Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Wucher auf dem Lande.

Angenblick zu thun, zu lassen, zu sagen und zu glauben hat. Man lese im
Thomas von Kempen, um die Seligkeit einer völlig mönchischen Bestimmtheit
durch eine feste Autorität lebhaft zu empfinden.

Diese Auflösung der volkswirtschaftlichen Glaubenssicherheit ist wesentlich
mit veranlaßt worden durch die Schriften, die der Verein für Sozialpolitik
veröffentlicht hat. Er hat eine Reihe von Untersuchungen herausgegeben
(Leipzig, Duncker und Humblot, bis jetzt 35 Bände), die in gewissem Maße
Börnes Wunsch erfüllen, insofern sie zwar die Meinungen nicht ausschließe",
was ja abgeschmackt wäre, aber doch die Thatsachen vor allem ehren, auch die
"impertinentesten" Thatsachen nicht verschweigen, die gar nicht in das geheiligte
System passen. Sie haben anfangs eine etwas einsame Stellung gehabt, dürfen
aber jetzt ihre Bestrebungen für leidlich anerkannt ansehen. Ein Blick ans die
Titel der Schriften des Vereins und die Namen seiner Mitglieder erivcckt die
bestimmte Vorstellung, daß in der Achtung der Besten in unserm Vaterlande
ein volkswirtschaftlicher Umschwung stattgefunden hat. Gewiß nicht bloß durch
Schriften, auch nicht durch die des Vereins für Sozialpolitik ist dieser Um¬
schwung bewirkt worden. Die Not der Zeit sprach ein gewichtiges Wort mit,
und vor allem war der praktische Vorgang des gewaltigen Reichskanzlers in
der Zollfrage, der sozialen Frage (der Staatshilfe und genossenschaftlichen
Organisation) und in der sonstigen Freimachung von alten Überlieferungen von
entscheidender Wichtigkeit. Denn es sind die Thaten, die die Volkskreise be¬
stimmen. Aber ein überaus wichtiger Umstand in der Wendung zum Besseren
und eine Fundgrube für die noch ausstehenden Reformen in Gesetzgebung, Ver¬
waltung und Vereinsbildung bleiben jene Sammlungen volkswirtschaftlicher
Thatsachen doch, die wir in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik besitzen.

Wir richten die Aufmerksamkeit diesmal nur auf den neuesten Band, der
nicht weniger als siebenundzwanzig kleinere oder größere Abhandlungen über
Wucher auf dem Lande enthält. Nach Anleitung eines Fragebogens, den der
Verein mit Hilfe eines sachkundige" Herrn (H. Thiel in Berlin) aufgestellt und
versandt hatte, behandeln die Berichte die Wncherzuständc, vom Westen nach
dem Osten Deutschlands hin fortschreitend, im Reichsland, in Baden, Württem¬
berg, Hohenzollern, Hessen, Baiern, der Rheinpfalz, im preußischen Saargebiet, in
den Dörfern um Trier, Wiesbaden, Kassel, in Westfalen, Hannover, Oldenburg,
der Provinz Sachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Brandenburg, dem König¬
reich Sachsen, Mecklenburg, Posen, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ost¬
preußen.

Es ist selbstverständlich, daß die verschiednen Berichterstatter ihre Aufgabe
ungleich angefaßt haben; trotzdem ist das Studium des Bandes reich an An¬
regung und^ um es gleich hier zu sagen, es bietet mich öfter zu einer gewissen
Aufregung Anlaß. Vielleicht geht es noch andern Leuten so wie mir, daß sich
ihnen bei vielen Beispielen von Wucherfällen unwillkürlich die Hand ballt.


Der Wucher auf dem Lande.

Angenblick zu thun, zu lassen, zu sagen und zu glauben hat. Man lese im
Thomas von Kempen, um die Seligkeit einer völlig mönchischen Bestimmtheit
durch eine feste Autorität lebhaft zu empfinden.

Diese Auflösung der volkswirtschaftlichen Glaubenssicherheit ist wesentlich
mit veranlaßt worden durch die Schriften, die der Verein für Sozialpolitik
veröffentlicht hat. Er hat eine Reihe von Untersuchungen herausgegeben
(Leipzig, Duncker und Humblot, bis jetzt 35 Bände), die in gewissem Maße
Börnes Wunsch erfüllen, insofern sie zwar die Meinungen nicht ausschließe»,
was ja abgeschmackt wäre, aber doch die Thatsachen vor allem ehren, auch die
„impertinentesten" Thatsachen nicht verschweigen, die gar nicht in das geheiligte
System passen. Sie haben anfangs eine etwas einsame Stellung gehabt, dürfen
aber jetzt ihre Bestrebungen für leidlich anerkannt ansehen. Ein Blick ans die
Titel der Schriften des Vereins und die Namen seiner Mitglieder erivcckt die
bestimmte Vorstellung, daß in der Achtung der Besten in unserm Vaterlande
ein volkswirtschaftlicher Umschwung stattgefunden hat. Gewiß nicht bloß durch
Schriften, auch nicht durch die des Vereins für Sozialpolitik ist dieser Um¬
schwung bewirkt worden. Die Not der Zeit sprach ein gewichtiges Wort mit,
und vor allem war der praktische Vorgang des gewaltigen Reichskanzlers in
der Zollfrage, der sozialen Frage (der Staatshilfe und genossenschaftlichen
Organisation) und in der sonstigen Freimachung von alten Überlieferungen von
entscheidender Wichtigkeit. Denn es sind die Thaten, die die Volkskreise be¬
stimmen. Aber ein überaus wichtiger Umstand in der Wendung zum Besseren
und eine Fundgrube für die noch ausstehenden Reformen in Gesetzgebung, Ver¬
waltung und Vereinsbildung bleiben jene Sammlungen volkswirtschaftlicher
Thatsachen doch, die wir in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik besitzen.

