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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

werte Opfer bringen wollen und damit der immer drohenderen sozialen Frage
gegenüber ihre Unfähigkeit und Ohnmacht offenkundig dargethan haben, so scheint
sich zur Abwendung der herannahenden Katastrophe kaum ein andrer Ausweg
mehr zu bieten, als daß die Staatsgewalt, wo sie noch so viel Kraft und Ge-
schicklichkeit sich zutraut, mit starker Hand das Steuer selbst ergreift, um der
sozialen Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen und so das Staatsschiff in den
sichern Hafen des sozialen Friedens hinübcrzuretten.

Nach dieser kurzen Analyse der modernen Arbeiterbewegung im allgemeinen
sollen nunmehr die Verhältnisse in Deutschland einer genaueren Betrachtung unter¬
zogen werden.

Sieht man von den ersten Anfängen einer spontanen Arbeiterbewegung zu
Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre ab, welche trotz ihrer
vorübergehenden Bedeutung gleichwohl schon die heutigen Forderungen des
deutschen Arbeiterstandes im Keime enthielt, so dürfte die erste Phase der mo¬
dernen Arbeiterbewegung in Deutschland erst zwei Jahrzehnte später in den so¬
genannten Hirsch-Duuckerschen Gewerkvcrcinen zu deutlicher Erscheinung ge¬
kommen sein. Mit der liberalen Wirtschaftsära aus dem Füllhorn des
Manchcstertums hervorgegangen, sollten diese Vereine als Mittel zum Zwecke
dienen, d. h. die Arbeiter unter die Fahne der Fortschrittspartei schaaren, um
deren politische Zirkel nicht zu stören. So lange die Fortschrittspartei in diesem
Bestreben noch ohne Mitbewerber blieb, glaubte sie die Arbeiter mit dem Köder
der Genossenschaften in Schulze-Delitzsch, welche anfänglich ebenso durch den
Reiz der Neuheit wie durch die Hoffnung auf Erfolg zogen, abfinden zu können.
Als aber Lassalle den Arbeitern die Unzulänglichkeit dieses Hilfsmittels nach¬
wies und der Fortschrittspartei die Maske der Arbeiterfreundlichkeit abriß, auch
die mehr und mehr erstarkende Sozialdemokratie nach offener Lossagung von
jeder politischen Bevormundung deu Arbeiterstand in sogenannten Gewerkschaften
zu organisiren und mittels des inzwischen eingeführten allgemeinen Wahlrechts
zu einer selbständigen politischen Partei heranzubilden begann, da glaubte die
Fortschrittspartei dieser gefährlichen Konkurrenz gegenüber zu wirksameren
Mitteln greifen zu müssen. Sie richtete daher ihre Blicke nach dem Muster-
karte des Manchcstertums, und da sie dort die politische Fühlung zwischen
Whigs und Iriuiv" IInion8 noch immer ungetrübt sah, hoffte sie in der Nach¬
bildung dieser Organisationen das geeignete Mittel gefunden zu haben.

Dieser Versuch konnte umso weniger glücken, als Deutschland weder die
erforderlichen Vorbedingungen bot, noch das Heilmittel selbst unverfälscht zur
Anwendung kam.

Zunächst fanden die Il-ulss Iliüous ihre historische Erklärung neben der
Anknüpfung an die alten Zünfte in der lange Zeit dominirenden Stellung
Englands auf dem Weltmarkte; denn gerade dieses Übergewicht hatte jenen Or¬
ganisationen, deren Hauptziel auf die materielle Hebung der Arbeiterklasse dnrch


Die moderne Arbeiterbewegung.

werte Opfer bringen wollen und damit der immer drohenderen sozialen Frage
gegenüber ihre Unfähigkeit und Ohnmacht offenkundig dargethan haben, so scheint
sich zur Abwendung der herannahenden Katastrophe kaum ein andrer Ausweg
mehr zu bieten, als daß die Staatsgewalt, wo sie noch so viel Kraft und Ge-
schicklichkeit sich zutraut, mit starker Hand das Steuer selbst ergreift, um der
sozialen Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen und so das Staatsschiff in den
sichern Hafen des sozialen Friedens hinübcrzuretten.

Nach dieser kurzen Analyse der modernen Arbeiterbewegung im allgemeinen
sollen nunmehr die Verhältnisse in Deutschland einer genaueren Betrachtung unter¬
zogen werden.

