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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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zu weit zu gehen, gerade für den gute" Künstler sehr nahe. Die massenhafte
blödsinnige Nachahmung bemächtigt sich so hastig jeder Erfindung, welche dem
Dichter aufgegangen ist, jeder aus dem vollen geschaffenen Gestalt, und das im
Strome der Überproduktion ertrinkende Publikum weiß in der Regel so wenig,
ans welcher Quelle die interessantesten Situationen und Charaktere eigentlich
stammen, daß es für den besseren Schriftsteller nahe liegt, sich durch jene geist¬
volle Belebung der Schilderung und der Gespräche, welche der äußerlichen Nach¬
ahmung unerreichbar ist, vor Verwechselungen zu schützen. Wir fürchten, daß
eine künftige Zeit den Gewinn, den die Literatur auf diese Weise macht, minder
hoch anschlagen wird, als dies die Gegenwart thut. Inzwischen sind wir zu
sehr Kinder unsrer eigne" Tage, um uns nicht inmitten der Verwilderung, des
brutalen Naturalismus, der konventionellen Wiederholung des tausendmal da¬
gewesenen, an Lebensbildern zu erfreuen, welche aus der Fülle der Erscheinungen
(auch der anmutigen, anziehenden) geschöpft, von der poetischen Frende um der
Mannichfaltigkeit und Eigenart der Erscheinungen bewegt sind. Dies ist bei
Fontanes kleinern Romanen mehr oder minder immer der Fall -- wir begrüßen
sonach auch den neuesten derselben, "Cecile," mit Teilnahme.

Die erste Frage bei einem Romane bleibt: was erzählt er uns? Wir ver¬
lassen mit einem eigentümlichen Paare, dem Obersten a. D. von Se. Arnaud,
einem hohen Fünfziger, und seiner dreißig Jahre jüngeren schönen Gattin, der
Titelheldin, Berlin an einem Sommermorgen und werden nach der bei Ber¬
linern besonders beliebten Sommerfrische, nach Thale ins "Hotel Zehnpfund"
geführt. Das Se. Arncmdsche Paar macht hier bereits am zweiten Tage die
Bekanntschaft eines Herrn von Leslie-Gordon, der früher preußischer Pionier¬
offizier gewesen ist und gegenwärtig als Zivilingcnieur im Dienste eiuer großen
Kabellegungsgesellschaft gleichfalls im Harze einige Erholuugstage sucht. Vom
ersten Augenblicke an fühlt sich Herr von Gordon von der anmutigen und
etwas rätselhaften jungen Frau angezogen er spürt allerdings, daß ihre
ganze Natur auf Huldigung und Pikanterie gestellt ist. "Der Eindruck, den er
von diesem feinsinnlichen Wesen hatte, war aber ein angenehmer, ihm überaus
sympathischer, und eine lebhafte Teilnahme, darein sich etwas von Wehmut
mischte, regte sich plötzlich in seinem Herzen." Der welterfahrene, in der besten
Gesellschaft aufgewachsene junge Mann errät und empfindet in der ersten Stunde
der Begegnung und noch entschiedener bei den Ausflügen, die uach Qued¬
linburg und Altenbrak unternommen werden, daß ein Geheimnis um den
Obersten und seine Frau, namentlich aber um die letztere, schwebt, er schließt
aus gewisse" kleinen Erlebnissen und Eindrücken, daß ein Schatten aus dem
Vorleben Cannes in ihr gegenwärtiges Leben sällt. Die eigentümliche Bildung
und Vornehmheit einerseits, die auffallende Unbildung der schönen Frau ander¬
seits erwecken in ihm das Verlangen, ihre Geschichte kennen zu lernen, und da der
Herr Ingenieur eine Schwester in Schlesien hat und die Vergangenheit der


zu weit zu gehen, gerade für den gute» Künstler sehr nahe. Die massenhafte
blödsinnige Nachahmung bemächtigt sich so hastig jeder Erfindung, welche dem
Dichter aufgegangen ist, jeder aus dem vollen geschaffenen Gestalt, und das im
Strome der Überproduktion ertrinkende Publikum weiß in der Regel so wenig,
ans welcher Quelle die interessantesten Situationen und Charaktere eigentlich
stammen, daß es für den besseren Schriftsteller nahe liegt, sich durch jene geist¬
volle Belebung der Schilderung und der Gespräche, welche der äußerlichen Nach¬
ahmung unerreichbar ist, vor Verwechselungen zu schützen. Wir fürchten, daß
eine künftige Zeit den Gewinn, den die Literatur auf diese Weise macht, minder
hoch anschlagen wird, als dies die Gegenwart thut. Inzwischen sind wir zu
sehr Kinder unsrer eigne» Tage, um uns nicht inmitten der Verwilderung, des
brutalen Naturalismus, der konventionellen Wiederholung des tausendmal da¬
gewesenen, an Lebensbildern zu erfreuen, welche aus der Fülle der Erscheinungen
(auch der anmutigen, anziehenden) geschöpft, von der poetischen Frende um der
Mannichfaltigkeit und Eigenart der Erscheinungen bewegt sind. Dies ist bei
Fontanes kleinern Romanen mehr oder minder immer der Fall — wir begrüßen
sonach auch den neuesten derselben, „Cecile," mit Teilnahme.

Die erste Frage bei einem Romane bleibt: was erzählt er uns? Wir ver¬
lassen mit einem eigentümlichen Paare, dem Obersten a. D. von Se. Arnaud,
einem hohen Fünfziger, und seiner dreißig Jahre jüngeren schönen Gattin, der
Titelheldin, Berlin an einem Sommermorgen und werden nach der bei Ber¬
linern besonders beliebten Sommerfrische, nach Thale ins „Hotel Zehnpfund"
geführt. Das Se. Arncmdsche Paar macht hier bereits am zweiten Tage die
Bekanntschaft eines Herrn von Leslie-Gordon, der früher preußischer Pionier¬
offizier gewesen ist und gegenwärtig als Zivilingcnieur im Dienste eiuer großen
Kabellegungsgesellschaft gleichfalls im Harze einige Erholuugstage sucht. Vom
ersten Augenblicke an fühlt sich Herr von Gordon von der anmutigen und
etwas rätselhaften jungen Frau angezogen er spürt allerdings, daß ihre
ganze Natur auf Huldigung und Pikanterie gestellt ist. „Der Eindruck, den er
von diesem feinsinnlichen Wesen hatte, war aber ein angenehmer, ihm überaus
sympathischer, und eine lebhafte Teilnahme, darein sich etwas von Wehmut
mischte, regte sich plötzlich in seinem Herzen." Der welterfahrene, in der besten
Gesellschaft aufgewachsene junge Mann errät und empfindet in der ersten Stunde
der Begegnung und noch entschiedener bei den Ausflügen, die uach Qued¬
linburg und Altenbrak unternommen werden, daß ein Geheimnis um den
Obersten und seine Frau, namentlich aber um die letztere, schwebt, er schließt
aus gewisse» kleinen Erlebnissen und Eindrücken, daß ein Schatten aus dem
Vorleben Cannes in ihr gegenwärtiges Leben sällt. Die eigentümliche Bildung
und Vornehmheit einerseits, die auffallende Unbildung der schönen Frau ander¬
seits erwecken in ihm das Verlangen, ihre Geschichte kennen zu lernen, und da der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/139>, abgerufen am 14.05.2024.