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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

Gelehrten all die Mündungen des Ganges, um die Entstehung der Cholera zu
erforschen, wir umspannen den Erdball mit meteorologischen Stationen, um
durch Vorausberechnung von Wetter und Wind Leben und Habe der Seefahrer
zu schützen. Wie könnte es möglich sein, daß alle solche auf den verschiedensten
Gebieten entwickelte Thätigkeit nicht zur Linderung von Not und Elend wirksam
beitrüge/")

Wenn ich versuche, die Leser von dem Fortschritte der Besserung unsrer
wirtschaftlichen Zustände zu überzeugen, so darf ich nicht unterlassen, darauf
aufmerksam zu machen, welche mächtigen Hindernisse dieser Besserung gleichzeitig
entgegengetreten sind, und daß der Fortschritt dann um so viel bedeutender er¬
scheint. Eine Reihe von Veränderungen in den gesellschaftlichen Zuständen ist vor¬
gegangen, welche tiefgehende Erschütterungen verursachen mußten, welche ganze
Klassen ans ihren seitherigen Stellungen verdrängt und fast jeden Einzelnen
genötigt habe", sich ganz neuen Formen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens
anzubequemen. Wenn wir den Gang der Geschichte überblicken, so finden wir
kaum eine andre Zeit, in der die Gesellschaft so gewaltige Umgestaltungen er¬
fahren hätte, wie in diesem Jahrhundert.

Das Feudalwesen, welches die Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten be¬
herrscht und bis ins innerste Mark durchdrungen hatte, wurde beseitigt; die
Schranken, welche die einzelnen Stände von einander trennten, wurden nieder¬
geworfen, die Stände selbst verfielen der Auflösung. Die kleinern .Kreise, in
welche Volksteile sich staatlich einigte" und von andern Staatsgebilden trennten,
wurden erweitert, und es entstanden große Nationalstaaten; die Naturalwirt¬
schaft wurde durch die Geldwirtschaft ersetzt, die Handarbeit wurde durch die
Maschine, der Kleinbetrieb durch den Großbetrieb verdrängt; Raum und Zeit
wurden durch Dampf und Elektrizität überwunden. Ehedem waren es kleine
Gebiete, auf welchen die Menschen mit einander rangen, ihre entgegengesetzten
Interessen zum Ausgleiche oder zum Siege brachten. Die Kampfplätze waren
wohl zahlreich, aber sie waren klein und die Heere der Kämpfenden unbedeutend.
Jetzt ist die ganze Welt ein einziges großes wirtschaftliches Schlachtfeld geworden,
und die Heere stehen sich in Massen gegenüber, während zu gleicher Zeit der
Kampf von Mann gegen Mann ein allgemeiner ist. Die bisherigen Verbände
sind gelöst, die gefesteten Stellungen vergangener Zeiten sind zerstört, eine all¬
gemeine Verschiebung hat stattgefunden. Die Gesellschaft ist in Atome aufgelöst,



Ich entnehme einem englischen Schriftsteller, Sir Louis Mallet, folgende sehr be¬
merkenswerte Zahlen. Die Muxvrs (öffentlich unterstütze Armen) betrugen in England
und Wales:
1849 bet 13 Millwueu Einwohnern 934 000 5,2"/,,,
1S84 " 26 " " 774 310 2,9"/.,.
Aber man hat auf jeden imnxor 1384 elf Pfd. Sterl. verwendet, statt mir fünf Pfund im
Jahre 1849!
Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

Gelehrten all die Mündungen des Ganges, um die Entstehung der Cholera zu
erforschen, wir umspannen den Erdball mit meteorologischen Stationen, um
durch Vorausberechnung von Wetter und Wind Leben und Habe der Seefahrer
zu schützen. Wie könnte es möglich sein, daß alle solche auf den verschiedensten
Gebieten entwickelte Thätigkeit nicht zur Linderung von Not und Elend wirksam
beitrüge/")

Wenn ich versuche, die Leser von dem Fortschritte der Besserung unsrer
wirtschaftlichen Zustände zu überzeugen, so darf ich nicht unterlassen, darauf
aufmerksam zu machen, welche mächtigen Hindernisse dieser Besserung gleichzeitig
entgegengetreten sind, und daß der Fortschritt dann um so viel bedeutender er¬
scheint. Eine Reihe von Veränderungen in den gesellschaftlichen Zuständen ist vor¬
gegangen, welche tiefgehende Erschütterungen verursachen mußten, welche ganze
Klassen ans ihren seitherigen Stellungen verdrängt und fast jeden Einzelnen
genötigt habe», sich ganz neuen Formen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens
anzubequemen. Wenn wir den Gang der Geschichte überblicken, so finden wir
kaum eine andre Zeit, in der die Gesellschaft so gewaltige Umgestaltungen er¬
fahren hätte, wie in diesem Jahrhundert.

