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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

sittlicher Erneuerung immer noch in den Tiefen des Volkslebens fortfloß, das
in der Zeit allgemeiner Erregung und Teilnahme sich gleichsam ans sich selbst
besonnen hatte. Der widrige Gang der Ereignisse, die Niederschlagung der volks¬
tümlichen Bewegungen, besonders der Bauernkriege, hatte die erweckten Kräfte
doch nicht ganz einschläfern können.

Aber der gemeinsame nationale Aufschwung, der bis ins ferne Sieben¬
bürgen und Esthland alles deutsche Land ergriffen hatte, verlor sich in der
staatsrechtlichen Befugnis der Landesfürsten und Obrigkeiten, die Religion der
Unterthanen zu bestimmen, welche bald die Nation in lauter getrennte Gebiets¬
teile zerriß. Der eifrig geschürte Religionshaß und die gegenseitige Überhebung
wegen des geläuterten Glaubens entfremdete die nächsten Nachbarn. Die alte
Absonderungssucht im deutschen Volkscharakter fand sich je länger je besser in
diesen Schnitzeln des Vaterlandes zurecht und zog einen kurzsichtigen, eigen¬
sinnigen Partikularismus groß, der so gut wie im dreißigjährigen Kriege auch
gegenüber Napoleon eine nationale Gemeinsamkeit unmöglich gemacht hat.

An dieser eigensinnigen Absperrung der kleinen und kleinsten Staatsgebiete
des heiligen römischen Reiches, die ihre berechtigten und unberechtigten Eigen¬
tümlichkeiten in idyllischer Zufriedenheit pflegten, nahmen denn auch die Städte
gern Teil, deren Rückgang seit der Veränderung der Handelswege immer deut¬
licher wurde. Die Nachteile ihrer eigennützigen Verfolgung von Sonderanliegen
hatten schon zur Zeit ihrer Kraft sich gezeigt, gemeinsame Unternehmungen der
Städtebündnisse waren daran gescheitert, daß keiner länger anthat, als er sich für
seinen Vorteil veranlaßt hielt. Auch die Hanse gab genug Proben geringen
Zusammenhaltes, des Mangels an höhern Zielen weitsichtiger Politik. Im
Innern der Städte erstarrten das Zunftwesen und die Verteilung von Recht
und Pflichten, da sich jeder weigerte, etwas zu opfern; die Rücksicht auf Geld
und Handel entschied, und auch im Reiche suchte jede Stadt nur eine möglichst
geringe Steuereinschätzung zu erreichen. So entstand der spießbürgerliche Zug
im deutschen Charakter, die Enge des Gesichtskreises, die Scheu vor weitaus-
seheuden Unternehmungen, welche etwas kosten könnten, die Furchtsamkeit und
Ängstlichkeit, welche sich gern mit dem Namen der Bedachtsamkeit und Besonnen-
heit schmückt. Es ist das Gegenteil der Eigenschaften des englischen Volks¬
charakters, der mittlerweile die Welt durch englische Kolonien gewonnen hat,
ohne auf die Negierung zu warten. Nur der Luxus und die Freude an Prunk,
besonders bei Taufen, Hochzeiten oder Leichenbegängnissen, blieb den deutschen
Städtern, um das erworbene Geld zu zeigen, nachdem der Erwerb durch den
veränderten Gang des Welthandels schon schwer geschädigt war.

Zur weiter" Schwächung unsers Volkscharakters kam noch im sechzehnten
Jahrhundert die Trennung der Gelehrsamkeit vom Volksleben. Luther, der selbst
mehr und mehr Latein schrieb, förderte die gelehrte Bildung der Geistlichen
seiner Lehre, welche dadurch die Weihe der katholischen Kirche zu ersetzen suchten.


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

sittlicher Erneuerung immer noch in den Tiefen des Volkslebens fortfloß, das
in der Zeit allgemeiner Erregung und Teilnahme sich gleichsam ans sich selbst
besonnen hatte. Der widrige Gang der Ereignisse, die Niederschlagung der volks¬
tümlichen Bewegungen, besonders der Bauernkriege, hatte die erweckten Kräfte
doch nicht ganz einschläfern können.

Aber der gemeinsame nationale Aufschwung, der bis ins ferne Sieben¬
bürgen und Esthland alles deutsche Land ergriffen hatte, verlor sich in der
staatsrechtlichen Befugnis der Landesfürsten und Obrigkeiten, die Religion der
Unterthanen zu bestimmen, welche bald die Nation in lauter getrennte Gebiets¬
teile zerriß. Der eifrig geschürte Religionshaß und die gegenseitige Überhebung
wegen des geläuterten Glaubens entfremdete die nächsten Nachbarn. Die alte
Absonderungssucht im deutschen Volkscharakter fand sich je länger je besser in
diesen Schnitzeln des Vaterlandes zurecht und zog einen kurzsichtigen, eigen¬
sinnigen Partikularismus groß, der so gut wie im dreißigjährigen Kriege auch
gegenüber Napoleon eine nationale Gemeinsamkeit unmöglich gemacht hat.