Wir richten die Aufmerksamkeit diesmal nur auf den neuesten Band, der
nicht weniger als siebenundzwanzig kleinere oder größere Abhandlungen über
Wucher auf dem Lande enthält. Nach Anleitung eines Fragebogens, den der
Verein mit Hilfe eines sachkundige» Herrn (H. Thiel in Berlin) aufgestellt und
versandt hatte, behandeln die Berichte die Wncherzuständc, vom Westen nach
dem Osten Deutschlands hin fortschreitend, im Reichsland, in Baden, Württem¬
berg, Hohenzollern, Hessen, Baiern, der Rheinpfalz, im preußischen Saargebiet, in
den Dörfern um Trier, Wiesbaden, Kassel, in Westfalen, Hannover, Oldenburg,
der Provinz Sachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Brandenburg, dem König¬
reich Sachsen, Mecklenburg, Posen, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ost¬
preußen.

Es ist selbstverständlich, daß die verschiednen Berichterstatter ihre Aufgabe
ungleich angefaßt haben; trotzdem ist das Studium des Bandes reich an An¬
regung und^ um es gleich hier zu sagen, es bietet mich öfter zu einer gewissen
Aufregung Anlaß. Vielleicht geht es noch andern Leuten so wie mir, daß sich
ihnen bei vielen Beispielen von Wucherfällen unwillkürlich die Hand ballt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0258" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201037"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Wucher auf dem Lande.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_762" prev="#ID_761"> Angenblick zu thun, zu lassen, zu sagen und zu glauben hat. Man lese im<lb/>
Thomas von Kempen, um die Seligkeit einer völlig mönchischen Bestimmtheit<lb/>
durch eine feste Autorität lebhaft zu empfinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_763"> Diese Auflösung der volkswirtschaftlichen Glaubenssicherheit ist wesentlich<lb/>
mit veranlaßt worden durch die Schriften, die der Verein für Sozialpolitik<lb/>
veröffentlicht hat. Er hat eine Reihe von Untersuchungen herausgegeben<lb/>
(Leipzig, Duncker und Humblot, bis jetzt 35 Bände), die in gewissem Maße<lb/>
Börnes Wunsch erfüllen, insofern sie zwar die Meinungen nicht ausschließe»,<lb/>
was ja abgeschmackt wäre, aber doch die Thatsachen vor allem ehren, auch die<lb/>
&#x201E;impertinentesten" Thatsachen nicht verschweigen, die gar nicht in das geheiligte<lb/>
System passen. Sie haben anfangs eine etwas einsame Stellung gehabt, dürfen<lb/>
aber jetzt ihre Bestrebungen für leidlich anerkannt ansehen. Ein Blick ans die<lb/>
Titel der Schriften des Vereins und die Namen seiner Mitglieder erivcckt die<lb/>
bestimmte Vorstellung, daß in der Achtung der Besten in unserm Vaterlande<lb/>
ein volkswirtschaftlicher Umschwung stattgefunden hat. Gewiß nicht bloß durch<lb/>
Schriften, auch nicht durch die des Vereins für Sozialpolitik ist dieser Um¬<lb/>
schwung bewirkt worden. Die Not der Zeit sprach ein gewichtiges Wort mit,<lb/>
und vor allem war der praktische Vorgang des gewaltigen Reichskanzlers in<lb/>
der Zollfrage, der sozialen Frage (der Staatshilfe und genossenschaftlichen<lb/>
Organisation) und in der sonstigen Freimachung von alten Überlieferungen von<lb/>
entscheidender Wichtigkeit. Denn es sind die Thaten, die die Volkskreise be¬<lb/>
stimmen. Aber ein überaus wichtiger Umstand in der Wendung zum Besseren<lb/>
und eine Fundgrube für die noch ausstehenden Reformen in Gesetzgebung, Ver¬<lb/>
waltung und Vereinsbildung bleiben jene Sammlungen volkswirtschaftlicher<lb/>
Thatsachen doch, die wir in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik besitzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_764"> Wir richten die Aufmerksamkeit diesmal nur auf den neuesten Band, der<lb/>
nicht weniger als siebenundzwanzig kleinere oder größere Abhandlungen über<lb/>
Wucher auf dem Lande enthält. Nach Anleitung eines Fragebogens, den der<lb/>
Verein mit Hilfe eines sachkundige» Herrn (H. Thiel in Berlin) aufgestellt und<lb/>
versandt hatte, behandeln die Berichte die Wncherzuständc, vom Westen nach<lb/>
dem Osten Deutschlands hin fortschreitend, im Reichsland, in Baden, Württem¬<lb/>
berg, Hohenzollern, Hessen, Baiern, der Rheinpfalz, im preußischen Saargebiet, in<lb/>
