Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Die Gelehrten- und Büchersprache wurde völlig lateinisch -- das Deutsche war
um 1600 fast auf Kochbücher und Traumbücher eingeschränkt. Die Einheit des
Volkslebens, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, ja das gegenseitige Ver¬
ständnis zwischen deu lateinisch erzogenen und der großen Masse war auf Ge¬
schlechter hinaus gestört.

So war schon jeder Schwung, jede Kraft des nationalen Charakters an¬
gekränkelt in dem Volke, das, in Herrschende und Beherrschte zerfallen, auch um
seiner gelehrten Schicht keine Führer fand. Das Negierungsshstem der bestän¬
digen Bevormundung, besonders auch in Dingen des Luxus und überhaupt der
Lebensführung, untergrub jede Selbständigkeit, jede männliche Regung, die nur
in einer gewissen Verrohung der Sitten einen Schlupfwinkel finden konnte.
Deren Sitz waren neben den Heeren auch die Universitäten mit dem Pennalis¬
mus und der Liederlichkeit.

Das allmähliche Sinken wurde durch den Druck des dreißigjährigen Krieges,
der die Fortdauer eines deutschen Volkes überhaupt in Frage stellte, zu einem
völligen Zusammenbruch des Volkscharakters. Wie man zweifeln kann, ob die
elenden Neste der Bevölkerung, welche die Greuel einer Verwüstung ohnegleichen
überstanden, das deutsche Volk des Mittelalters fortsetzen konnten, so hat man
noch hundert Jahre später behauptet, der nationale Charakter des deutschen
Volkes bestünde darin, keinen zu haben. Diese Anklage ist leicht genug zu be¬
gründen.

Jedes Selbstvertrauen, jeder männliche Trotz war völlig gebrochen. Die
Fristung des Lebens gegenüber der rohen Gewalt war lange die einzige Sorge
gewesen. Die bange Furchtsamkeit vor allem, was nach größerer Macht aussah,
blieb für die untern Stände des Volkes auf Geschlechter hinaus der vorstechende
Charakterzug. Auch im innern Staatsleben war jedes Rechtsgefühl verschwunden,
nur Geduld und Demut, fast ohne den Wunsch nach bessern Zuständen, ohne
Kritik der Unterdrückung ward fortan geübt. Ein sittliches Bewußtsein, eine
öffentliche Meinung gegenüber den höhern Ständen gab es ebensowenig, als
eine Mannesehre unter denen, welche als gelehrte Stände für die Fortführung
der Staats- und Regierungsgeschäfte notwendig waren. Die Buhlerei um die
Gunst der Einflußreichen und Mächtigen wurde offen als wichtiger getrieben
denn Gelehrsamkeit und Fleiß, und fand auf den Universitäten anerkannte
Gelehrte als Lehrer und Vertreter. Die Abstufung der Titulaturen, die Auf¬
wartungen und Schmeichclbriefe wurden als unerläßliche Dinge zum Fort¬
kommen in der Welt betrachtet, und sie waren es auch. Friedrich Wilhelm I.
fand die richtige Behandlung für diese Art der Bedienteugesinnung, indem er
auf seinen gelehrten Hofnarren Gundling alle Würden häufte.

Die Formen des Staatslebens waren nicht geeignet, dem tiefen Sturze des
nationalen Charakters durch Erziehung des Volkes entgegenzuwirken. Den
Beamten gegenüber war nur Scheu und Furcht am Platze, gemildert durch die


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Die Gelehrten- und Büchersprache wurde völlig lateinisch — das Deutsche war
um 1600 fast auf Kochbücher und Traumbücher eingeschränkt. Die Einheit des
Volkslebens, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, ja das gegenseitige Ver¬
ständnis zwischen deu lateinisch erzogenen und der großen Masse war auf Ge¬
schlechter hinaus gestört.

So war schon jeder Schwung, jede Kraft des nationalen Charakters an¬
gekränkelt in dem Volke, das, in Herrschende und Beherrschte zerfallen, auch um
seiner gelehrten Schicht keine Führer fand. Das Negierungsshstem der bestän¬
digen Bevormundung, besonders auch in Dingen des Luxus und überhaupt der
Lebensführung, untergrub jede Selbständigkeit, jede männliche Regung, die nur
in einer gewissen Verrohung der Sitten einen Schlupfwinkel finden konnte.
Deren Sitz waren neben den Heeren auch die Universitäten mit dem Pennalis¬
mus und der Liederlichkeit.

