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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Dichterfreundinnen.

Von einer bigotten Katholikin und deren Bruder, einem Jesuiten, in die Geheim¬
nisse des religiösen Wunderglaubens so tief eingeweiht, daß sie in einen Zustand
der Angst verfiel, der ihre Gesundheit bedrohte. In solcher Gemütsverfassung
erhielt sie die Nachricht von dem Tode des Vaters. Kein Wunder, daß die
damaligen Erschütterungen der Kindesseele noch in der Matrone nachzitterten!
Und nun erst begannen die Schicksalsschlä'ge, welche sie jeder natürlichen Stütze
im Leben und jeder geistigen Führung beraubten, ihr furchtbares Spiel. Kaum
war sie im folgenden Jahre ins Vaterhaus zurückgekehrt, so starb auch die
Mutter. Von Verwandten zu Verwandten gebracht, bald von den Geschwistern
getrennt, bald wieder mit ihnen vereinigt, wurde sie immer heimatloser und
einsamer. Als Kind habe ich mich ausgeweint, sagte sie im hohen Alter von
sich. In Meiningen empfing sie, zehn Jahre alt, den ersten regelmäßigen Unter¬
richt, aber auch hier verfolgte sie der religiöse Fanatismus und störte die ruhige
Entwicklung ihres Geistes. Neben Racine und Voltaire gab ihr der Lehrer
mystische Bekehrungsschriften in die Hände, die sie verdüsterten und ihren früh¬
reifen Ernst nährten. Die Folge davon war, daß sie zeitweilig ungesellig,
ungefüge und schwermütig erschien. Es giebt kein deutlicheres Bild von den
entgegengesetzten Strömungen, welche damals in den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts die vornehmen Gesellschaftskreise Deutschlands bewegten,
als die Erziehung Charlottens. Sogar die Geheimnisse des Logenwesens und
der geheimen Verbindungen regten ihre Phantasie auf. Dabei wandelte sie fast
immer unter Gräbern. Ihre Pflegerinnen, ihre Lehrer und väterlichen Freunde,
ihr Bruder Fritz, der als vollendeter Kavalier, aber auch ohne ernste sittliche
Leitung, die Universität besuchte, ihre Schwester Wilhelmine, die als Gattin
eines Grafen nach dem Elsaß zog, alle sanken ins Grab. Mit ihrer Schwester
Lorchen stand sie allein im Leben, und immer tiefer versank sie in sich selbst.
Religiöse Erweckungen, eine ernste, meist geschichtliche Lektüre, der Umgang mit
hervorragenden Männern war die Nahrung ihres Geistes und Herzens, im
übrigen liebte sie es, von der Hochburg ihrer philosophischen Reflexionen aus
dem Treiben der Welt zuzusehen. Erst verhältnismüßig spät, im siebzehnten
oder achtzehnten Jahre, gewann sie Geschmack am Romanlesen. "Sophiens
Reise von Memel nach Sachsen" von Hermes reizte sie dazu an. Freilich warf
sie sich dann auch mit der ihr eigentümlichen Energie des Empfindens auf
diesen Genuß. Sie bevölkerte die phantastische Welt, die sie sich in müßiger
Beschaulichkeit bisher aufgebaut hatte, mit poetischen Gestalten. Und immer
rauher wurde die Wirklichkeit. Die Ostheimschen Güter hatten unter vormund¬
schaftlicher Verwaltung nicht gewonnen, der Oheim, ein Herr von Stein, wünschte
der Verantwortung enthoben zu werden und ergriff die erste beste Gelegenheit,
die Nichten zu verheiraten. Die Wahl, welche er traf, war die unglücklichste,
die sich denken läßt. Lorchen, noch fast ein Kind, wurde an den durch Goethes
scharfes Urteil zu trauriger Berühmtheit gelangten Präsidenten von Kalb ver-


Dichterfreundinnen.