den Dörfern um Trier, Wiesbaden, Kassel, in Westfalen, Hannover, Oldenburg,<lb/>
der Provinz Sachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Brandenburg, dem König¬<lb/>
reich Sachsen, Mecklenburg, Posen, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ost¬<lb/>
preußen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_765" next="#ID_766"> Es ist selbstverständlich, daß die verschiednen Berichterstatter ihre Aufgabe<lb/>
ungleich angefaßt haben; trotzdem ist das Studium des Bandes reich an An¬<lb/>
regung und^ um es gleich hier zu sagen, es bietet mich öfter zu einer gewissen<lb/>
Aufregung Anlaß. Vielleicht geht es noch andern Leuten so wie mir, daß sich<lb/>
ihnen bei vielen Beispielen von Wucherfällen unwillkürlich die Hand ballt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0258] Der Wucher auf dem Lande. Angenblick zu thun, zu lassen, zu sagen und zu glauben hat. Man lese im Thomas von Kempen, um die Seligkeit einer völlig mönchischen Bestimmtheit durch eine feste Autorität lebhaft zu empfinden. Diese Auflösung der volkswirtschaftlichen Glaubenssicherheit ist wesentlich mit veranlaßt worden durch die Schriften, die der Verein für Sozialpolitik veröffentlicht hat. Er hat eine Reihe von Untersuchungen herausgegeben (Leipzig, Duncker und Humblot, bis jetzt 35 Bände), die in gewissem Maße Börnes Wunsch erfüllen, insofern sie zwar die Meinungen nicht ausschließe», was ja abgeschmackt wäre, aber doch die Thatsachen vor allem ehren, auch die „impertinentesten" Thatsachen nicht verschweigen, die gar nicht in das geheiligte System passen. Sie haben anfangs eine etwas einsame Stellung gehabt, dürfen aber jetzt ihre Bestrebungen für leidlich anerkannt ansehen. Ein Blick ans die Titel der Schriften des Vereins und die Namen seiner Mitglieder erivcckt die bestimmte Vorstellung, daß in der Achtung der Besten in unserm Vaterlande ein volkswirtschaftlicher Umschwung stattgefunden hat. Gewiß nicht bloß durch Schriften, auch nicht durch die des Vereins für Sozialpolitik ist dieser Um¬ schwung bewirkt worden. Die Not der Zeit sprach ein gewichtiges Wort mit, und vor allem war der praktische Vorgang des gewaltigen Reichskanzlers in der Zollfrage, der sozialen Frage (der Staatshilfe und genossenschaftlichen Organisation) und in der sonstigen Freimachung von alten Überlieferungen von entscheidender Wichtigkeit. Denn es sind die Thaten, die die Volkskreise be¬ stimmen. Aber ein überaus wichtiger Umstand in der Wendung zum Besseren und eine Fundgrube für die noch ausstehenden Reformen in Gesetzgebung, Ver¬ waltung und Vereinsbildung bleiben jene Sammlungen volkswirtschaftlicher Thatsachen doch, die wir in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik besitzen. Wir richten die Aufmerksamkeit diesmal nur auf den neuesten Band, der nicht weniger als siebenundzwanzig kleinere oder größere Abhandlungen über Wucher auf dem Lande enthält. Nach Anleitung eines Fragebogens, den der Verein mit Hilfe eines sachkundige» Herrn (H. Thiel in Berlin) aufgestellt und versandt hatte, behandeln die Berichte die Wncherzuständc, vom Westen nach dem Osten Deutschlands hin fortschreitend, im Reichsland, in Baden, Württem¬ berg, Hohenzollern, Hessen, Baiern, der Rheinpfalz, im preußischen Saargebiet, in den Dörfern um Trier, Wiesbaden, Kassel, in Westfalen, Hannover, Oldenburg, der Provinz Sachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein, Brandenburg, dem König¬ reich Sachsen, Mecklenburg, Posen, Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ost¬ preußen. Es ist selbstverständlich, daß die verschiednen Berichterstatter ihre Aufgabe ungleich angefaßt haben; trotzdem ist das Studium des Bandes reich an An¬ regung und^ um es gleich hier zu sagen, es bietet mich öfter zu einer gewissen Aufregung Anlaß. Vielleicht geht es noch andern Leuten so wie mir, daß sich ihnen bei vielen Beispielen von Wucherfällen unwillkürlich die Hand ballt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/258
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/258>, abgerufen am 14.05.2024.