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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Anarchisten.

gründeten sie eine neue Internationale, die ihre Fäden bis nach Rußland und
Spanien spann. Nachdem Bakunin im Juli 1876 gestorben war, beriefen seine
Anhänger einen Kongreß nach Gent, der auch von den Marxisten mit Einschluß
der von Liebknecht und Bebel geführten Svzinldemokrciten beschickt wurde. Die hier
versuchte Verständigung gelang nicht, und obwohl man sich schließlich zu einer
Resolution einigte, in der beide Parteien sich "der gegenseitigen Achtung
versicherten, die sich Männer schuldeten, welche die Überzeugung ihrer Würde
und das Gefühl ihrer Ehrlichkeit haben," schieden sich von jetzt an die Anar¬
chisten, die Radikalen, welche gar keine Autorität anerkannten und ohne Verzug
zum Angriff auf Staat, Gesellschaft und Eigentum vorzugehen entschlossen
waren, von den Sozialdemokraten, die wenigstens Parteiführer für nötig hielten
und Gewaltanwendung für die Gegenwart als unpraktisch verwarfen, in schär¬
ferer Weise, indes nicht so, daß nicht in der Folge häufig Angehörige des
vergleichsweise gemäßigten Flügels sich dem andern zugewendet und in ihm
eine Rolle gespielt hätten.

Ein Beispiel ist Johann Most/") 1846 zu Augsburg geboren, katholisch
getauft, anfänglich Buchbindergesell, darauf sozialistischer Apostel, erst in der
Schweiz, dann in Wien, wo er infolge einer Brandrede, in welcher er einer
Volksversammlung mit wilden Ausfällen auf die "Bourgeoisie," die "Pfaffen,"
das Militär, die Polizei und die Regierung die Köpfe erhitzt hatte, einen Monat
eingesperrt und bald darauf als Rädelsführer bei einer Volksdemonftrativn
wegen Hochverrat zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt wurde. Ein
Ministerwcchsel, dem eine Amnestie für alle politischen Gefangenen folgte, befreite
ihn, und ohne Verzug begann er seine wühlerische Thätigkeit vou neuem. Darauf¬
hin ausgewiesen, versuchte er sein Treiben in Deutschland fortzusetzen, erst in
Leipzig, dann mit besserem Erfolge in Chemnitz, wo er mit rastlosem Eifer
teils als Redakteur, teils als Redner in Versammlungen der Arbeiter die soziale
Revolution predigte und gegen das Reich hetzte. Erst nach geraumer Zeit, im
September 1872, wurde dem ein Ende gemacht, indem er verhaftet, zu acht
Monaten Gefängnis verurteilt und nach seiner Freilassung ausgewiesen wurde.
Er ging darauf nach Mainz, wo er die "Volksstimme" übernahm, die er
redigirte, bis er im Januar 1874 von seinen Freunden in Chemnitz zum
Reichstagsabgeordneten für diese Stadt gewählt wurde. Als solcher bemühte
er sich vergebens, die Philippiken, die er von der Tribüne loszulassen gedachte,



*) Wir folgen im Nachstehenden der vor kurzem erschienenen Schrift eines anonymen
Verfassers: "Der Anarchismus und seine Träger" (Berlin, Ncufeld und Mehring, 1837), die,
meist aus eignem Verkehr des Verfassers mit Anarchisten und aus wenig bekannten Büchern
und Zeitungen der Partei geschöpft, abgesehen von vielen Wiederholungen, einigen Unklar¬
heiten und gelegentlichen Widersprüchen ein anschauliches Bild von einer Sache giebt, die
wir bisher uur in ihren allgemeinen Umrissen und einigen besonders grellen Einzelheiten
kannten.
Die Anarchisten.

gründeten sie eine neue Internationale, die ihre Fäden bis nach Rußland und
Spanien spann. Nachdem Bakunin im Juli 1876 gestorben war, beriefen seine
Anhänger einen Kongreß nach Gent, der auch von den Marxisten mit Einschluß
der von Liebknecht und Bebel geführten Svzinldemokrciten beschickt wurde. Die hier
versuchte Verständigung gelang nicht, und obwohl man sich schließlich zu einer
Resolution einigte, in der beide Parteien sich „der gegenseitigen Achtung
versicherten, die sich Männer schuldeten, welche die Überzeugung ihrer Würde
und das Gefühl ihrer Ehrlichkeit haben," schieden sich von jetzt an die Anar¬
chisten, die Radikalen, welche gar keine Autorität anerkannten und ohne Verzug
zum Angriff auf Staat, Gesellschaft und Eigentum vorzugehen entschlossen
waren, von den Sozialdemokraten, die wenigstens Parteiführer für nötig hielten
und Gewaltanwendung für die Gegenwart als unpraktisch verwarfen, in schär¬
ferer Weise, indes nicht so, daß nicht in der Folge häufig Angehörige des
vergleichsweise gemäßigten Flügels sich dem andern zugewendet und in ihm
eine Rolle gespielt hätten.

