Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Als der Großvater die Großmutter nahm.

Dichtern für das Volk nehmen wieder die aus den drei studentischen Dichter¬
schulen hervorgegangenen Sänger nebst ihren Freunden eine so hervorragende
Stelle ein, daß wir ganz überrascht sind. Die Leipziger, die Hallischen und
die Göttinger Dichter beherrschen gleichsam das Gebiet der Herd-, Schul- und
Gesellschaftspoesie, an sie schließen sich ganz naturgemäß die schwäbischen Dichter
an. Gellert, Lichtwer, Pfeffel, Gleim, Voß, Hölty, Matthisson, Claudius, Bürger
sind unbestritten und dauernd die Lieblinge von Alt und Jung. Das ist nicht
zufällig. Die meisten von ihnen, besonders die Leipziger und Göttinger, ge¬
hörten von Hause aus dem sittsamen, bildsamen und strebsamen Kleinbürgertum?
an, wanden sich zeitlebens durch enge Verhältnisse hindurch und erhoben sich
über dieselben mit demütigem Frohsinn. Sie standen mit dem Volke in un¬
mittelbarer Berührung, schon als Studenten, dann als Pfarrer oder Gerichts¬
beamte, die meisten von ihnen waren von einer rührenden Güte und Reinheit
des Herzens, echte Kinder bis zum Silberhaare. So Gellert, Voß, Claudius.
Kein Wunder, wenn sie viele Generationen als zuverlässige Führer und Freunde
begleiteten. Unter den Führern und Freunden giebt es aber auch eine Menge
Dichternamen, die in der Literaturgeschichte garnicht oder sehr nebenher genannt
werden. Wer kennt und nennt heute noch Götter, Friedrich Voigt, Ultzen,
Gallisch, Starke, Münster und wie sie alle heißen, die ein oder einige Liedchen
hinterlassen haben, welche ihr romantisch-wehmütiger Liebesschmerz oder ihre kecke
Lebenslust zu unverwüstlichen Lcibliedern des Volkes gemacht haben. Wir stehen
hier dicht an der Wiege des Volksliedes. Noch ein Schritt, und der Name ist
vergessen; einsam, ohne Legitimation, ohne Familienmerkmal wandelt das Lied
seinen Weg durch die Herzen der Menschen. Wirklich findet sich in unserm
Liederbuche eine Anzahl von Gedichten, bei denen der Dichtcrname verloren
gegangen ist. Es sind Kunstdichtungen, die zu Volksliedern geworden sind, und
verwundert fragen wir uns, woher denn das bekannte: Guter Mond, du gehst
so stille, oder: Als ich noch im Flügelkleidc eigentlich stammen. Die Etikette
ist abgefallen und nicht wieder zu finden.

Wie werden solche Lieder Eigentum des Volkes? Unser Liederbuch giebt
auch hierüber Fingerzeige, welche die Richtung im großen und ganzen andeuten.*)
Zunächst übernimmt die Schule das Amt des Rhapsoden. Viele Fabeln, Er¬
zählungen, Gedichtchen mit ausgesprochen erzieherischer Tendenz gehen aus der
Schule in die Familie und von Geschlecht zu Geschlecht über. So wurde
den Fabeln Hagedorns, Gellerts, Lichtwers, Gleims, Michaelis', Pfeffels ihre
lange Lebensdauer gesichert, so kamen auch zur Geltung: Helmuth war ein
Friedensstörer, Luischen war ein wildes Kind, Üb immer Treu und Redlichkeit,
Hübsch ordentlich, hübsch ordentlich und andre. Nur vou wenigen solcher "Kinder-



*) Sehr schätzenswert sind in dieser wie auch in mancher andern Beziehung die am
Ende des Buches angefügte" gründlichen literaturgeschichtlichen Anmerkungen.
Als der Großvater die Großmutter nahm.

