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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Dichterfreundinnen.

Bann ihres außerordentlichen Wesens zu zwingen, freilich immer nur auf kurze
Zeit. Sie hat nichts Großes geschaffen, aber mehr als einmal ist sie in ihrer
eigentümlichen Erscheinung, gleichsam in ganzer Figur, als poetische Gestalt in
die Literatur aufgenommen worden. Ein widriges Geschick wirft seine schwersten
Geschosse nach ihr, der Heimatlosen, unermeßlich ist ihr Unglück, aber größer
noch ihre Kraft, zu dulden; sie kämpft um das Dasein, bis sie endlich erblindet,
ermattet in einem Winkel des Königsschlosses in Berlin eine letzte Zuflucht
findet. Und allen Martern zum Trotz erreicht sie das höchste Alter!

Ihr Bild im Schlosse zu Waltcrshciusen, von dem Palleske seinem Werke
"Charlotte" eine Photographie beigegeben hat, zeigt sie uns nachlässig mit auf¬
geschlagenem Buche vor einem Klavier sitzend. Ihre Gestalt ist schlank und
kräftig zugleich, das volle Haar wird von einem Bande nur lose zusammen¬
gehalten, die weit offnen Augen schauen träumerisch in die Welt, um den festen
Mund schwebt ein freundlicher Zug, aber der Gesamteindruck ist nicht unmittel¬
bar einnehmend. Etwas Fremdes und Kaltes mischt sich in diese hellblonden
Brauen, in diese blasse, weiche Hautfarbe; erst wenn man sich daran gewöhnt
hat, beginnt der Zauber einer tief innerlichen Persönlichkeit zu wirken. Ein
andres, von Wurzbach in sein Schillerbuch aufgenommenes Bild aus ihrer
Jugendzeit macht einen ähnlichen, nur etwas frischeren Eindruck. Die Zeit¬
genossen wissen viel zu erzählen von ihrem üppigen lichtbraunen Haare, das
aufgerollt die Erde berührte, und von ihren großen Angen, welche die Welt
gleichsam aufsogen. Die Literaturhistoriker streiten sich über ihren sittlichen
Wert; die einen, Stahr und Hugo Wittmann, werfen ihr Bild in den Staub,
die andern, Köpke und Palleske, erheben es in den Himmel der klassischen
Heroengestalten. Sie war eben die Titanide.

Charlotte entstammte dem reichsunmittelbaren Rittergeschlechte der Mar¬
schalk von Ostheim, die in Franken reich begütert waren. In Waltershausen
im Grabfelde wurde sie geboren, am 25. Juli 1761. Die Großmutter hatte sich
ans einen Enkel gefreut, sie rief der Neugeborenen zu: Du solltest nicht da sein.
Eine schlimme Prophezeiung! Mit einem älteren Bruder und zwei jüngeren
Schwestern zusammen verlebte sie die ersten Kinderjahre im väterlichen Schlosse.
Sie hielt sich zu dem Bruder und nahm teil an dessen Spielen; die Puppe,
dieses erste Spielzeug, das das Mädchen zu dem weiblichen Lebensberufe
hinüberleitct, blieb ihr fremd. Die Wissenschaften nahmen sie auch nicht in
Anspruch, denn außer einigem Unterrichte bei einer Französin erhielt sie wohl
wenig Unterweisung in litterarischen Dingen. In der Hauptsache blieb sie sich
und ihren Träumen überlassen, und da ihrer regen geistigen Empfänglichkeit
kein rechtes Ziel gesteckt ward, so bildete sich eine gefährliche Frühreife aus,
die alle Eindrücke, gute und schlimme, nach dem trügerischen Maßstabe der
schrankenlosen Subjektivität beurteilte. Während dieser Zeit wurde sie von
einer dem Katholizismus zugeneigten Tante nach Bamberg entführt und dort


Dichterfreundinnen.

Bann ihres außerordentlichen Wesens zu zwingen, freilich immer nur auf kurze
Zeit. Sie hat nichts Großes geschaffen, aber mehr als einmal ist sie in ihrer
eigentümlichen Erscheinung, gleichsam in ganzer Figur, als poetische Gestalt in
die Literatur aufgenommen worden. Ein widriges Geschick wirft seine schwersten
Geschosse nach ihr, der Heimatlosen, unermeßlich ist ihr Unglück, aber größer
noch ihre Kraft, zu dulden; sie kämpft um das Dasein, bis sie endlich erblindet,
ermattet in einem Winkel des Königsschlosses in Berlin eine letzte Zuflucht
findet. Und allen Martern zum Trotz erreicht sie das höchste Alter!

Ihr Bild im Schlosse zu Waltcrshciusen, von dem Palleske seinem Werke
„Charlotte" eine Photographie beigegeben hat, zeigt sie uns nachlässig mit auf¬
geschlagenem Buche vor einem Klavier sitzend. Ihre Gestalt ist schlank und
kräftig zugleich, das volle Haar wird von einem Bande nur lose zusammen¬
gehalten, die weit offnen Augen schauen träumerisch in die Welt, um den festen
Mund schwebt ein freundlicher Zug, aber der Gesamteindruck ist nicht unmittel¬
bar einnehmend. Etwas Fremdes und Kaltes mischt sich in diese hellblonden
Brauen, in diese blasse, weiche Hautfarbe; erst wenn man sich daran gewöhnt
hat, beginnt der Zauber einer tief innerlichen Persönlichkeit zu wirken. Ein
andres, von Wurzbach in sein Schillerbuch aufgenommenes Bild aus ihrer
Jugendzeit macht einen ähnlichen, nur etwas frischeren Eindruck. Die Zeit¬
genossen wissen viel zu erzählen von ihrem üppigen lichtbraunen Haare, das
aufgerollt die Erde berührte, und von ihren großen Angen, welche die Welt
gleichsam aufsogen. Die Literaturhistoriker streiten sich über ihren sittlichen
Wert; die einen, Stahr und Hugo Wittmann, werfen ihr Bild in den Staub,
die andern, Köpke und Palleske, erheben es in den Himmel der klassischen
Heroengestalten. Sie war eben die Titanide.

Charlotte entstammte dem reichsunmittelbaren Rittergeschlechte der Mar¬
schalk von Ostheim, die in Franken reich begütert waren. In Waltershausen
im Grabfelde wurde sie geboren, am 25. Juli 1761. Die Großmutter hatte sich
ans einen Enkel gefreut, sie rief der Neugeborenen zu: Du solltest nicht da sein.
Eine schlimme Prophezeiung! Mit einem älteren Bruder und zwei jüngeren
Schwestern zusammen verlebte sie die ersten Kinderjahre im väterlichen Schlosse.
Sie hielt sich zu dem Bruder und nahm teil an dessen Spielen; die Puppe,
dieses erste Spielzeug, das das Mädchen zu dem weiblichen Lebensberufe
hinüberleitct, blieb ihr fremd. Die Wissenschaften nahmen sie auch nicht in
Anspruch, denn außer einigem Unterrichte bei einer Französin erhielt sie wohl
wenig Unterweisung in litterarischen Dingen. In der Hauptsache blieb sie sich
und ihren Träumen überlassen, und da ihrer regen geistigen Empfänglichkeit
kein rechtes Ziel gesteckt ward, so bildete sich eine gefährliche Frühreife aus,
die alle Eindrücke, gute und schlimme, nach dem trügerischen Maßstabe der
schrankenlosen Subjektivität beurteilte. Während dieser Zeit wurde sie von
einer dem Katholizismus zugeneigten Tante nach Bamberg entführt und dort


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/188>, abgerufen am 15.05.2024.