Von einer bigotten Katholikin und deren Bruder, einem Jesuiten, in die Geheim¬
nisse des religiösen Wunderglaubens so tief eingeweiht, daß sie in einen Zustand
der Angst verfiel, der ihre Gesundheit bedrohte. In solcher Gemütsverfassung
erhielt sie die Nachricht von dem Tode des Vaters. Kein Wunder, daß die
damaligen Erschütterungen der Kindesseele noch in der Matrone nachzitterten!
Und nun erst begannen die Schicksalsschlä'ge, welche sie jeder natürlichen Stütze
im Leben und jeder geistigen Führung beraubten, ihr furchtbares Spiel. Kaum
war sie im folgenden Jahre ins Vaterhaus zurückgekehrt, so starb auch die
Mutter. Von Verwandten zu Verwandten gebracht, bald von den Geschwistern
getrennt, bald wieder mit ihnen vereinigt, wurde sie immer heimatloser und
einsamer. Als Kind habe ich mich ausgeweint, sagte sie im hohen Alter von
sich. In Meiningen empfing sie, zehn Jahre alt, den ersten regelmäßigen Unter¬
richt, aber auch hier verfolgte sie der religiöse Fanatismus und störte die ruhige
Entwicklung ihres Geistes. Neben Racine und Voltaire gab ihr der Lehrer
mystische Bekehrungsschriften in die Hände, die sie verdüsterten und ihren früh¬
reifen Ernst nährten. Die Folge davon war, daß sie zeitweilig ungesellig,
ungefüge und schwermütig erschien. Es giebt kein deutlicheres Bild von den
entgegengesetzten Strömungen, welche damals in den siebziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts die vornehmen Gesellschaftskreise Deutschlands bewegten,
als die Erziehung Charlottens. Sogar die Geheimnisse des Logenwesens und
der geheimen Verbindungen regten ihre Phantasie auf. Dabei wandelte sie fast
immer unter Gräbern. Ihre Pflegerinnen, ihre Lehrer und väterlichen Freunde,
ihr Bruder Fritz, der als vollendeter Kavalier, aber auch ohne ernste sittliche
Leitung, die Universität besuchte, ihre Schwester Wilhelmine, die als Gattin
eines Grafen nach dem Elsaß zog, alle sanken ins Grab. Mit ihrer Schwester
Lorchen stand sie allein im Leben, und immer tiefer versank sie in sich selbst.
Religiöse Erweckungen, eine ernste, meist geschichtliche Lektüre, der Umgang mit
hervorragenden Männern war die Nahrung ihres Geistes und Herzens, im
übrigen liebte sie es, von der Hochburg ihrer philosophischen Reflexionen aus
dem Treiben der Welt zuzusehen. Erst verhältnismüßig spät, im siebzehnten
oder achtzehnten Jahre, gewann sie Geschmack am Romanlesen. „Sophiens
Reise von Memel nach Sachsen" von Hermes reizte sie dazu an. Freilich warf
sie sich dann auch mit der ihr eigentümlichen Energie des Empfindens auf
diesen Genuß. Sie bevölkerte die phantastische Welt, die sie sich in müßiger
Beschaulichkeit bisher aufgebaut hatte, mit poetischen Gestalten. Und immer
rauher wurde die Wirklichkeit. Die Ostheimschen Güter hatten unter vormund¬
schaftlicher Verwaltung nicht gewonnen, der Oheim, ein Herr von Stein, wünschte
der Verantwortung enthoben zu werden und ergriff die erste beste Gelegenheit,
die Nichten zu verheiraten. Die Wahl, welche er traf, war die unglücklichste,
die sich denken läßt. Lorchen, noch fast ein Kind, wurde an den durch Goethes
scharfes Urteil zu trauriger Berühmtheit gelangten Präsidenten von Kalb ver-


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[0189] Dichterfreundinnen. Von einer bigotten Katholikin und deren Bruder, einem Jesuiten, in die Geheim¬ nisse des religiösen Wunderglaubens so tief eingeweiht, daß sie in einen Zustand der Angst verfiel, der ihre Gesundheit bedrohte. In solcher Gemütsverfassung erhielt sie die Nachricht von dem Tode des Vaters. Kein Wunder, daß die damaligen Erschütterungen der Kindesseele noch in der Matrone nachzitterten! Und nun erst begannen die Schicksalsschlä'ge, welche sie jeder natürlichen Stütze im Leben und jeder geistigen Führung beraubten, ihr furchtbares Spiel. Kaum war sie im folgenden Jahre ins Vaterhaus zurückgekehrt, so starb auch die Mutter. Von Verwandten zu Verwandten gebracht, bald von den Geschwistern getrennt, bald wieder mit ihnen vereinigt, wurde sie immer heimatloser und einsamer. Als Kind habe ich mich ausgeweint, sagte sie im hohen Alter von sich. In Meiningen empfing sie, zehn Jahre alt, den ersten regelmäßigen Unter¬ richt, aber auch hier verfolgte sie der religiöse Fanatismus und störte die ruhige Entwicklung ihres Geistes. Neben Racine und Voltaire gab ihr der Lehrer mystische Bekehrungsschriften in die Hände, die sie verdüsterten und ihren früh¬ reifen Ernst nährten. Die Folge davon war, daß sie zeitweilig ungesellig, ungefüge und schwermütig erschien. Es giebt kein deutlicheres Bild von den entgegengesetzten Strömungen, welche damals in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die vornehmen Gesellschaftskreise Deutschlands bewegten, als die Erziehung Charlottens. Sogar die Geheimnisse des Logenwesens und der geheimen Verbindungen regten ihre Phantasie auf. Dabei wandelte sie fast immer unter Gräbern. Ihre Pflegerinnen, ihre Lehrer und väterlichen Freunde, ihr Bruder Fritz, der als vollendeter Kavalier, aber auch ohne ernste sittliche Leitung, die Universität besuchte, ihre Schwester Wilhelmine, die als Gattin eines Grafen nach dem Elsaß zog, alle sanken ins Grab. Mit ihrer Schwester Lorchen stand sie allein im Leben, und immer tiefer versank sie in sich selbst. Religiöse Erweckungen, eine ernste, meist geschichtliche Lektüre, der Umgang mit hervorragenden Männern war die Nahrung ihres Geistes und Herzens, im übrigen liebte sie es, von der Hochburg ihrer philosophischen Reflexionen aus dem Treiben der Welt zuzusehen. Erst verhältnismüßig spät, im siebzehnten oder achtzehnten Jahre, gewann sie Geschmack am Romanlesen. „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen" von Hermes reizte sie dazu an. Freilich warf sie sich dann auch mit der ihr eigentümlichen Energie des Empfindens auf diesen Genuß. Sie bevölkerte die phantastische Welt, die sie sich in müßiger Beschaulichkeit bisher aufgebaut hatte, mit poetischen Gestalten. Und immer rauher wurde die Wirklichkeit. Die Ostheimschen Güter hatten unter vormund¬ schaftlicher Verwaltung nicht gewonnen, der Oheim, ein Herr von Stein, wünschte der Verantwortung enthoben zu werden und ergriff die erste beste Gelegenheit, die Nichten zu verheiraten. Die Wahl, welche er traf, war die unglücklichste, die sich denken läßt. Lorchen, noch fast ein Kind, wurde an den durch Goethes scharfes Urteil zu trauriger Berühmtheit gelangten Präsidenten von Kalb ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/189>, abgerufen am 30.05.2024.