Dichtern für das Volk nehmen wieder die aus den drei studentischen Dichter¬
schulen hervorgegangenen Sänger nebst ihren Freunden eine so hervorragende
Stelle ein, daß wir ganz überrascht sind. Die Leipziger, die Hallischen und
die Göttinger Dichter beherrschen gleichsam das Gebiet der Herd-, Schul- und
Gesellschaftspoesie, an sie schließen sich ganz naturgemäß die schwäbischen Dichter
an. Gellert, Lichtwer, Pfeffel, Gleim, Voß, Hölty, Matthisson, Claudius, Bürger
sind unbestritten und dauernd die Lieblinge von Alt und Jung. Das ist nicht
zufällig. Die meisten von ihnen, besonders die Leipziger und Göttinger, ge¬
hörten von Hause aus dem sittsamen, bildsamen und strebsamen Kleinbürgertum?
an, wanden sich zeitlebens durch enge Verhältnisse hindurch und erhoben sich
über dieselben mit demütigem Frohsinn. Sie standen mit dem Volke in un¬
mittelbarer Berührung, schon als Studenten, dann als Pfarrer oder Gerichts¬
beamte, die meisten von ihnen waren von einer rührenden Güte und Reinheit
des Herzens, echte Kinder bis zum Silberhaare. So Gellert, Voß, Claudius.
Kein Wunder, wenn sie viele Generationen als zuverlässige Führer und Freunde
begleiteten. Unter den Führern und Freunden giebt es aber auch eine Menge
Dichternamen, die in der Literaturgeschichte garnicht oder sehr nebenher genannt
werden. Wer kennt und nennt heute noch Götter, Friedrich Voigt, Ultzen,
Gallisch, Starke, Münster und wie sie alle heißen, die ein oder einige Liedchen
hinterlassen haben, welche ihr romantisch-wehmütiger Liebesschmerz oder ihre kecke
Lebenslust zu unverwüstlichen Lcibliedern des Volkes gemacht haben. Wir stehen
hier dicht an der Wiege des Volksliedes. Noch ein Schritt, und der Name ist
vergessen; einsam, ohne Legitimation, ohne Familienmerkmal wandelt das Lied
seinen Weg durch die Herzen der Menschen. Wirklich findet sich in unserm
Liederbuche eine Anzahl von Gedichten, bei denen der Dichtcrname verloren
gegangen ist. Es sind Kunstdichtungen, die zu Volksliedern geworden sind, und
verwundert fragen wir uns, woher denn das bekannte: Guter Mond, du gehst
so stille, oder: Als ich noch im Flügelkleidc eigentlich stammen. Die Etikette
ist abgefallen und nicht wieder zu finden.

Wie werden solche Lieder Eigentum des Volkes? Unser Liederbuch giebt
auch hierüber Fingerzeige, welche die Richtung im großen und ganzen andeuten.*)
Zunächst übernimmt die Schule das Amt des Rhapsoden. Viele Fabeln, Er¬
zählungen, Gedichtchen mit ausgesprochen erzieherischer Tendenz gehen aus der
Schule in die Familie und von Geschlecht zu Geschlecht über. So wurde
den Fabeln Hagedorns, Gellerts, Lichtwers, Gleims, Michaelis', Pfeffels ihre
lange Lebensdauer gesichert, so kamen auch zur Geltung: Helmuth war ein
Friedensstörer, Luischen war ein wildes Kind, Üb immer Treu und Redlichkeit,
Hübsch ordentlich, hübsch ordentlich und andre. Nur vou wenigen solcher „Kinder-



*) Sehr schätzenswert sind in dieser wie auch in mancher andern Beziehung die am
Ende des Buches angefügte» gründlichen literaturgeschichtlichen Anmerkungen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199749"/>
          <fw type="header" place="top"> Als der Großvater die Großmutter nahm.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1602" prev="#ID_1601"> Dichtern für das Volk nehmen wieder die aus den drei studentischen Dichter¬<lb/>
