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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die Reihe der sich daran anknüpfenden Betrachtungen ist so lang, und jede
ins Spiel kommende Frage so ernst und schwierig zu beantworten, daß wir uns
für heute mit der Feststellung der Thatsache und der Aufzählung einiger Punkte
begnügen, welche in Gesprächen über das Thema von Beteiligten selbst berührt
worden sind.

Noch vor wenigen Jahren pflegte jede Bemerkung über die Vernichtung
des Handwerkerstandes durch die Großindustrie damit abgefertigt zu werden,
das lasse sich nicht ändern und schade auch nichts; im Gegenteil sei der Tischler,
der Schuhmacher, der Schneider u. s, w,, welcher durch Arbeiten für ein
"Magazin" sein sicheres Brot ohne alles Risiko habe, viel besser daran, als
wenn er für eigne Rechnung arbeitend sich um den Absatz bemühen müsse, in
Abhängigkeit von dem Lieferanten des Materials gerate, mit Nahrungssorgen
zu kämpfen habe ?c. Diese Anschauung ist nicht mehr so allgemein. Die
Wahrnehmung, daß die zu Grunde gegangenen und zu "freien Arbeitern" eines
"Konfektionärs," eines Möbelfabrikanteu oder dergleichen gewordnen Handwerks¬
meister einen besonders gefährlichen Bestandteil der sozialdemokratischen Partei
ausmachen, hat die Einsicht wiederbelebt, daß der Gewerbsmann im Staats¬
organismus ebenso unentbehrlich ist wie der Bauer, und daß es sich furchtbar
rächen müßte, wenn der Staat verblendet genug wäre, unthätig zuzuschauen,
wie Fabrikwesen und Zwischenhandel jenen Stand nach nud nach aufzehren.
Es wäre voreilig, zu erwarten, daß sofort jeder die Konsequenzen dieser Er¬
kenntnis ziehen werde. Der doktrinäre Liberalismus wird sich noch lauge mit
der Danaidenarbeit abquälen, den realen Forderungen ohne Verletzung seiner
Lehrsätze gerecht zu werde", nur zu viele, über allerlei Stimmen verfügende
Existenzen sind dabei interessirt, daß der Ausbreitung von Wucherpflanzen,
welche die Nutzpflanzen ersticken und den Boden aussaugen, keinerlei Hindernis
bereitet werde. Doch wer ehrlich auch gegen sich selbst ist, kann für die Länge
nicht der Entscheidung ausweichen. Wenn das Handwerk sich der übermächtigen
Konkurrenz erwehren soll, müssen ihm die Arme frei gemacht, muß ihm ein
Maß von Gerechtsamen zugestanden werden, um selbst wieder die Bürgschaft für
seine innere Tüchtigkeit übernehmen zu können. Und darin darf man sich nicht
irre machen lassen durch Zeitungsgerede und durch tendenziöse Übertreibung von
Schwierigkeiten und Fehlgriffen, welche bei dein Übergang in einen neuen Zu¬
stand unvermeidlich sind.

Damit hängt die Schulfrage untrennbar zusammen. Es sind die falschen
Freunde des Gewerbes, welche die Heranbildung des Handwerkers ausschließlich
in die Schule verlegen wollen. Gegen deren Bestrebungen muß im Namen des
Handwerks und der Schule Verwahrung eingelegt werden. Die Schule hat
die Werkstattlehre zu ergänzen; ersetzen, überflüssigmachen kann sie diese nicht-
Aber die größte Verkehrtheit ist es, der Überfüllung aller sogenannten höhern
Berufsarten dadurch abhelfen zu wollen, daß man neben die überall das Be-


Die Reihe der sich daran anknüpfenden Betrachtungen ist so lang, und jede
ins Spiel kommende Frage so ernst und schwierig zu beantworten, daß wir uns
für heute mit der Feststellung der Thatsache und der Aufzählung einiger Punkte
begnügen, welche in Gesprächen über das Thema von Beteiligten selbst berührt
worden sind.

Noch vor wenigen Jahren pflegte jede Bemerkung über die Vernichtung
des Handwerkerstandes durch die Großindustrie damit abgefertigt zu werden,
das lasse sich nicht ändern und schade auch nichts; im Gegenteil sei der Tischler,
der Schuhmacher, der Schneider u. s, w,, welcher durch Arbeiten für ein
„Magazin" sein sicheres Brot ohne alles Risiko habe, viel besser daran, als
wenn er für eigne Rechnung arbeitend sich um den Absatz bemühen müsse, in
Abhängigkeit von dem Lieferanten des Materials gerate, mit Nahrungssorgen
zu kämpfen habe ?c. Diese Anschauung ist nicht mehr so allgemein. Die
Wahrnehmung, daß die zu Grunde gegangenen und zu „freien Arbeitern" eines
„Konfektionärs," eines Möbelfabrikanteu oder dergleichen gewordnen Handwerks¬
meister einen besonders gefährlichen Bestandteil der sozialdemokratischen Partei
ausmachen, hat die Einsicht wiederbelebt, daß der Gewerbsmann im Staats¬
organismus ebenso unentbehrlich ist wie der Bauer, und daß es sich furchtbar
rächen müßte, wenn der Staat verblendet genug wäre, unthätig zuzuschauen,
wie Fabrikwesen und Zwischenhandel jenen Stand nach nud nach aufzehren.
Es wäre voreilig, zu erwarten, daß sofort jeder die Konsequenzen dieser Er¬
kenntnis ziehen werde. Der doktrinäre Liberalismus wird sich noch lauge mit
der Danaidenarbeit abquälen, den realen Forderungen ohne Verletzung seiner
Lehrsätze gerecht zu werde», nur zu viele, über allerlei Stimmen verfügende
Existenzen sind dabei interessirt, daß der Ausbreitung von Wucherpflanzen,
welche die Nutzpflanzen ersticken und den Boden aussaugen, keinerlei Hindernis
bereitet werde. Doch wer ehrlich auch gegen sich selbst ist, kann für die Länge
nicht der Entscheidung ausweichen. Wenn das Handwerk sich der übermächtigen
Konkurrenz erwehren soll, müssen ihm die Arme frei gemacht, muß ihm ein
Maß von Gerechtsamen zugestanden werden, um selbst wieder die Bürgschaft für
seine innere Tüchtigkeit übernehmen zu können. Und darin darf man sich nicht
irre machen lassen durch Zeitungsgerede und durch tendenziöse Übertreibung von
Schwierigkeiten und Fehlgriffen, welche bei dein Übergang in einen neuen Zu¬
stand unvermeidlich sind.