An dieser eigensinnigen Absperrung der kleinen und kleinsten Staatsgebiete
des heiligen römischen Reiches, die ihre berechtigten und unberechtigten Eigen¬
tümlichkeiten in idyllischer Zufriedenheit pflegten, nahmen denn auch die Städte
gern Teil, deren Rückgang seit der Veränderung der Handelswege immer deut¬
licher wurde. Die Nachteile ihrer eigennützigen Verfolgung von Sonderanliegen
hatten schon zur Zeit ihrer Kraft sich gezeigt, gemeinsame Unternehmungen der
Städtebündnisse waren daran gescheitert, daß keiner länger anthat, als er sich für
seinen Vorteil veranlaßt hielt. Auch die Hanse gab genug Proben geringen
Zusammenhaltes, des Mangels an höhern Zielen weitsichtiger Politik. Im
Innern der Städte erstarrten das Zunftwesen und die Verteilung von Recht
und Pflichten, da sich jeder weigerte, etwas zu opfern; die Rücksicht auf Geld
und Handel entschied, und auch im Reiche suchte jede Stadt nur eine möglichst
geringe Steuereinschätzung zu erreichen. So entstand der spießbürgerliche Zug
im deutschen Charakter, die Enge des Gesichtskreises, die Scheu vor weitaus-
seheuden Unternehmungen, welche etwas kosten könnten, die Furchtsamkeit und
Ängstlichkeit, welche sich gern mit dem Namen der Bedachtsamkeit und Besonnen-
heit schmückt. Es ist das Gegenteil der Eigenschaften des englischen Volks¬
charakters, der mittlerweile die Welt durch englische Kolonien gewonnen hat,
ohne auf die Negierung zu warten. Nur der Luxus und die Freude an Prunk,
besonders bei Taufen, Hochzeiten oder Leichenbegängnissen, blieb den deutschen
Städtern, um das erworbene Geld zu zeigen, nachdem der Erwerb durch den
veränderten Gang des Welthandels schon schwer geschädigt war.

Zur weiter» Schwächung unsers Volkscharakters kam noch im sechzehnten
Jahrhundert die Trennung der Gelehrsamkeit vom Volksleben. Luther, der selbst
mehr und mehr Latein schrieb, förderte die gelehrte Bildung der Geistlichen
seiner Lehre, welche dadurch die Weihe der katholischen Kirche zu ersetzen suchten.


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[0131] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. sittlicher Erneuerung immer noch in den Tiefen des Volkslebens fortfloß, das in der Zeit allgemeiner Erregung und Teilnahme sich gleichsam ans sich selbst besonnen hatte. Der widrige Gang der Ereignisse, die Niederschlagung der volks¬ tümlichen Bewegungen, besonders der Bauernkriege, hatte die erweckten Kräfte doch nicht ganz einschläfern können. Aber der gemeinsame nationale Aufschwung, der bis ins ferne Sieben¬ bürgen und Esthland alles deutsche Land ergriffen hatte, verlor sich in der staatsrechtlichen Befugnis der Landesfürsten und Obrigkeiten, die Religion der Unterthanen zu bestimmen, welche bald die Nation in lauter getrennte Gebiets¬ teile zerriß. Der eifrig geschürte Religionshaß und die gegenseitige Überhebung wegen des geläuterten Glaubens entfremdete die nächsten Nachbarn. Die alte Absonderungssucht im deutschen Volkscharakter fand sich je länger je besser in diesen Schnitzeln des Vaterlandes zurecht und zog einen kurzsichtigen, eigen¬ sinnigen Partikularismus groß, der so gut wie im dreißigjährigen Kriege auch gegenüber Napoleon eine nationale Gemeinsamkeit unmöglich gemacht hat. An dieser eigensinnigen Absperrung der kleinen und kleinsten Staatsgebiete des heiligen römischen Reiches, die ihre berechtigten und unberechtigten Eigen¬ tümlichkeiten in idyllischer Zufriedenheit pflegten, nahmen denn auch die Städte gern Teil, deren Rückgang seit der Veränderung der Handelswege immer deut¬ licher wurde. Die Nachteile ihrer eigennützigen Verfolgung von Sonderanliegen hatten schon zur Zeit ihrer Kraft sich gezeigt, gemeinsame Unternehmungen der Städtebündnisse waren daran gescheitert, daß keiner länger anthat, als er sich für seinen Vorteil veranlaßt hielt. Auch die Hanse gab genug Proben geringen Zusammenhaltes, des Mangels an höhern Zielen weitsichtiger Politik. Im Innern der Städte erstarrten das Zunftwesen und die Verteilung von Recht und Pflichten, da sich jeder weigerte, etwas zu opfern; die Rücksicht auf Geld und Handel entschied, und auch im Reiche suchte jede Stadt nur eine möglichst geringe Steuereinschätzung zu erreichen. So entstand der spießbürgerliche Zug im deutschen Charakter, die Enge des Gesichtskreises, die Scheu vor weitaus- seheuden Unternehmungen, welche etwas kosten könnten, die Furchtsamkeit und Ängstlichkeit, welche sich gern mit dem Namen der Bedachtsamkeit und Besonnen- heit schmückt. Es ist das Gegenteil der Eigenschaften des englischen Volks¬ charakters, der mittlerweile die Welt durch englische Kolonien gewonnen hat, ohne auf die Negierung zu warten. Nur der Luxus und die Freude an Prunk, besonders bei Taufen, Hochzeiten oder Leichenbegängnissen, blieb den deutschen Städtern, um das erworbene Geld zu zeigen, nachdem der Erwerb durch den veränderten Gang des Welthandels schon schwer geschädigt war. Zur weiter» Schwächung unsers Volkscharakters kam noch im sechzehnten Jahrhundert die Trennung der Gelehrsamkeit vom Volksleben. Luther, der selbst mehr und mehr Latein schrieb, förderte die gelehrte Bildung der Geistlichen seiner Lehre, welche dadurch die Weihe der katholischen Kirche zu ersetzen suchten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/131>, abgerufen am 30.05.2024.