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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

All Recht erkannt. Sie wollen ohne herrschaftliche Erlaubnis heiraten dürfen.
Die Habe des Selbstmörders soll der Herr nicht nehmen, der Herr soll über¬
haupt keinen Bauern beerben, so lange noch Verwandte da sind. Wenn der
Vogt einen Bauern wegen Frevels belangt, so soll er ihn ohne gute Beweise
nicht strafen dürfen. Auf welche Zustände lassen diese Beschwerden schließen!
Auch wisse" wir, daß sie noch um vieles schlechter wurden, als der Aufstand
der Bauern niedergeworfen war und die rachcdnrstigen Herren keinen Wider¬
stand mehr fanden, weder von unten, noch von oben. Als dann der dreißig¬
jährige Krieg Deutschland verwüstete nud entvölkerte, als die Lahmlegung der
höchsten Reichsgewalt durch den westfälische" Frieden auch die letzte Mög¬
lichkeit eines Schutzes gegen die Willkür der zahllosen großen, kleinen und
kleinsten Herren beseitigte, da war das Elend des Volles allgemein und
unsagbar.

Zinn Heile der Menschheit erwuchs uach dem Plane der Vorsehung ans
jener wüsten Souveränität der Dynasten eine ne"e Staatsweisheit, welche der
Sorge für das Volkswohl Raum gab und allmählich die Wege chüele, die
freilich nicht überall ohne Gewalt eröffnet werden konnten. Die Lage des
Volkes wurde besser Aber noch in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
verstand man unter Volk nur die ehedem privilegirten geschlossenen Stände.
Die französische Revolution von 1830 wurde von den Bürgern gemacht, die sich
ihre Stelle im Staate neben Adel nud Thron erkämpften, an den vierten Stand
dachten die doktrinären Leiter des Aufstandes nicht, und kaum eine andre Zeit
ist so unempfindlich gegen die Leiden des Volkes gewesen, wie die beiden Jahr¬
zehnte der Julidhnastie. Nicht anders verhielt es sich bei den Umwälzungen,
welche die Einheit Italiens bewirkte"; auch hier hat das Bürgertum allein
geerntet, und für den vierten Stand gab es kaum eine dürftige Aussaat. Wie
anders ist das geworden!

Die Geschichte zeigt, daß zu, allen Zeiten ein Teil des Volkes als nicht
zur bürgerlichen Gesellschaft gehörig betrachtet worden ist, sondern als bestimmt,
der eigentlichen Gesellschaft zur Erreichung ihrer Zwecke zu dienen. In den
alten Despotien des Ostens war sast das ganze Volk dem Despoten und seiner
Adels- und Priesterkaste mit Leib und Seele dienstbar; in der römisch-
griechischen Welt waren es die Sklaven, in der feudalen Zeit die Leibeignen
und Hörigen, die, als außerhalb der Gesellschaft stehend, der schrankenlosen Aus¬
beutung der herrschenden Klassen überantwortet waren und demgemäß behandelt
wurden.

Man wird annehmen dürfen, daß diese der Ausbeutung preisgegebenen,
von dem Rechte, ja von der sittlichen Gemeinschaft ihrer herrschenden Volks¬
genossen ausgeschlossenen Klassen im Laufe der Zeit immer weniger zahlreich
wurden. Ich glaube behaupten zu dürfen -- wenn ich auch keinen statistischen
Beweis zu liefern imstande bin --, daß die Sklaven der römisch-griechischen


Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

All Recht erkannt. Sie wollen ohne herrschaftliche Erlaubnis heiraten dürfen.
Die Habe des Selbstmörders soll der Herr nicht nehmen, der Herr soll über¬
haupt keinen Bauern beerben, so lange noch Verwandte da sind. Wenn der
Vogt einen Bauern wegen Frevels belangt, so soll er ihn ohne gute Beweise
nicht strafen dürfen. Auf welche Zustände lassen diese Beschwerden schließen!
Auch wisse» wir, daß sie noch um vieles schlechter wurden, als der Aufstand
der Bauern niedergeworfen war und die rachcdnrstigen Herren keinen Wider¬
stand mehr fanden, weder von unten, noch von oben. Als dann der dreißig¬
jährige Krieg Deutschland verwüstete nud entvölkerte, als die Lahmlegung der
höchsten Reichsgewalt durch den westfälische» Frieden auch die letzte Mög¬
lichkeit eines Schutzes gegen die Willkür der zahllosen großen, kleinen und
kleinsten Herren beseitigte, da war das Elend des Volles allgemein und
unsagbar.

Zinn Heile der Menschheit erwuchs uach dem Plane der Vorsehung ans
jener wüsten Souveränität der Dynasten eine ne»e Staatsweisheit, welche der
Sorge für das Volkswohl Raum gab und allmählich die Wege chüele, die
freilich nicht überall ohne Gewalt eröffnet werden konnten. Die Lage des
Volkes wurde besser Aber noch in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts
verstand man unter Volk nur die ehedem privilegirten geschlossenen Stände.
Die französische Revolution von 1830 wurde von den Bürgern gemacht, die sich
ihre Stelle im Staate neben Adel nud Thron erkämpften, an den vierten Stand
dachten die doktrinären Leiter des Aufstandes nicht, und kaum eine andre Zeit
ist so unempfindlich gegen die Leiden des Volkes gewesen, wie die beiden Jahr¬
zehnte der Julidhnastie. Nicht anders verhielt es sich bei den Umwälzungen,
welche die Einheit Italiens bewirkte»; auch hier hat das Bürgertum allein
geerntet, und für den vierten Stand gab es kaum eine dürftige Aussaat. Wie
anders ist das geworden!