Ein Beispiel ist Johann Most/") 1846 zu Augsburg geboren, katholisch
getauft, anfänglich Buchbindergesell, darauf sozialistischer Apostel, erst in der
Schweiz, dann in Wien, wo er infolge einer Brandrede, in welcher er einer
Volksversammlung mit wilden Ausfällen auf die „Bourgeoisie," die „Pfaffen,"
das Militär, die Polizei und die Regierung die Köpfe erhitzt hatte, einen Monat
eingesperrt und bald darauf als Rädelsführer bei einer Volksdemonftrativn
wegen Hochverrat zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt wurde. Ein
Ministerwcchsel, dem eine Amnestie für alle politischen Gefangenen folgte, befreite
ihn, und ohne Verzug begann er seine wühlerische Thätigkeit vou neuem. Darauf¬
hin ausgewiesen, versuchte er sein Treiben in Deutschland fortzusetzen, erst in
Leipzig, dann mit besserem Erfolge in Chemnitz, wo er mit rastlosem Eifer
teils als Redakteur, teils als Redner in Versammlungen der Arbeiter die soziale
Revolution predigte und gegen das Reich hetzte. Erst nach geraumer Zeit, im
September 1872, wurde dem ein Ende gemacht, indem er verhaftet, zu acht
Monaten Gefängnis verurteilt und nach seiner Freilassung ausgewiesen wurde.
Er ging darauf nach Mainz, wo er die „Volksstimme" übernahm, die er
redigirte, bis er im Januar 1874 von seinen Freunden in Chemnitz zum
Reichstagsabgeordneten für diese Stadt gewählt wurde. Als solcher bemühte
er sich vergebens, die Philippiken, die er von der Tribüne loszulassen gedachte,



*) Wir folgen im Nachstehenden der vor kurzem erschienenen Schrift eines anonymen
Verfassers: „Der Anarchismus und seine Träger" (Berlin, Ncufeld und Mehring, 1837), die,
meist aus eignem Verkehr des Verfassers mit Anarchisten und aus wenig bekannten Büchern
und Zeitungen der Partei geschöpft, abgesehen von vielen Wiederholungen, einigen Unklar¬
heiten und gelegentlichen Widersprüchen ein anschauliches Bild von einer Sache giebt, die
wir bisher uur in ihren allgemeinen Umrissen und einigen besonders grellen Einzelheiten
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[0162] Die Anarchisten. gründeten sie eine neue Internationale, die ihre Fäden bis nach Rußland und Spanien spann. Nachdem Bakunin im Juli 1876 gestorben war, beriefen seine Anhänger einen Kongreß nach Gent, der auch von den Marxisten mit Einschluß der von Liebknecht und Bebel geführten Svzinldemokrciten beschickt wurde. Die hier versuchte Verständigung gelang nicht, und obwohl man sich schließlich zu einer Resolution einigte, in der beide Parteien sich „der gegenseitigen Achtung versicherten, die sich Männer schuldeten, welche die Überzeugung ihrer Würde und das Gefühl ihrer Ehrlichkeit haben," schieden sich von jetzt an die Anar¬ chisten, die Radikalen, welche gar keine Autorität anerkannten und ohne Verzug zum Angriff auf Staat, Gesellschaft und Eigentum vorzugehen entschlossen waren, von den Sozialdemokraten, die wenigstens Parteiführer für nötig hielten und Gewaltanwendung für die Gegenwart als unpraktisch verwarfen, in schär¬ ferer Weise, indes nicht so, daß nicht in der Folge häufig Angehörige des vergleichsweise gemäßigten Flügels sich dem andern zugewendet und in ihm eine Rolle gespielt hätten. Ein Beispiel ist Johann Most/") 1846 zu Augsburg geboren, katholisch getauft, anfänglich Buchbindergesell, darauf sozialistischer Apostel, erst in der Schweiz, dann in Wien, wo er infolge einer Brandrede, in welcher er einer Volksversammlung mit wilden Ausfällen auf die „Bourgeoisie," die „Pfaffen," das Militär, die Polizei und die Regierung die Köpfe erhitzt hatte, einen Monat eingesperrt und bald darauf als Rädelsführer bei einer Volksdemonftrativn wegen Hochverrat zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt wurde. Ein Ministerwcchsel, dem eine Amnestie für alle politischen Gefangenen folgte, befreite ihn, und ohne Verzug begann er seine wühlerische Thätigkeit vou neuem. Darauf¬ hin ausgewiesen, versuchte er sein Treiben in Deutschland fortzusetzen, erst in Leipzig, dann mit besserem Erfolge in Chemnitz, wo er mit rastlosem Eifer teils als Redakteur, teils als Redner in Versammlungen der Arbeiter die soziale Revolution predigte und gegen das Reich hetzte. Erst nach geraumer Zeit, im September 1872, wurde dem ein Ende gemacht, indem er verhaftet, zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und nach seiner Freilassung ausgewiesen wurde. Er ging darauf nach Mainz, wo er die „Volksstimme" übernahm, die er redigirte, bis er im Januar 1874 von seinen Freunden in Chemnitz zum Reichstagsabgeordneten für diese Stadt gewählt wurde. Als solcher bemühte er sich vergebens, die Philippiken, die er von der Tribüne loszulassen gedachte, *) Wir folgen im Nachstehenden der vor kurzem erschienenen Schrift eines anonymen Verfassers: „Der Anarchismus und seine Träger" (Berlin, Ncufeld und Mehring, 1837), die, meist aus eignem Verkehr des Verfassers mit Anarchisten und aus wenig bekannten Büchern und Zeitungen der Partei geschöpft, abgesehen von vielen Wiederholungen, einigen Unklar¬ heiten und gelegentlichen Widersprüchen ein anschauliches Bild von einer Sache giebt, die wir bisher uur in ihren allgemeinen Umrissen und einigen besonders grellen Einzelheiten kannten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/162>, abgerufen am 13.05.2024.