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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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In der Hochstellung der Arbeit und der Pflichterfüllung als der Grund¬
lage des Lebens haben die im vorigen Jahrhundert so streng geschiednen Stande
des Volkes einen einigenden Mittelpunkt gefunden. Man darf wohl sagen, daß
damit die Bürgerlichkeit wieder wie im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert
den gemeinsamen nationalen Zug der Deutschen bildet. Der nationalen Er¬
hebung, welche die Fremdherrschaft beseitigte, ging auf geistigem und materiellem
Gebiet eine durch ihr Ziel geweihte Arbeit zur Aufrichtung der Nation zunächst
im preußischen Staate vorher, wo schon Friedrich der Große das Beispiel an¬
gespannter Pflichterfüllung auf dem Thron gegeben, wo Kant den kategorischen
Imperativ "du sollst" mit allem Nachdruck seinen vielfach verweichlichten Zeit¬
genossen eingeschärft hatte. Mit der Gründung der Universität Berlin wurde
die Gelehrsamkeit und Wissenschaft in den Dienst der nationalen Hebung gestellt,
die Romantiker zogen sich aus der unbefriedigender Gegenwart in die Herrlich¬
keit des Mittelalters zurück; die Dichtung selbst stieg aus den idealen Höhen
und arbeitete auf die Wiederbelebung des deutschen Geistes hin. So bildete
sich durch die Verschmelzung materieller und geistiger Arbeit ein Gebiet des
Mittelstandes, dessen Ansichten und Forderungen sich immer stärker als öffent¬
liche Meinung geltend machten und langsam, aber sicher die Scheidung der
Stände auf dem Gebiete der sittlichen Lebensführung überwand. Fortan war
die Arbeit nicht mehr dadurch entwürdigt, daß sie den untern, ihre Frucht den
obern Ständen zum Genuß gehörte. Der Segen der Arbeit ist dem deutschen
Volke seitdem in reichem Maße zu Teil geworden auf allen Gebieten seiner
Thätigkeit.

Zu den hoffnungsreichen Zügen unsers Volkscharakters gehört auch das
Erwachen und Erstarken des Gemeingeistes, das Abstreifen der Engherzigkeit
und Kurzsichtigkeit, des idyllischen Einspinnens in den kleinsten Kreis der Sorgen.
Der Deutsche besinnt sich wieder darauf, daß sein Volk in der Welt schon etwas
bedeutet habe und wieder bedeuten könne. Dazu bedürfte es der Vereinigung
der Einzelnen. Von dem vorigen Jahrhundert unterschied sie die Öffentlichkeit
und die Bestimmtheit der Ziele. Denn an geheimen Verbindungen zu recht
allgemeinen unfaßbarer Zwecken hatte es jenen nicht gefehlt. Noch die erste
allgemeine Vereinigung war von unklarer Schwärmerei, von Ungewißheit über
Zweck und Mittel nicht frei; es ist bezeichnend, daß sie da entstand, wo die
Gelehrsamkeit am meisten mit dem Bürgcrtume sich berührt: alle Angehörigen
deutscher Universitäten sollten eine Körperschaft bilden. Die Turner, Sänger
und Schützen Deutschlands fanden eine ideale Gemeinschaft auf ihren großen
Festen. Allmählich ward der Trieb zur Vereinigung praktischer; er fand greif¬
bare Ziele und errang Erfolge, die den Mut und die Schwungkraft steigerten.
Der Verein zur Gründung einer deutschen Flotte hat viel Spott erfahren, der
Gustav-Adolf-Verein zur Unterstützung deutscher Protestanten im Auslande hat
ein Vorbild gegeben, wie auch viele Einzelne nationale Erfolge erringen können;


In der Hochstellung der Arbeit und der Pflichterfüllung als der Grund¬
lage des Lebens haben die im vorigen Jahrhundert so streng geschiednen Stande
des Volkes einen einigenden Mittelpunkt gefunden. Man darf wohl sagen, daß
damit die Bürgerlichkeit wieder wie im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert
den gemeinsamen nationalen Zug der Deutschen bildet. Der nationalen Er¬
hebung, welche die Fremdherrschaft beseitigte, ging auf geistigem und materiellem
Gebiet eine durch ihr Ziel geweihte Arbeit zur Aufrichtung der Nation zunächst
im preußischen Staate vorher, wo schon Friedrich der Große das Beispiel an¬
gespannter Pflichterfüllung auf dem Thron gegeben, wo Kant den kategorischen
Imperativ „du sollst" mit allem Nachdruck seinen vielfach verweichlichten Zeit¬
genossen eingeschärft hatte. Mit der Gründung der Universität Berlin wurde
die Gelehrsamkeit und Wissenschaft in den Dienst der nationalen Hebung gestellt,
die Romantiker zogen sich aus der unbefriedigender Gegenwart in die Herrlich¬
keit des Mittelalters zurück; die Dichtung selbst stieg aus den idealen Höhen
und arbeitete auf die Wiederbelebung des deutschen Geistes hin. So bildete
sich durch die Verschmelzung materieller und geistiger Arbeit ein Gebiet des
Mittelstandes, dessen Ansichten und Forderungen sich immer stärker als öffent¬
liche Meinung geltend machten und langsam, aber sicher die Scheidung der
Stände auf dem Gebiete der sittlichen Lebensführung überwand. Fortan war
die Arbeit nicht mehr dadurch entwürdigt, daß sie den untern, ihre Frucht den
obern Ständen zum Genuß gehörte. Der Segen der Arbeit ist dem deutschen
Volke seitdem in reichem Maße zu Teil geworden auf allen Gebieten seiner
Thätigkeit.