Damit hängt die Schulfrage untrennbar zusammen. Es sind die falschen
Freunde des Gewerbes, welche die Heranbildung des Handwerkers ausschließlich
in die Schule verlegen wollen. Gegen deren Bestrebungen muß im Namen des
Handwerks und der Schule Verwahrung eingelegt werden. Die Schule hat
die Werkstattlehre zu ergänzen; ersetzen, überflüssigmachen kann sie diese nicht-
Aber die größte Verkehrtheit ist es, der Überfüllung aller sogenannten höhern
Berufsarten dadurch abhelfen zu wollen, daß man neben die überall das Be-


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[0571] Die Reihe der sich daran anknüpfenden Betrachtungen ist so lang, und jede ins Spiel kommende Frage so ernst und schwierig zu beantworten, daß wir uns für heute mit der Feststellung der Thatsache und der Aufzählung einiger Punkte begnügen, welche in Gesprächen über das Thema von Beteiligten selbst berührt worden sind. Noch vor wenigen Jahren pflegte jede Bemerkung über die Vernichtung des Handwerkerstandes durch die Großindustrie damit abgefertigt zu werden, das lasse sich nicht ändern und schade auch nichts; im Gegenteil sei der Tischler, der Schuhmacher, der Schneider u. s, w,, welcher durch Arbeiten für ein „Magazin" sein sicheres Brot ohne alles Risiko habe, viel besser daran, als wenn er für eigne Rechnung arbeitend sich um den Absatz bemühen müsse, in Abhängigkeit von dem Lieferanten des Materials gerate, mit Nahrungssorgen zu kämpfen habe ?c. Diese Anschauung ist nicht mehr so allgemein. Die Wahrnehmung, daß die zu Grunde gegangenen und zu „freien Arbeitern" eines „Konfektionärs," eines Möbelfabrikanteu oder dergleichen gewordnen Handwerks¬ meister einen besonders gefährlichen Bestandteil der sozialdemokratischen Partei ausmachen, hat die Einsicht wiederbelebt, daß der Gewerbsmann im Staats¬ organismus ebenso unentbehrlich ist wie der Bauer, und daß es sich furchtbar rächen müßte, wenn der Staat verblendet genug wäre, unthätig zuzuschauen, wie Fabrikwesen und Zwischenhandel jenen Stand nach nud nach aufzehren. Es wäre voreilig, zu erwarten, daß sofort jeder die Konsequenzen dieser Er¬ kenntnis ziehen werde. Der doktrinäre Liberalismus wird sich noch lauge mit der Danaidenarbeit abquälen, den realen Forderungen ohne Verletzung seiner Lehrsätze gerecht zu werde», nur zu viele, über allerlei Stimmen verfügende Existenzen sind dabei interessirt, daß der Ausbreitung von Wucherpflanzen, welche die Nutzpflanzen ersticken und den Boden aussaugen, keinerlei Hindernis bereitet werde. Doch wer ehrlich auch gegen sich selbst ist, kann für die Länge nicht der Entscheidung ausweichen. Wenn das Handwerk sich der übermächtigen Konkurrenz erwehren soll, müssen ihm die Arme frei gemacht, muß ihm ein Maß von Gerechtsamen zugestanden werden, um selbst wieder die Bürgschaft für seine innere Tüchtigkeit übernehmen zu können. Und darin darf man sich nicht irre machen lassen durch Zeitungsgerede und durch tendenziöse Übertreibung von Schwierigkeiten und Fehlgriffen, welche bei dein Übergang in einen neuen Zu¬ stand unvermeidlich sind. Damit hängt die Schulfrage untrennbar zusammen. Es sind die falschen Freunde des Gewerbes, welche die Heranbildung des Handwerkers ausschließlich in die Schule verlegen wollen. Gegen deren Bestrebungen muß im Namen des Handwerks und der Schule Verwahrung eingelegt werden. Die Schule hat die Werkstattlehre zu ergänzen; ersetzen, überflüssigmachen kann sie diese nicht- Aber die größte Verkehrtheit ist es, der Überfüllung aller sogenannten höhern Berufsarten dadurch abhelfen zu wollen, daß man neben die überall das Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/571>, abgerufen am 01.11.2024.