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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände,

Welt an Zahl jene Massen nicht erreichten, welche den asiatischen Despoten
des Altertums ungeheure Tempel in die Felsen gruben, Felsen in Statuen
verwandelten und Pyramiden mit ihren Händen anstürmten. Ebenso waren
die Leibeignen und Hörigen der Feudalzeit an Zahl geringer als die Sklaven
der antiken Welt. Immer neue Schichten haben sich heraufgearbeitet und Auf¬
nahme in das Rechtsleben der Gesellschaft errungen, bis in unsern Tagen kein
Teil des Volkes mehr übrig ist, der sich als rechtlich ausgeschlossen von der
Volksfamilie betrachte" müßte, dem nicht das Recht der Teilnahme an allen
Segnungen der staatlichen Ordnung und der von ihr geschützten Kultur zu¬
gestanden und auch thatsächlich wenigstens einigermaßen gewährt würde.

Freilich giebt es auch heute noch Not und Elend genug, wer wollte es
leugnen; aber der weltgeschichtliche Fortschritt ist doch deutlich erkennbar. Wir
heutigen Menschen betrachten Not und Elend nicht mehr als eine organische
oder gar von Gott eingesetzte Einrichtung, an welche die Hand zu legen ver¬
geblich oder gar ein Frevel wäre. Wir stehen nicht mehr auf dem Standpunkte
jener englischen Geistlichen, welche den Versuch der nächtlichen Beleuchtung
Londons für einen Eingriff in die göttliche Weltordnung erklärten, da Gott
nur den Tag hell, aber die Nacht dunkel geschaffen habe, oder jener bäuerischen
Pfaffen, welche aus ähnlichen Gründen gegen die Feuerversicherung geeifert
haben. Wir erkennen vielmehr in Not und Elend eines Teiles unsrer Mit¬
menschen nur eine Krankheit, einen Krebsschaden am Körper der Gesellschaft.
Heilung und Bekämpfung stellen wir uns zur Aufgabe; werkthätige Nächstenliebe
durchdringt die heutige Gesellschaft, und sie arbeitet nicht ohne sichtbaren Erfolg
nach allen Seiten hin an der Ausbesserung der Schäden, welche unsre Gesell¬
schaft entstellen.

Es giebt freilich manche, welche glauben, Not und Elend seien heute ver¬
breiteter als ehedem, ja es sei das, was wir Proletariat nennen, ein Erzeugnis
der modernen Zeit. Einige von diesen glauben, es müsse durch ein völlig
neues System eine neue Gesellschaft begründet werden, andere entsagen pessi¬
mistisch jeder Hoffnung auf einen Zustand allgemeineren Glückes. Allein beide
Parteien irren, ihre gemeinschaftliche Voraussetzung ist falsch. Das Massenelend
ist nicht umfangreicher geworden, sondern nur sichtbarer, bemerkbarer. Wenn
wir jeden Morgen in der Zeitung Berichte lesen über so zahlreiche Verbrechen
und Unglücksfälle, so kommen wir wohl zu dem Ausruf: Um Gottes Willen,
in welch schrecklicher Zeit leben wir, so war es doch früher nicht! Wenn wir
aber genauer nachsehen, so finden wir, daß das eine Verbrechen in London
begangen wurde, das andre in Neapel, ein drittes in Petersburg, in Newyork,
in Sidney, in Valparaiso u. s. w., kurz, daß die Zeitung tagtäglich aus allen
Ecken und Enden der Erde über die vorgefallenen Verbrechen und Unglücks¬
fälle berichtet. Wir sehen dann ein. daß es so schlimm nicht steht, daß nur
unser Überblick großer geworden ist, und daß auch, wenn die Verbrechen und


Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände,

Welt an Zahl jene Massen nicht erreichten, welche den asiatischen Despoten
des Altertums ungeheure Tempel in die Felsen gruben, Felsen in Statuen
verwandelten und Pyramiden mit ihren Händen anstürmten. Ebenso waren
die Leibeignen und Hörigen der Feudalzeit an Zahl geringer als die Sklaven
der antiken Welt. Immer neue Schichten haben sich heraufgearbeitet und Auf¬
nahme in das Rechtsleben der Gesellschaft errungen, bis in unsern Tagen kein
Teil des Volkes mehr übrig ist, der sich als rechtlich ausgeschlossen von der
Volksfamilie betrachte» müßte, dem nicht das Recht der Teilnahme an allen
Segnungen der staatlichen Ordnung und der von ihr geschützten Kultur zu¬
gestanden und auch thatsächlich wenigstens einigermaßen gewährt würde.

Freilich giebt es auch heute noch Not und Elend genug, wer wollte es
leugnen; aber der weltgeschichtliche Fortschritt ist doch deutlich erkennbar. Wir
heutigen Menschen betrachten Not und Elend nicht mehr als eine organische
oder gar von Gott eingesetzte Einrichtung, an welche die Hand zu legen ver¬
geblich oder gar ein Frevel wäre. Wir stehen nicht mehr auf dem Standpunkte
jener englischen Geistlichen, welche den Versuch der nächtlichen Beleuchtung
Londons für einen Eingriff in die göttliche Weltordnung erklärten, da Gott
nur den Tag hell, aber die Nacht dunkel geschaffen habe, oder jener bäuerischen
Pfaffen, welche aus ähnlichen Gründen gegen die Feuerversicherung geeifert
haben. Wir erkennen vielmehr in Not und Elend eines Teiles unsrer Mit¬
menschen nur eine Krankheit, einen Krebsschaden am Körper der Gesellschaft.
Heilung und Bekämpfung stellen wir uns zur Aufgabe; werkthätige Nächstenliebe
durchdringt die heutige Gesellschaft, und sie arbeitet nicht ohne sichtbaren Erfolg
nach allen Seiten hin an der Ausbesserung der Schäden, welche unsre Gesell¬
schaft entstellen.

Es giebt freilich manche, welche glauben, Not und Elend seien heute ver¬
breiteter als ehedem, ja es sei das, was wir Proletariat nennen, ein Erzeugnis
der modernen Zeit. Einige von diesen glauben, es müsse durch ein völlig
neues System eine neue Gesellschaft begründet werden, andere entsagen pessi¬
mistisch jeder Hoffnung auf einen Zustand allgemeineren Glückes. Allein beide
Parteien irren, ihre gemeinschaftliche Voraussetzung ist falsch. Das Massenelend
ist nicht umfangreicher geworden, sondern nur sichtbarer, bemerkbarer. Wenn
wir jeden Morgen in der Zeitung Berichte lesen über so zahlreiche Verbrechen
und Unglücksfälle, so kommen wir wohl zu dem Ausruf: Um Gottes Willen,
in welch schrecklicher Zeit leben wir, so war es doch früher nicht! Wenn wir
aber genauer nachsehen, so finden wir, daß das eine Verbrechen in London
begangen wurde, das andre in Neapel, ein drittes in Petersburg, in Newyork,
in Sidney, in Valparaiso u. s. w., kurz, daß die Zeitung tagtäglich aus allen
Ecken und Enden der Erde über die vorgefallenen Verbrechen und Unglücks¬
fälle berichtet. Wir sehen dann ein. daß es so schlimm nicht steht, daß nur
unser Überblick großer geworden ist, und daß auch, wenn die Verbrechen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/20>, abgerufen am 14.05.2024.