schulen hervorgegangenen Sänger nebst ihren Freunden eine so hervorragende<lb/>
Stelle ein, daß wir ganz überrascht sind. Die Leipziger, die Hallischen und<lb/>
die Göttinger Dichter beherrschen gleichsam das Gebiet der Herd-, Schul- und<lb/>
Gesellschaftspoesie, an sie schließen sich ganz naturgemäß die schwäbischen Dichter<lb/>
an. Gellert, Lichtwer, Pfeffel, Gleim, Voß, Hölty, Matthisson, Claudius, Bürger<lb/>
sind unbestritten und dauernd die Lieblinge von Alt und Jung. Das ist nicht<lb/>
zufällig. Die meisten von ihnen, besonders die Leipziger und Göttinger, ge¬<lb/>
hörten von Hause aus dem sittsamen, bildsamen und strebsamen Kleinbürgertum?<lb/>
an, wanden sich zeitlebens durch enge Verhältnisse hindurch und erhoben sich<lb/>
über dieselben mit demütigem Frohsinn. Sie standen mit dem Volke in un¬<lb/>
mittelbarer Berührung, schon als Studenten, dann als Pfarrer oder Gerichts¬<lb/>
beamte, die meisten von ihnen waren von einer rührenden Güte und Reinheit<lb/>
des Herzens, echte Kinder bis zum Silberhaare. So Gellert, Voß, Claudius.<lb/>
Kein Wunder, wenn sie viele Generationen als zuverlässige Führer und Freunde<lb/>
begleiteten. Unter den Führern und Freunden giebt es aber auch eine Menge<lb/>
Dichternamen, die in der Literaturgeschichte garnicht oder sehr nebenher genannt<lb/>
werden. Wer kennt und nennt heute noch Götter, Friedrich Voigt, Ultzen,<lb/>
Gallisch, Starke, Münster und wie sie alle heißen, die ein oder einige Liedchen<lb/>
hinterlassen haben, welche ihr romantisch-wehmütiger Liebesschmerz oder ihre kecke<lb/>
Lebenslust zu unverwüstlichen Lcibliedern des Volkes gemacht haben. Wir stehen<lb/>
hier dicht an der Wiege des Volksliedes. Noch ein Schritt, und der Name ist<lb/>
vergessen; einsam, ohne Legitimation, ohne Familienmerkmal wandelt das Lied<lb/>
seinen Weg durch die Herzen der Menschen. Wirklich findet sich in unserm<lb/>
Liederbuche eine Anzahl von Gedichten, bei denen der Dichtcrname verloren<lb/>
gegangen ist. Es sind Kunstdichtungen, die zu Volksliedern geworden sind, und<lb/>
verwundert fragen wir uns, woher denn das bekannte: Guter Mond, du gehst<lb/>
so stille, oder: Als ich noch im Flügelkleidc eigentlich stammen. Die Etikette<lb/>
ist abgefallen und nicht wieder zu finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1603" next="#ID_1604"> Wie werden solche Lieder Eigentum des Volkes? Unser Liederbuch giebt<lb/>
auch hierüber Fingerzeige, welche die Richtung im großen und ganzen andeuten.*)<lb/>
Zunächst übernimmt die Schule das Amt des Rhapsoden. Viele Fabeln, Er¬<lb/>
zählungen, Gedichtchen mit ausgesprochen erzieherischer Tendenz gehen aus der<lb/>
Schule in die Familie und von Geschlecht zu Geschlecht über. So wurde<lb/>
den Fabeln Hagedorns, Gellerts, Lichtwers, Gleims, Michaelis', Pfeffels ihre<lb/>
lange Lebensdauer gesichert, so kamen auch zur Geltung: Helmuth war ein<lb/>
Friedensstörer, Luischen war ein wildes Kind, Üb immer Treu und Redlichkeit,<lb/>
Hübsch ordentlich, hübsch ordentlich und andre. Nur vou wenigen solcher &#x201E;Kinder-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_35" place="foot"> *) Sehr schätzenswert sind in dieser wie auch in mancher andern Beziehung die am<lb/>
