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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Klagen eines Zeitungsschreibers.

hältnis zu dem Maße geistiger Anstrengung, welche diese Arbeit erforderte, zu
der geistigen Bedeutung und Begabung des Verfassers. Je tiefer und gründ¬
licher ein Schriftsteller irgend einen Gegenstand des Wissens oder gar die für
den denkenden Menschen so anziehenden Fragen uach deu Rätseln des Daseins
und dem Ursprung aller Dinge behandelt, desto mehr entfremdet er sich der
Denkweise der großen Mehrzahl, desto enger ist der Leserkreis, den er sich ver¬
schaffen kann. Wie schlecht hätte es nicht um manchen großen Denker gestanden,
wenn ihm der Absatz seiner Werke den Lebensunterhalt hätte verschaffen sollen!
Aber auch die Empfänglichkeit für die Schönheiten der Literatur ist wohl
weniger verbreitet, als man annehmen sollte, und die weitere Verbreitung der
Werke manches gefeierten Dichters mag manchmal mehr dem Ruhm eines großen
Namens zuzuschreiben sein, als dem Genusse, den der Leser davon empfindet.

Aber nicht die Schriftstellerei höheren Ranges wollte ich besprechen, viel¬
mehr ist es meine Absicht, auf einem Gebiete, welches doch der Fassungskraft
und der Denkweise der Mehrzahl viel näher liegt, dem der Tagespresse, nach¬
zuweisen, daß auch hier die große Masse der Lesenden der innern Bedeutung
schriftstellerischer Leistungen keineswegs gerecht zu werden vermag. Das Lesen
einer Zeitung ist heute ein unentbehrliches Bedürfnis geworden. In die nie¬
drigsten Hütten hält nachgerade die Zeitung ihren Eingang, denn wer für sich
allein die Mittel nicht hat, hält sie doch mit einem oder mehreren Nachbarn
zusammen. Man mag einkehren, in welchem Hause man will, in der Stadt
oder auf dem Lande, bei Gebildeten oder bei Ungebildeten, so wird man finden,
daß die Zeit, wo die Zeitung ins Haus gebracht wird, mit einer gewissen
Spannung und Ungeduld erwartet wird. Und ist die Ersehnte da, so können
kaum die Bedürfnisse der Leselustigen zeitig genug befriedigt werden. Man
reißt einander das Blatt aus der Hand, oder mehrere Personen gleichzeitig
sehen dem Glücklichen, der es zuerst erfaßte, über die Schulter. Jung und Alt
sind gleich empfänglich für diesen Hochgenuß des Zeitungslesers. Die Zeitung
ist so unentbehrlich wie das tägliche Brot, wie die Luft, die man atmet.
Wenn sie einmal ausbleibt, macht ein gewisses Gefühl des Unbehagens sich
geltend, und man ermangelt in solchem Falle gewiß nicht, auf das Postamt,
auf die Zeitungsexpedition oder wer immer diese Unregelmäßigkeit verschuldet
haben mag, weidlich zu schelten.

Glücklicher Zeitungsschreiber, der du solche Szenen erlebst! Wohl mag
dein Herz klopfen in freudiger Erregung, wohl mag sich ein Gefühl der Be¬
friedigung, des Stolzes in deinem Innern regen, daß deine Arbeit gewürdigt
wird, daß du dir das Zeugnis geben kannst, ein unentbehrliches Mitglied der
menschlichen Gesellschaft zu sein, der du ein so dringendes Bedürfnis deiner
Mitmenschen befriedigst! Denn der Zeitungsschreiber, mag er aus einer niedri¬
geren Stufe stehen als der Bücherschreiber, oder gar als jene hohen Lehrer
des Menschengeschlechtes, deren Werke unvergänglichen Wert haben, ist doch


Klagen eines Zeitungsschreibers.

hältnis zu dem Maße geistiger Anstrengung, welche diese Arbeit erforderte, zu
der geistigen Bedeutung und Begabung des Verfassers. Je tiefer und gründ¬
licher ein Schriftsteller irgend einen Gegenstand des Wissens oder gar die für
den denkenden Menschen so anziehenden Fragen uach deu Rätseln des Daseins
und dem Ursprung aller Dinge behandelt, desto mehr entfremdet er sich der
Denkweise der großen Mehrzahl, desto enger ist der Leserkreis, den er sich ver¬
schaffen kann. Wie schlecht hätte es nicht um manchen großen Denker gestanden,
wenn ihm der Absatz seiner Werke den Lebensunterhalt hätte verschaffen sollen!
Aber auch die Empfänglichkeit für die Schönheiten der Literatur ist wohl
weniger verbreitet, als man annehmen sollte, und die weitere Verbreitung der
Werke manches gefeierten Dichters mag manchmal mehr dem Ruhm eines großen
Namens zuzuschreiben sein, als dem Genusse, den der Leser davon empfindet.