Das allmähliche Sinken wurde durch den Druck des dreißigjährigen Krieges,
der die Fortdauer eines deutschen Volkes überhaupt in Frage stellte, zu einem
völligen Zusammenbruch des Volkscharakters. Wie man zweifeln kann, ob die
elenden Neste der Bevölkerung, welche die Greuel einer Verwüstung ohnegleichen
überstanden, das deutsche Volk des Mittelalters fortsetzen konnten, so hat man
noch hundert Jahre später behauptet, der nationale Charakter des deutschen
Volkes bestünde darin, keinen zu haben. Diese Anklage ist leicht genug zu be¬
gründen.

Jedes Selbstvertrauen, jeder männliche Trotz war völlig gebrochen. Die
Fristung des Lebens gegenüber der rohen Gewalt war lange die einzige Sorge
gewesen. Die bange Furchtsamkeit vor allem, was nach größerer Macht aussah,
blieb für die untern Stände des Volkes auf Geschlechter hinaus der vorstechende
Charakterzug. Auch im innern Staatsleben war jedes Rechtsgefühl verschwunden,
nur Geduld und Demut, fast ohne den Wunsch nach bessern Zuständen, ohne
Kritik der Unterdrückung ward fortan geübt. Ein sittliches Bewußtsein, eine
öffentliche Meinung gegenüber den höhern Ständen gab es ebensowenig, als
eine Mannesehre unter denen, welche als gelehrte Stände für die Fortführung
der Staats- und Regierungsgeschäfte notwendig waren. Die Buhlerei um die
Gunst der Einflußreichen und Mächtigen wurde offen als wichtiger getrieben
denn Gelehrsamkeit und Fleiß, und fand auf den Universitäten anerkannte
Gelehrte als Lehrer und Vertreter. Die Abstufung der Titulaturen, die Auf¬
wartungen und Schmeichclbriefe wurden als unerläßliche Dinge zum Fort¬
kommen in der Welt betrachtet, und sie waren es auch. Friedrich Wilhelm I.
fand die richtige Behandlung für diese Art der Bedienteugesinnung, indem er
auf seinen gelehrten Hofnarren Gundling alle Würden häufte.

