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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Aus einem Uriegstagebuche.

Zahl der Verwundeten. Alle verfügbaren Räume waren längst ermittelt. Die
Kasernen, einige Kliniken, große Vvlksschulgebäude, das Gymnasium, die Ge¬
werbeschule, große Privatwohnungen, alles wurde mit Hilft der Johanniter
in Stand gesetzt, um Verwundete aufzunehmen. Die anscheinend leicht Verwun¬
deten wurden möglichst bald nach dein Rhein und weiter gesandt. Dennoch war
die Not groß. Auf großen Wagen wurden die neu gebrachten verwundeten
von einer Thür zur andern gefahren und überall gefragt, ob noch eine Mög¬
lichkeit sei, jemand zu verpflegen. So fanden noch viele ein Unterkommen.
Aber auch französische Verwundete wurden gern aufgenommen. Ein Bankier,
der viele Beziehungen zu Frankreich unterhielt, hatte sich eine größere Anzahl
leicht verwundeter französischer Offiziere ausgebeten, denen ihre Burschen Bei¬
stand leisteten. Die Freude über den Sieg ließ die bittern Gefühle gegen die
Feinde, die all das Elend verschuldet hatten, nicht recht aufkommen. Ein Um¬
stand verbitterte ewigen der besten Familien ihre Bereitwilligkeit, ihre Säle zu
Lazareteu umzuwandeln; es war die Not um ärztliche Hilfe. Wie viele Ärzte
auch in den Tagen in den Städten arbeiteten, sie waren in den offiziellen
Stellen so beschäftigt, daß sie nicht auch die zerstreuten Punkte, wo Verwundete
lagen, besuchen konnten. Und wie denn die Ärzte auch Menschen bleiben, so
ist es nicht ganz unbegreiflich, daß eiuer von ihnen einer Dame, die gegen
zwanzig verwundete Preußen in ihrem Hause verpflegte, einen Vorwurf daraus
machte, daß sie so gehandelt habe, da sie doch habe wissen können, wie schwer
sie ärztliche Pflege für die Leute haben werde.

Meine beiden Verwundeten haben es besser, denn ich habe meinen Doktor
im Hause. Der eine ist ein Westfale aus Langschede, durch den Ellenbogen
geschossen; der offizielle Arzt hat ihn für leicht verwundet erklärt, Doktor V.
aber schüttelt den Kopf dazu.*) Der andre Verwundete war in der That leicht
verwundet; Schuß durch die Fußsohle. Ich sah ihn erst gestern. Er war aus
dem Lazaret entfernt worden, ging mit seinem Gewehr über die Straße nach
dem Bahnhof zu, er hinkte und von Zeit zu Zeit lehnte er sich an die nächste
Mauer, finsteren Blickes. Ich wollte nicht glauben, daß er die fünfzehn Mi¬
nuten zum Bahnhof zurücklegen könne, und nahm ihn ins Haus. Auf meine
Fragen gab er Antworten, die mir zeigten, daß er verbittert war über die
Ausweisung aus dem Lazaret uach so mühevoller Kampfesarbeit. Ich tröstete
ihn, schrieb für ihn an seine Frau in der Neumark, und darauf schlief er un¬
unterbrochen zwanzig Stunden. Nun erst konnte man vernünftig mit ihm reden.

Dies ist mir eine Kleinigkeit gegen die großen Ansammlungen von Leid
in den Lazareten selbst. Ich spreche nur von dem, was im Gymnasium er¬
richtet ist. Aula und Klassen sind für diese Zwecke eingerichtet, in einem



Er ist auf seinen Wunsch möglichst bald in seine Heimat transportirt worden, hat
aber noch lange in Numa krank gelegen. Seine Frau schrieb mir, es sei fraglich, ob er je
wieder sein Handwerk (er war Schuster) treiben könne.
Grenzboten III. 1887. 38
Aus einem Uriegstagebuche.

Zahl der Verwundeten. Alle verfügbaren Räume waren längst ermittelt. Die
Kasernen, einige Kliniken, große Vvlksschulgebäude, das Gymnasium, die Ge¬
werbeschule, große Privatwohnungen, alles wurde mit Hilft der Johanniter
in Stand gesetzt, um Verwundete aufzunehmen. Die anscheinend leicht Verwun¬
deten wurden möglichst bald nach dein Rhein und weiter gesandt. Dennoch war
die Not groß. Auf großen Wagen wurden die neu gebrachten verwundeten
von einer Thür zur andern gefahren und überall gefragt, ob noch eine Mög¬
lichkeit sei, jemand zu verpflegen. So fanden noch viele ein Unterkommen.
Aber auch französische Verwundete wurden gern aufgenommen. Ein Bankier,
der viele Beziehungen zu Frankreich unterhielt, hatte sich eine größere Anzahl
leicht verwundeter französischer Offiziere ausgebeten, denen ihre Burschen Bei¬
stand leisteten. Die Freude über den Sieg ließ die bittern Gefühle gegen die
Feinde, die all das Elend verschuldet hatten, nicht recht aufkommen. Ein Um¬
stand verbitterte ewigen der besten Familien ihre Bereitwilligkeit, ihre Säle zu
Lazareteu umzuwandeln; es war die Not um ärztliche Hilfe. Wie viele Ärzte
auch in den Tagen in den Städten arbeiteten, sie waren in den offiziellen
Stellen so beschäftigt, daß sie nicht auch die zerstreuten Punkte, wo Verwundete
lagen, besuchen konnten. Und wie denn die Ärzte auch Menschen bleiben, so
ist es nicht ganz unbegreiflich, daß eiuer von ihnen einer Dame, die gegen
zwanzig verwundete Preußen in ihrem Hause verpflegte, einen Vorwurf daraus
machte, daß sie so gehandelt habe, da sie doch habe wissen können, wie schwer
sie ärztliche Pflege für die Leute haben werde.