Aber nicht die Schriftstellerei höheren Ranges wollte ich besprechen, viel¬
mehr ist es meine Absicht, auf einem Gebiete, welches doch der Fassungskraft
und der Denkweise der Mehrzahl viel näher liegt, dem der Tagespresse, nach¬
zuweisen, daß auch hier die große Masse der Lesenden der innern Bedeutung
schriftstellerischer Leistungen keineswegs gerecht zu werden vermag. Das Lesen
einer Zeitung ist heute ein unentbehrliches Bedürfnis geworden. In die nie¬
drigsten Hütten hält nachgerade die Zeitung ihren Eingang, denn wer für sich
allein die Mittel nicht hat, hält sie doch mit einem oder mehreren Nachbarn
zusammen. Man mag einkehren, in welchem Hause man will, in der Stadt
oder auf dem Lande, bei Gebildeten oder bei Ungebildeten, so wird man finden,
daß die Zeit, wo die Zeitung ins Haus gebracht wird, mit einer gewissen
Spannung und Ungeduld erwartet wird. Und ist die Ersehnte da, so können
kaum die Bedürfnisse der Leselustigen zeitig genug befriedigt werden. Man
reißt einander das Blatt aus der Hand, oder mehrere Personen gleichzeitig
sehen dem Glücklichen, der es zuerst erfaßte, über die Schulter. Jung und Alt
sind gleich empfänglich für diesen Hochgenuß des Zeitungslesers. Die Zeitung
ist so unentbehrlich wie das tägliche Brot, wie die Luft, die man atmet.
Wenn sie einmal ausbleibt, macht ein gewisses Gefühl des Unbehagens sich
geltend, und man ermangelt in solchem Falle gewiß nicht, auf das Postamt,
auf die Zeitungsexpedition oder wer immer diese Unregelmäßigkeit verschuldet
haben mag, weidlich zu schelten.

Glücklicher Zeitungsschreiber, der du solche Szenen erlebst! Wohl mag
dein Herz klopfen in freudiger Erregung, wohl mag sich ein Gefühl der Be¬
friedigung, des Stolzes in deinem Innern regen, daß deine Arbeit gewürdigt
wird, daß du dir das Zeugnis geben kannst, ein unentbehrliches Mitglied der
menschlichen Gesellschaft zu sein, der du ein so dringendes Bedürfnis deiner
Mitmenschen befriedigst! Denn der Zeitungsschreiber, mag er aus einer niedri¬
geren Stufe stehen als der Bücherschreiber, oder gar als jene hohen Lehrer
des Menschengeschlechtes, deren Werke unvergänglichen Wert haben, ist doch


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[0238] Klagen eines Zeitungsschreibers. hältnis zu dem Maße geistiger Anstrengung, welche diese Arbeit erforderte, zu der geistigen Bedeutung und Begabung des Verfassers. Je tiefer und gründ¬ licher ein Schriftsteller irgend einen Gegenstand des Wissens oder gar die für den denkenden Menschen so anziehenden Fragen uach deu Rätseln des Daseins und dem Ursprung aller Dinge behandelt, desto mehr entfremdet er sich der Denkweise der großen Mehrzahl, desto enger ist der Leserkreis, den er sich ver¬ schaffen kann. Wie schlecht hätte es nicht um manchen großen Denker gestanden, wenn ihm der Absatz seiner Werke den Lebensunterhalt hätte verschaffen sollen! Aber auch die Empfänglichkeit für die Schönheiten der Literatur ist wohl weniger verbreitet, als man annehmen sollte, und die weitere Verbreitung der Werke manches gefeierten Dichters mag manchmal mehr dem Ruhm eines großen Namens zuzuschreiben sein, als dem Genusse, den der Leser davon empfindet. Aber nicht die Schriftstellerei höheren Ranges wollte ich besprechen, viel¬ mehr ist es meine Absicht, auf einem Gebiete, welches doch der Fassungskraft und der Denkweise der Mehrzahl viel näher liegt, dem der Tagespresse, nach¬ zuweisen, daß auch hier die große Masse der Lesenden der innern Bedeutung schriftstellerischer Leistungen keineswegs gerecht zu werden vermag. Das Lesen einer Zeitung ist heute ein unentbehrliches Bedürfnis geworden. In die nie¬ drigsten Hütten hält nachgerade die Zeitung ihren Eingang, denn wer für sich allein die Mittel nicht hat, hält sie doch mit einem oder mehreren Nachbarn zusammen. Man mag einkehren, in welchem Hause man will, in der Stadt oder auf dem Lande, bei Gebildeten oder bei Ungebildeten, so wird man finden, daß die Zeit, wo die Zeitung ins Haus gebracht wird, mit einer gewissen Spannung und Ungeduld erwartet wird. Und ist die Ersehnte da, so können kaum die Bedürfnisse der Leselustigen zeitig genug befriedigt werden. Man reißt einander das Blatt aus der Hand, oder mehrere Personen gleichzeitig sehen dem Glücklichen, der es zuerst erfaßte, über die Schulter. Jung und Alt sind gleich empfänglich für diesen Hochgenuß des Zeitungslesers. Die Zeitung ist so unentbehrlich wie das tägliche Brot, wie die Luft, die man atmet. Wenn sie einmal ausbleibt, macht ein gewisses Gefühl des Unbehagens sich geltend, und man ermangelt in solchem Falle gewiß nicht, auf das Postamt, auf die Zeitungsexpedition oder wer immer diese Unregelmäßigkeit verschuldet haben mag, weidlich zu schelten. Glücklicher Zeitungsschreiber, der du solche Szenen erlebst! Wohl mag dein Herz klopfen in freudiger Erregung, wohl mag sich ein Gefühl der Be¬ friedigung, des Stolzes in deinem Innern regen, daß deine Arbeit gewürdigt wird, daß du dir das Zeugnis geben kannst, ein unentbehrliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein, der du ein so dringendes Bedürfnis deiner Mitmenschen befriedigst! Denn der Zeitungsschreiber, mag er aus einer niedri¬ geren Stufe stehen als der Bücherschreiber, oder gar als jene hohen Lehrer des Menschengeschlechtes, deren Werke unvergänglichen Wert haben, ist doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/238>, abgerufen am 14.05.2024.