Zu den hoffnungsreichen Zügen unsers Volkscharakters gehört auch das
Erwachen und Erstarken des Gemeingeistes, das Abstreifen der Engherzigkeit
und Kurzsichtigkeit, des idyllischen Einspinnens in den kleinsten Kreis der Sorgen.
Der Deutsche besinnt sich wieder darauf, daß sein Volk in der Welt schon etwas
bedeutet habe und wieder bedeuten könne. Dazu bedürfte es der Vereinigung
der Einzelnen. Von dem vorigen Jahrhundert unterschied sie die Öffentlichkeit
und die Bestimmtheit der Ziele. Denn an geheimen Verbindungen zu recht
allgemeinen unfaßbarer Zwecken hatte es jenen nicht gefehlt. Noch die erste
allgemeine Vereinigung war von unklarer Schwärmerei, von Ungewißheit über
Zweck und Mittel nicht frei; es ist bezeichnend, daß sie da entstand, wo die
Gelehrsamkeit am meisten mit dem Bürgcrtume sich berührt: alle Angehörigen
deutscher Universitäten sollten eine Körperschaft bilden. Die Turner, Sänger
und Schützen Deutschlands fanden eine ideale Gemeinschaft auf ihren großen
Festen. Allmählich ward der Trieb zur Vereinigung praktischer; er fand greif¬
bare Ziele und errang Erfolge, die den Mut und die Schwungkraft steigerten.
Der Verein zur Gründung einer deutschen Flotte hat viel Spott erfahren, der
Gustav-Adolf-Verein zur Unterstützung deutscher Protestanten im Auslande hat
ein Vorbild gegeben, wie auch viele Einzelne nationale Erfolge erringen können;


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[0176] In der Hochstellung der Arbeit und der Pflichterfüllung als der Grund¬ lage des Lebens haben die im vorigen Jahrhundert so streng geschiednen Stande des Volkes einen einigenden Mittelpunkt gefunden. Man darf wohl sagen, daß damit die Bürgerlichkeit wieder wie im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert den gemeinsamen nationalen Zug der Deutschen bildet. Der nationalen Er¬ hebung, welche die Fremdherrschaft beseitigte, ging auf geistigem und materiellem Gebiet eine durch ihr Ziel geweihte Arbeit zur Aufrichtung der Nation zunächst im preußischen Staate vorher, wo schon Friedrich der Große das Beispiel an¬ gespannter Pflichterfüllung auf dem Thron gegeben, wo Kant den kategorischen Imperativ „du sollst" mit allem Nachdruck seinen vielfach verweichlichten Zeit¬ genossen eingeschärft hatte. Mit der Gründung der Universität Berlin wurde die Gelehrsamkeit und Wissenschaft in den Dienst der nationalen Hebung gestellt, die Romantiker zogen sich aus der unbefriedigender Gegenwart in die Herrlich¬ keit des Mittelalters zurück; die Dichtung selbst stieg aus den idealen Höhen und arbeitete auf die Wiederbelebung des deutschen Geistes hin. So bildete sich durch die Verschmelzung materieller und geistiger Arbeit ein Gebiet des Mittelstandes, dessen Ansichten und Forderungen sich immer stärker als öffent¬ liche Meinung geltend machten und langsam, aber sicher die Scheidung der Stände auf dem Gebiete der sittlichen Lebensführung überwand. Fortan war die Arbeit nicht mehr dadurch entwürdigt, daß sie den untern, ihre Frucht den obern Ständen zum Genuß gehörte. Der Segen der Arbeit ist dem deutschen Volke seitdem in reichem Maße zu Teil geworden auf allen Gebieten seiner Thätigkeit. Zu den hoffnungsreichen Zügen unsers Volkscharakters gehört auch das Erwachen und Erstarken des Gemeingeistes, das Abstreifen der Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit, des idyllischen Einspinnens in den kleinsten Kreis der Sorgen. Der Deutsche besinnt sich wieder darauf, daß sein Volk in der Welt schon etwas bedeutet habe und wieder bedeuten könne. Dazu bedürfte es der Vereinigung der Einzelnen. Von dem vorigen Jahrhundert unterschied sie die Öffentlichkeit und die Bestimmtheit der Ziele. Denn an geheimen Verbindungen zu recht allgemeinen unfaßbarer Zwecken hatte es jenen nicht gefehlt. Noch die erste allgemeine Vereinigung war von unklarer Schwärmerei, von Ungewißheit über Zweck und Mittel nicht frei; es ist bezeichnend, daß sie da entstand, wo die Gelehrsamkeit am meisten mit dem Bürgcrtume sich berührt: alle Angehörigen deutscher Universitäten sollten eine Körperschaft bilden. Die Turner, Sänger und Schützen Deutschlands fanden eine ideale Gemeinschaft auf ihren großen Festen. Allmählich ward der Trieb zur Vereinigung praktischer; er fand greif¬ bare Ziele und errang Erfolge, die den Mut und die Schwungkraft steigerten. Der Verein zur Gründung einer deutschen Flotte hat viel Spott erfahren, der Gustav-Adolf-Verein zur Unterstützung deutscher Protestanten im Auslande hat ein Vorbild gegeben, wie auch viele Einzelne nationale Erfolge erringen können;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/176>, abgerufen am 30.05.2024.