Die Formen des Staatslebens waren nicht geeignet, dem tiefen Sturze des
nationalen Charakters durch Erziehung des Volkes entgegenzuwirken. Den
Beamten gegenüber war nur Scheu und Furcht am Platze, gemildert durch die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0132" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200911"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_438" prev="#ID_437"> Die Gelehrten- und Büchersprache wurde völlig lateinisch &#x2014; das Deutsche war<lb/>
um 1600 fast auf Kochbücher und Traumbücher eingeschränkt. Die Einheit des<lb/>
Volkslebens, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, ja das gegenseitige Ver¬<lb/>
ständnis zwischen deu lateinisch erzogenen und der großen Masse war auf Ge¬<lb/>
schlechter hinaus gestört.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_439"> So war schon jeder Schwung, jede Kraft des nationalen Charakters an¬<lb/>
gekränkelt in dem Volke, das, in Herrschende und Beherrschte zerfallen, auch um<lb/>
seiner gelehrten Schicht keine Führer fand. Das Negierungsshstem der bestän¬<lb/>
digen Bevormundung, besonders auch in Dingen des Luxus und überhaupt der<lb/>
Lebensführung, untergrub jede Selbständigkeit, jede männliche Regung, die nur<lb/>
in einer gewissen Verrohung der Sitten einen Schlupfwinkel finden konnte.<lb/>
Deren Sitz waren neben den Heeren auch die Universitäten mit dem Pennalis¬<lb/>
mus und der Liederlichkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_440"> Das allmähliche Sinken wurde durch den Druck des dreißigjährigen Krieges,<lb/>
der die Fortdauer eines deutschen Volkes überhaupt in Frage stellte, zu einem<lb/>
völligen Zusammenbruch des Volkscharakters. Wie man zweifeln kann, ob die<lb/>
elenden Neste der Bevölkerung, welche die Greuel einer Verwüstung ohnegleichen<lb/>
überstanden, das deutsche Volk des Mittelalters fortsetzen konnten, so hat man<lb/>
noch hundert Jahre später behauptet, der nationale Charakter des deutschen<lb/>
Volkes bestünde darin, keinen zu haben. Diese Anklage ist leicht genug zu be¬<lb/>
gründen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_441"> Jedes Selbstvertrauen, jeder männliche Trotz war völlig gebrochen. Die<lb/>
Fristung des Lebens gegenüber der rohen Gewalt war lange die einzige Sorge<lb/>
gewesen. Die bange Furchtsamkeit vor allem, was nach größerer Macht aussah,<lb/>
blieb für die untern Stände des Volkes auf Geschlechter hinaus der vorstechende<lb/>
Charakterzug. Auch im innern Staatsleben war jedes Rechtsgefühl verschwunden,<lb/>
nur Geduld und Demut, fast ohne den Wunsch nach bessern Zuständen, ohne<lb/>
Kritik der Unterdrückung ward fortan geübt. Ein sittliches Bewußtsein, eine<lb/>
öffentliche Meinung gegenüber den höhern Ständen gab es ebensowenig, als<lb/>
eine Mannesehre unter denen, welche als gelehrte Stände für die Fortführung<lb/>
der Staats- und Regierungsgeschäfte notwendig waren. Die Buhlerei um die<lb/>
Gunst der Einflußreichen und Mächtigen wurde offen als wichtiger getrieben<lb/>
denn Gelehrsamkeit und Fleiß, und fand auf den Universitäten anerkannte<lb/>
Gelehrte als Lehrer und Vertreter. Die Abstufung der Titulaturen, die Auf¬<lb/>
wartungen und Schmeichclbriefe wurden als unerläßliche Dinge zum Fort¬<lb/>
kommen in der Welt betrachtet, und sie waren es auch. Friedrich Wilhelm I.<lb/>
fand die richtige Behandlung für diese Art der Bedienteugesinnung, indem er<lb/>
auf seinen gelehrten Hofnarren Gundling alle Würden häufte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_442" next="#ID_443"> Die Formen des Staatslebens waren nicht geeignet, dem tiefen Sturze des<lb/>
nationalen Charakters durch Erziehung des Volkes entgegenzuwirken. Den<lb/>
Beamten gegenüber war nur Scheu und Furcht am Platze, gemildert durch die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0132] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. Die Gelehrten- und Büchersprache wurde völlig lateinisch — das Deutsche war um 1600 fast auf Kochbücher und Traumbücher eingeschränkt. Die Einheit des Volkslebens, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, ja das gegenseitige Ver¬ ständnis zwischen deu lateinisch erzogenen und der großen Masse war auf Ge¬ schlechter hinaus gestört. So war schon jeder Schwung, jede Kraft des nationalen Charakters an¬ gekränkelt in dem Volke, das, in Herrschende und Beherrschte zerfallen, auch um seiner gelehrten Schicht keine Führer fand. Das Negierungsshstem der bestän¬ digen Bevormundung, besonders auch in Dingen des Luxus und überhaupt der Lebensführung, untergrub jede Selbständigkeit, jede männliche Regung, die nur in einer gewissen Verrohung der Sitten einen Schlupfwinkel finden konnte. Deren Sitz waren neben den Heeren auch die Universitäten mit dem Pennalis¬ mus und der Liederlichkeit. Das allmähliche Sinken wurde durch den Druck des dreißigjährigen Krieges, der die Fortdauer eines deutschen Volkes überhaupt in Frage stellte, zu einem völligen Zusammenbruch des Volkscharakters. Wie man zweifeln kann, ob die elenden Neste der Bevölkerung, welche die Greuel einer Verwüstung ohnegleichen überstanden, das deutsche Volk des Mittelalters fortsetzen konnten, so hat man noch hundert Jahre später behauptet, der nationale Charakter des deutschen Volkes bestünde darin, keinen zu haben. Diese Anklage ist leicht genug zu be¬ gründen. Jedes Selbstvertrauen, jeder männliche Trotz war völlig gebrochen. Die Fristung des Lebens gegenüber der rohen Gewalt war lange die einzige Sorge gewesen. Die bange Furchtsamkeit vor allem, was nach größerer Macht aussah, blieb für die untern Stände des Volkes auf Geschlechter hinaus der vorstechende Charakterzug. Auch im innern Staatsleben war jedes Rechtsgefühl verschwunden, nur Geduld und Demut, fast ohne den Wunsch nach bessern Zuständen, ohne Kritik der Unterdrückung ward fortan geübt. Ein sittliches Bewußtsein, eine öffentliche Meinung gegenüber den höhern Ständen gab es ebensowenig, als eine Mannesehre unter denen, welche als gelehrte Stände für die Fortführung der Staats- und Regierungsgeschäfte notwendig waren. Die Buhlerei um die Gunst der Einflußreichen und Mächtigen wurde offen als wichtiger getrieben denn Gelehrsamkeit und Fleiß, und fand auf den Universitäten anerkannte Gelehrte als Lehrer und Vertreter. Die Abstufung der Titulaturen, die Auf¬ wartungen und Schmeichclbriefe wurden als unerläßliche Dinge zum Fort¬ kommen in der Welt betrachtet, und sie waren es auch. Friedrich Wilhelm I. fand die richtige Behandlung für diese Art der Bedienteugesinnung, indem er auf seinen gelehrten Hofnarren Gundling alle Würden häufte. Die Formen des Staatslebens waren nicht geeignet, dem tiefen Sturze des nationalen Charakters durch Erziehung des Volkes entgegenzuwirken. Den Beamten gegenüber war nur Scheu und Furcht am Platze, gemildert durch die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/132
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/132>, abgerufen am 14.05.2024.