Die Geschichte zeigt, daß zu, allen Zeiten ein Teil des Volkes als nicht
zur bürgerlichen Gesellschaft gehörig betrachtet worden ist, sondern als bestimmt,
der eigentlichen Gesellschaft zur Erreichung ihrer Zwecke zu dienen. In den
alten Despotien des Ostens war sast das ganze Volk dem Despoten und seiner
Adels- und Priesterkaste mit Leib und Seele dienstbar; in der römisch-
griechischen Welt waren es die Sklaven, in der feudalen Zeit die Leibeignen
und Hörigen, die, als außerhalb der Gesellschaft stehend, der schrankenlosen Aus¬
beutung der herrschenden Klassen überantwortet waren und demgemäß behandelt
wurden.

Man wird annehmen dürfen, daß diese der Ausbeutung preisgegebenen,
von dem Rechte, ja von der sittlichen Gemeinschaft ihrer herrschenden Volks¬
genossen ausgeschlossenen Klassen im Laufe der Zeit immer weniger zahlreich
wurden. Ich glaube behaupten zu dürfen — wenn ich auch keinen statistischen
Beweis zu liefern imstande bin —, daß die Sklaven der römisch-griechischen


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[0019] Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände. All Recht erkannt. Sie wollen ohne herrschaftliche Erlaubnis heiraten dürfen. Die Habe des Selbstmörders soll der Herr nicht nehmen, der Herr soll über¬ haupt keinen Bauern beerben, so lange noch Verwandte da sind. Wenn der Vogt einen Bauern wegen Frevels belangt, so soll er ihn ohne gute Beweise nicht strafen dürfen. Auf welche Zustände lassen diese Beschwerden schließen! Auch wisse» wir, daß sie noch um vieles schlechter wurden, als der Aufstand der Bauern niedergeworfen war und die rachcdnrstigen Herren keinen Wider¬ stand mehr fanden, weder von unten, noch von oben. Als dann der dreißig¬ jährige Krieg Deutschland verwüstete nud entvölkerte, als die Lahmlegung der höchsten Reichsgewalt durch den westfälische» Frieden auch die letzte Mög¬ lichkeit eines Schutzes gegen die Willkür der zahllosen großen, kleinen und kleinsten Herren beseitigte, da war das Elend des Volles allgemein und unsagbar. Zinn Heile der Menschheit erwuchs uach dem Plane der Vorsehung ans jener wüsten Souveränität der Dynasten eine ne»e Staatsweisheit, welche der Sorge für das Volkswohl Raum gab und allmählich die Wege chüele, die freilich nicht überall ohne Gewalt eröffnet werden konnten. Die Lage des Volkes wurde besser Aber noch in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts verstand man unter Volk nur die ehedem privilegirten geschlossenen Stände. Die französische Revolution von 1830 wurde von den Bürgern gemacht, die sich ihre Stelle im Staate neben Adel nud Thron erkämpften, an den vierten Stand dachten die doktrinären Leiter des Aufstandes nicht, und kaum eine andre Zeit ist so unempfindlich gegen die Leiden des Volkes gewesen, wie die beiden Jahr¬ zehnte der Julidhnastie. Nicht anders verhielt es sich bei den Umwälzungen, welche die Einheit Italiens bewirkte»; auch hier hat das Bürgertum allein geerntet, und für den vierten Stand gab es kaum eine dürftige Aussaat. Wie anders ist das geworden! Die Geschichte zeigt, daß zu, allen Zeiten ein Teil des Volkes als nicht zur bürgerlichen Gesellschaft gehörig betrachtet worden ist, sondern als bestimmt, der eigentlichen Gesellschaft zur Erreichung ihrer Zwecke zu dienen. In den alten Despotien des Ostens war sast das ganze Volk dem Despoten und seiner Adels- und Priesterkaste mit Leib und Seele dienstbar; in der römisch- griechischen Welt waren es die Sklaven, in der feudalen Zeit die Leibeignen und Hörigen, die, als außerhalb der Gesellschaft stehend, der schrankenlosen Aus¬ beutung der herrschenden Klassen überantwortet waren und demgemäß behandelt wurden. Man wird annehmen dürfen, daß diese der Ausbeutung preisgegebenen, von dem Rechte, ja von der sittlichen Gemeinschaft ihrer herrschenden Volks¬ genossen ausgeschlossenen Klassen im Laufe der Zeit immer weniger zahlreich wurden. Ich glaube behaupten zu dürfen — wenn ich auch keinen statistischen Beweis zu liefern imstande bin —, daß die Sklaven der römisch-griechischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/19>, abgerufen am 14.05.2024.