Ende des Buches angefügte» gründlichen literaturgeschichtlichen Anmerkungen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0395] Als der Großvater die Großmutter nahm. Dichtern für das Volk nehmen wieder die aus den drei studentischen Dichter¬ schulen hervorgegangenen Sänger nebst ihren Freunden eine so hervorragende Stelle ein, daß wir ganz überrascht sind. Die Leipziger, die Hallischen und die Göttinger Dichter beherrschen gleichsam das Gebiet der Herd-, Schul- und Gesellschaftspoesie, an sie schließen sich ganz naturgemäß die schwäbischen Dichter an. Gellert, Lichtwer, Pfeffel, Gleim, Voß, Hölty, Matthisson, Claudius, Bürger sind unbestritten und dauernd die Lieblinge von Alt und Jung. Das ist nicht zufällig. Die meisten von ihnen, besonders die Leipziger und Göttinger, ge¬ hörten von Hause aus dem sittsamen, bildsamen und strebsamen Kleinbürgertum? an, wanden sich zeitlebens durch enge Verhältnisse hindurch und erhoben sich über dieselben mit demütigem Frohsinn. Sie standen mit dem Volke in un¬ mittelbarer Berührung, schon als Studenten, dann als Pfarrer oder Gerichts¬ beamte, die meisten von ihnen waren von einer rührenden Güte und Reinheit des Herzens, echte Kinder bis zum Silberhaare. So Gellert, Voß, Claudius. Kein Wunder, wenn sie viele Generationen als zuverlässige Führer und Freunde begleiteten. Unter den Führern und Freunden giebt es aber auch eine Menge Dichternamen, die in der Literaturgeschichte garnicht oder sehr nebenher genannt werden. Wer kennt und nennt heute noch Götter, Friedrich Voigt, Ultzen, Gallisch, Starke, Münster und wie sie alle heißen, die ein oder einige Liedchen hinterlassen haben, welche ihr romantisch-wehmütiger Liebesschmerz oder ihre kecke Lebenslust zu unverwüstlichen Lcibliedern des Volkes gemacht haben. Wir stehen hier dicht an der Wiege des Volksliedes. Noch ein Schritt, und der Name ist vergessen; einsam, ohne Legitimation, ohne Familienmerkmal wandelt das Lied seinen Weg durch die Herzen der Menschen. Wirklich findet sich in unserm Liederbuche eine Anzahl von Gedichten, bei denen der Dichtcrname verloren gegangen ist. Es sind Kunstdichtungen, die zu Volksliedern geworden sind, und verwundert fragen wir uns, woher denn das bekannte: Guter Mond, du gehst so stille, oder: Als ich noch im Flügelkleidc eigentlich stammen. Die Etikette ist abgefallen und nicht wieder zu finden. Wie werden solche Lieder Eigentum des Volkes? Unser Liederbuch giebt auch hierüber Fingerzeige, welche die Richtung im großen und ganzen andeuten.*) Zunächst übernimmt die Schule das Amt des Rhapsoden. Viele Fabeln, Er¬ zählungen, Gedichtchen mit ausgesprochen erzieherischer Tendenz gehen aus der Schule in die Familie und von Geschlecht zu Geschlecht über. So wurde den Fabeln Hagedorns, Gellerts, Lichtwers, Gleims, Michaelis', Pfeffels ihre lange Lebensdauer gesichert, so kamen auch zur Geltung: Helmuth war ein Friedensstörer, Luischen war ein wildes Kind, Üb immer Treu und Redlichkeit, Hübsch ordentlich, hübsch ordentlich und andre. Nur vou wenigen solcher „Kinder- *) Sehr schätzenswert sind in dieser wie auch in mancher andern Beziehung die am Ende des Buches angefügte» gründlichen literaturgeschichtlichen Anmerkungen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/395
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/395>, abgerufen am 14.06.2024.