Das Feudalwesen, welches die Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten be¬
herrscht und bis ins innerste Mark durchdrungen hatte, wurde beseitigt; die
Schranken, welche die einzelnen Stände von einander trennten, wurden nieder¬
geworfen, die Stände selbst verfielen der Auflösung. Die kleinern .Kreise, in
welche Volksteile sich staatlich einigte» und von andern Staatsgebilden trennten,
wurden erweitert, und es entstanden große Nationalstaaten; die Naturalwirt¬
schaft wurde durch die Geldwirtschaft ersetzt, die Handarbeit wurde durch die
Maschine, der Kleinbetrieb durch den Großbetrieb verdrängt; Raum und Zeit
wurden durch Dampf und Elektrizität überwunden. Ehedem waren es kleine
Gebiete, auf welchen die Menschen mit einander rangen, ihre entgegengesetzten
Interessen zum Ausgleiche oder zum Siege brachten. Die Kampfplätze waren
wohl zahlreich, aber sie waren klein und die Heere der Kämpfenden unbedeutend.
Jetzt ist die ganze Welt ein einziges großes wirtschaftliches Schlachtfeld geworden,
und die Heere stehen sich in Massen gegenüber, während zu gleicher Zeit der
Kampf von Mann gegen Mann ein allgemeiner ist. Die bisherigen Verbände
sind gelöst, die gefesteten Stellungen vergangener Zeiten sind zerstört, eine all¬
gemeine Verschiebung hat stattgefunden. Die Gesellschaft ist in Atome aufgelöst,



Ich entnehme einem englischen Schriftsteller, Sir Louis Mallet, folgende sehr be¬
merkenswerte Zahlen. Die Muxvrs (öffentlich unterstütze Armen) betrugen in England
und Wales:
1849 bet 13 Millwueu Einwohnern 934 000 5,2»/,,,
1S84 „ 26 „ „ 774 310 2,9»/.,.
Aber man hat auf jeden imnxor 1384 elf Pfd. Sterl. verwendet, statt mir fünf Pfund im
Jahre 1849!
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[0022] Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände. Gelehrten all die Mündungen des Ganges, um die Entstehung der Cholera zu erforschen, wir umspannen den Erdball mit meteorologischen Stationen, um durch Vorausberechnung von Wetter und Wind Leben und Habe der Seefahrer zu schützen. Wie könnte es möglich sein, daß alle solche auf den verschiedensten Gebieten entwickelte Thätigkeit nicht zur Linderung von Not und Elend wirksam beitrüge/") Wenn ich versuche, die Leser von dem Fortschritte der Besserung unsrer wirtschaftlichen Zustände zu überzeugen, so darf ich nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu machen, welche mächtigen Hindernisse dieser Besserung gleichzeitig entgegengetreten sind, und daß der Fortschritt dann um so viel bedeutender er¬ scheint. Eine Reihe von Veränderungen in den gesellschaftlichen Zuständen ist vor¬ gegangen, welche tiefgehende Erschütterungen verursachen mußten, welche ganze Klassen ans ihren seitherigen Stellungen verdrängt und fast jeden Einzelnen genötigt habe», sich ganz neuen Formen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens anzubequemen. Wenn wir den Gang der Geschichte überblicken, so finden wir kaum eine andre Zeit, in der die Gesellschaft so gewaltige Umgestaltungen er¬ fahren hätte, wie in diesem Jahrhundert. Das Feudalwesen, welches die Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten be¬ herrscht und bis ins innerste Mark durchdrungen hatte, wurde beseitigt; die Schranken, welche die einzelnen Stände von einander trennten, wurden nieder¬ geworfen, die Stände selbst verfielen der Auflösung. Die kleinern .Kreise, in welche Volksteile sich staatlich einigte» und von andern Staatsgebilden trennten, wurden erweitert, und es entstanden große Nationalstaaten; die Naturalwirt¬ schaft wurde durch die Geldwirtschaft ersetzt, die Handarbeit wurde durch die Maschine, der Kleinbetrieb durch den Großbetrieb verdrängt; Raum und Zeit wurden durch Dampf und Elektrizität überwunden. Ehedem waren es kleine Gebiete, auf welchen die Menschen mit einander rangen, ihre entgegengesetzten Interessen zum Ausgleiche oder zum Siege brachten. Die Kampfplätze waren wohl zahlreich, aber sie waren klein und die Heere der Kämpfenden unbedeutend. Jetzt ist die ganze Welt ein einziges großes wirtschaftliches Schlachtfeld geworden, und die Heere stehen sich in Massen gegenüber, während zu gleicher Zeit der Kampf von Mann gegen Mann ein allgemeiner ist. Die bisherigen Verbände sind gelöst, die gefesteten Stellungen vergangener Zeiten sind zerstört, eine all¬ gemeine Verschiebung hat stattgefunden. Die Gesellschaft ist in Atome aufgelöst, Ich entnehme einem englischen Schriftsteller, Sir Louis Mallet, folgende sehr be¬ merkenswerte Zahlen. Die Muxvrs (öffentlich unterstütze Armen) betrugen in England und Wales: 1849 bet 13 Millwueu Einwohnern 934 000 5,2»/,,, 1S84 „ 26 „ „ 774 310 2,9»/.,. Aber man hat auf jeden imnxor 1384 elf Pfd. Sterl. verwendet, statt mir fünf Pfund im Jahre 1849!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/22>, abgerufen am 14.05.2024.