E;Der letzte Mensch." Nur zwei Personen hat das Stück: die eine<lb/>
ist der letzte Mensch, die zweite muß aus dem Kreise der Zuschauer selbst zum<lb/>
improvisirten Gegenspiel auf die Bühne treten &#x2014; Ahasver. Der letzte Mensch<lb/>
berichtet von der kolossal rapiden Entwicklung, welche die Menschheit in den<lb/>
zweitausend Jahren seit 1886 durchgemacht hat. Nach der Sozialrevolution,<lb/>
die einige Menschenalter darauf folgte, kam alles, was in der Menschheit liegt,<lb/>
zur Entfaltung</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_22" type="poem">
              <l> An Tugend wie an Scheußlichkeit:<lb/>
Sinnlose Lüste &#x2014; männlichste Entfaltung &#x2014;<lb/>
Geldherrschast &#x2014; Pöbelzoru &#x2014; Vcrkäuflichl'eit &#x2014;<lb/>
Hvchherz'ge That &#x2014; brutaler Egoismus &#x2014;<lb/>
Aufopferung und Massenfanatismus!<lb/>
Da sah man Dicbsbrnt an Ministcrstellen,<lb/>
Und Orgien auf dem Tribunal;<lb/>
Dort Sittenrichter in Bordellen &#x2014;<lb/>
Ein Mißbrauch war's von Hoheit und Skandal,<lb/>
Ein Hexensabbath, wie die Welt<lb/>
Nie vorher einer ans den Kopf gestellt! &#x2014;<lb/>
Ein Rückschlag freilich kam hernach,<lb/>
Der grausam seinem Zweck entsprach,<lb/>
Der Riesenstädte von der Erde fegte<lb/>
Und Völker schweigend zu den Akten legte.<lb/>
Noch zweimal wiederholte sich das Spiel:<lb/>
Dann endlich ward's der Menschheit doch zu viel;<lb/>
Sie kam allmählich in das Klare<lb/>
Und füllte ihre letzten tausend Jahre<lb/>
Mit Bessern: aus.  Da kam denn die Erfindung<lb/>
Der Einhcitssprache; dann die Überwindung<lb/>
Der Schwerkraft; chemisch-reine Bolksernährnng,<lb/>
Dann das Diabolin &#x2014;</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1163" prev="#ID_1162" next="#ID_1164"> ein Sprengstoff aus kvnzentrirter Elektrizität, mit dem der Erdball in die Luft<lb/>
gesprengt werden sollte. Aber die Trümmer hielten doch zusammen, und das<lb/>
letzte Menscheuhäuflein, das am Leben blieb, hat ein Trünklein zubereitet, mit<lb/>
dessen Hilfe man in süßen Träumen aus dem Leben scheidet. Der biedere<lb/>
Ahasver hat Respekt vor diesen Fortschritten und fragt: &#x201E;So habt ihr also rein<lb/>
im Schoß der lautersten Glückseligkeit geendet?" Aber der letzte Mensch ruft,<lb/>
indem er den Spott fahren läßt:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_23" type="poem">
              <l> Glückseligkeit? Ein Schall! Glückseligkeit,<lb/>
Wie wenig kennst du deine Zeit!<lb/>
Ach, alter Mann! Wir haben wohl gerungen,<lb/>
Titnnengleich! Die Schöpfung ward bezwungen,</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] Der ewige Jude. Aventiure und Minne, die Zwerge, die ganze Szenerie des Untersberges, welche der Leser im ersten Teile kennen lernte, wieder hervorgeholt. Auch im Theater wandelt Ahasverus auf und ab; indes alle Komödie spielen, bleibt er sich immer selbst treu. Zu guterletzt wird in dieser tollen Nacht noch ein Festspiel aufgeführt: „Der letzte Mensch." Nur zwei Personen hat das Stück: die eine ist der letzte Mensch, die zweite muß aus dem Kreise der Zuschauer selbst zum improvisirten Gegenspiel auf die Bühne treten — Ahasver. Der letzte Mensch berichtet von der kolossal rapiden Entwicklung, welche die Menschheit in den zweitausend Jahren seit 1886 durchgemacht hat. Nach der Sozialrevolution, die einige Menschenalter darauf folgte, kam alles, was in der Menschheit liegt, zur Entfaltung An Tugend wie an Scheußlichkeit: Sinnlose Lüste — männlichste Entfaltung — Geldherrschast — Pöbelzoru — Vcrkäuflichl'eit — Hvchherz'ge That — brutaler Egoismus — Aufopferung und Massenfanatismus! Da sah man Dicbsbrnt an Ministcrstellen, Und Orgien auf dem Tribunal; Dort Sittenrichter in Bordellen — Ein Mißbrauch war's von Hoheit und Skandal, Ein Hexensabbath, wie die Welt Nie vorher einer ans den Kopf gestellt! — Ein Rückschlag freilich kam hernach, Der grausam seinem Zweck entsprach, Der Riesenstädte von der Erde fegte Und Völker schweigend zu den Akten legte. Noch zweimal wiederholte sich das Spiel: Dann endlich ward's der Menschheit doch zu viel; Sie kam allmählich in das Klare Und füllte ihre letzten tausend Jahre Mit Bessern: aus. Da kam denn die Erfindung Der Einhcitssprache; dann die Überwindung Der Schwerkraft; chemisch-reine Bolksernährnng, Dann das Diabolin — ein Sprengstoff aus kvnzentrirter Elektrizität, mit dem der Erdball in die Luft gesprengt werden sollte. Aber die Trümmer hielten doch zusammen, und das letzte Menscheuhäuflein, das am Leben blieb, hat ein Trünklein zubereitet, mit dessen Hilfe man in süßen Träumen aus dem Leben scheidet. Der biedere Ahasver hat Respekt vor diesen Fortschritten und fragt: „So habt ihr also rein im Schoß der lautersten Glückseligkeit geendet?" Aber der letzte Mensch ruft, indem er den Spott fahren läßt: Glückseligkeit? Ein Schall! Glückseligkeit, Wie wenig kennst du deine Zeit! Ach, alter Mann! Wir haben wohl gerungen, Titnnengleich! Die Schöpfung ward bezwungen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/287>, abgerufen am 31.10.2024.