Sieht man von den ersten Anfängen einer spontanen Arbeiterbewegung zu
Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre ab, welche trotz ihrer
vorübergehenden Bedeutung gleichwohl schon die heutigen Forderungen des
deutschen Arbeiterstandes im Keime enthielt, so dürfte die erste Phase der mo¬
dernen Arbeiterbewegung in Deutschland erst zwei Jahrzehnte später in den so¬
genannten Hirsch-Duuckerschen Gewerkvcrcinen zu deutlicher Erscheinung ge¬
kommen sein. Mit der liberalen Wirtschaftsära aus dem Füllhorn des
Manchcstertums hervorgegangen, sollten diese Vereine als Mittel zum Zwecke
dienen, d. h. die Arbeiter unter die Fahne der Fortschrittspartei schaaren, um
deren politische Zirkel nicht zu stören. So lange die Fortschrittspartei in diesem
Bestreben noch ohne Mitbewerber blieb, glaubte sie die Arbeiter mit dem Köder
der Genossenschaften in Schulze-Delitzsch, welche anfänglich ebenso durch den
Reiz der Neuheit wie durch die Hoffnung auf Erfolg zogen, abfinden zu können.
Als aber Lassalle den Arbeitern die Unzulänglichkeit dieses Hilfsmittels nach¬
wies und der Fortschrittspartei die Maske der Arbeiterfreundlichkeit abriß, auch
die mehr und mehr erstarkende Sozialdemokratie nach offener Lossagung von
jeder politischen Bevormundung deu Arbeiterstand in sogenannten Gewerkschaften
zu organisiren und mittels des inzwischen eingeführten allgemeinen Wahlrechts
zu einer selbständigen politischen Partei heranzubilden begann, da glaubte die
Fortschrittspartei dieser gefährlichen Konkurrenz gegenüber zu wirksameren
Mitteln greifen zu müssen. Sie richtete daher ihre Blicke nach dem Muster-
karte des Manchcstertums, und da sie dort die politische Fühlung zwischen
Whigs und Iriuiv« IInion8 noch immer ungetrübt sah, hoffte sie in der Nach¬
bildung dieser Organisationen das geeignete Mittel gefunden zu haben.

Dieser Versuch konnte umso weniger glücken, als Deutschland weder die
erforderlichen Vorbedingungen bot, noch das Heilmittel selbst unverfälscht zur
Anwendung kam.

Zunächst fanden die Il-ulss Iliüous ihre historische Erklärung neben der
Anknüpfung an die alten Zünfte in der lange Zeit dominirenden Stellung
Englands auf dem Weltmarkte; denn gerade dieses Übergewicht hatte jenen Or¬
ganisationen, deren Hauptziel auf die materielle Hebung der Arbeiterklasse dnrch


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[0070] Die moderne Arbeiterbewegung. werte Opfer bringen wollen und damit der immer drohenderen sozialen Frage gegenüber ihre Unfähigkeit und Ohnmacht offenkundig dargethan haben, so scheint sich zur Abwendung der herannahenden Katastrophe kaum ein andrer Ausweg mehr zu bieten, als daß die Staatsgewalt, wo sie noch so viel Kraft und Ge- schicklichkeit sich zutraut, mit starker Hand das Steuer selbst ergreift, um der sozialen Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen und so das Staatsschiff in den sichern Hafen des sozialen Friedens hinübcrzuretten. Nach dieser kurzen Analyse der modernen Arbeiterbewegung im allgemeinen sollen nunmehr die Verhältnisse in Deutschland einer genaueren Betrachtung unter¬ zogen werden. Sieht man von den ersten Anfängen einer spontanen Arbeiterbewegung zu Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre ab, welche trotz ihrer vorübergehenden Bedeutung gleichwohl schon die heutigen Forderungen des deutschen Arbeiterstandes im Keime enthielt, so dürfte die erste Phase der mo¬ dernen Arbeiterbewegung in Deutschland erst zwei Jahrzehnte später in den so¬ genannten Hirsch-Duuckerschen Gewerkvcrcinen zu deutlicher Erscheinung ge¬ kommen sein. Mit der liberalen Wirtschaftsära aus dem Füllhorn des Manchcstertums hervorgegangen, sollten diese Vereine als Mittel zum Zwecke dienen, d. h. die Arbeiter unter die Fahne der Fortschrittspartei schaaren, um deren politische Zirkel nicht zu stören. So lange die Fortschrittspartei in diesem Bestreben noch ohne Mitbewerber blieb, glaubte sie die Arbeiter mit dem Köder der Genossenschaften in Schulze-Delitzsch, welche anfänglich ebenso durch den Reiz der Neuheit wie durch die Hoffnung auf Erfolg zogen, abfinden zu können. Als aber Lassalle den Arbeitern die Unzulänglichkeit dieses Hilfsmittels nach¬ wies und der Fortschrittspartei die Maske der Arbeiterfreundlichkeit abriß, auch die mehr und mehr erstarkende Sozialdemokratie nach offener Lossagung von jeder politischen Bevormundung deu Arbeiterstand in sogenannten Gewerkschaften zu organisiren und mittels des inzwischen eingeführten allgemeinen Wahlrechts zu einer selbständigen politischen Partei heranzubilden begann, da glaubte die Fortschrittspartei dieser gefährlichen Konkurrenz gegenüber zu wirksameren Mitteln greifen zu müssen. Sie richtete daher ihre Blicke nach dem Muster- karte des Manchcstertums, und da sie dort die politische Fühlung zwischen Whigs und Iriuiv« IInion8 noch immer ungetrübt sah, hoffte sie in der Nach¬ bildung dieser Organisationen das geeignete Mittel gefunden zu haben. Dieser Versuch konnte umso weniger glücken, als Deutschland weder die erforderlichen Vorbedingungen bot, noch das Heilmittel selbst unverfälscht zur Anwendung kam. Zunächst fanden die Il-ulss Iliüous ihre historische Erklärung neben der Anknüpfung an die alten Zünfte in der lange Zeit dominirenden Stellung Englands auf dem Weltmarkte; denn gerade dieses Übergewicht hatte jenen Or¬ ganisationen, deren Hauptziel auf die materielle Hebung der Arbeiterklasse dnrch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/70>, abgerufen am 05.06.2024.