Meine beiden Verwundeten haben es besser, denn ich habe meinen Doktor
im Hause. Der eine ist ein Westfale aus Langschede, durch den Ellenbogen
geschossen; der offizielle Arzt hat ihn für leicht verwundet erklärt, Doktor V.
aber schüttelt den Kopf dazu.*) Der andre Verwundete war in der That leicht
verwundet; Schuß durch die Fußsohle. Ich sah ihn erst gestern. Er war aus
dem Lazaret entfernt worden, ging mit seinem Gewehr über die Straße nach
dem Bahnhof zu, er hinkte und von Zeit zu Zeit lehnte er sich an die nächste
Mauer, finsteren Blickes. Ich wollte nicht glauben, daß er die fünfzehn Mi¬
nuten zum Bahnhof zurücklegen könne, und nahm ihn ins Haus. Auf meine
Fragen gab er Antworten, die mir zeigten, daß er verbittert war über die
Ausweisung aus dem Lazaret uach so mühevoller Kampfesarbeit. Ich tröstete
ihn, schrieb für ihn an seine Frau in der Neumark, und darauf schlief er un¬
unterbrochen zwanzig Stunden. Nun erst konnte man vernünftig mit ihm reden.

Dies ist mir eine Kleinigkeit gegen die großen Ansammlungen von Leid
in den Lazareten selbst. Ich spreche nur von dem, was im Gymnasium er¬
richtet ist. Aula und Klassen sind für diese Zwecke eingerichtet, in einem



Er ist auf seinen Wunsch möglichst bald in seine Heimat transportirt worden, hat
aber noch lange in Numa krank gelegen. Seine Frau schrieb mir, es sei fraglich, ob er je
wieder sein Handwerk (er war Schuster) treiben könne.
Grenzboten III. 1887. 38
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[0305] Aus einem Uriegstagebuche. Zahl der Verwundeten. Alle verfügbaren Räume waren längst ermittelt. Die Kasernen, einige Kliniken, große Vvlksschulgebäude, das Gymnasium, die Ge¬ werbeschule, große Privatwohnungen, alles wurde mit Hilft der Johanniter in Stand gesetzt, um Verwundete aufzunehmen. Die anscheinend leicht Verwun¬ deten wurden möglichst bald nach dein Rhein und weiter gesandt. Dennoch war die Not groß. Auf großen Wagen wurden die neu gebrachten verwundeten von einer Thür zur andern gefahren und überall gefragt, ob noch eine Mög¬ lichkeit sei, jemand zu verpflegen. So fanden noch viele ein Unterkommen. Aber auch französische Verwundete wurden gern aufgenommen. Ein Bankier, der viele Beziehungen zu Frankreich unterhielt, hatte sich eine größere Anzahl leicht verwundeter französischer Offiziere ausgebeten, denen ihre Burschen Bei¬ stand leisteten. Die Freude über den Sieg ließ die bittern Gefühle gegen die Feinde, die all das Elend verschuldet hatten, nicht recht aufkommen. Ein Um¬ stand verbitterte ewigen der besten Familien ihre Bereitwilligkeit, ihre Säle zu Lazareteu umzuwandeln; es war die Not um ärztliche Hilfe. Wie viele Ärzte auch in den Tagen in den Städten arbeiteten, sie waren in den offiziellen Stellen so beschäftigt, daß sie nicht auch die zerstreuten Punkte, wo Verwundete lagen, besuchen konnten. Und wie denn die Ärzte auch Menschen bleiben, so ist es nicht ganz unbegreiflich, daß eiuer von ihnen einer Dame, die gegen zwanzig verwundete Preußen in ihrem Hause verpflegte, einen Vorwurf daraus machte, daß sie so gehandelt habe, da sie doch habe wissen können, wie schwer sie ärztliche Pflege für die Leute haben werde. Meine beiden Verwundeten haben es besser, denn ich habe meinen Doktor im Hause. Der eine ist ein Westfale aus Langschede, durch den Ellenbogen geschossen; der offizielle Arzt hat ihn für leicht verwundet erklärt, Doktor V. aber schüttelt den Kopf dazu.*) Der andre Verwundete war in der That leicht verwundet; Schuß durch die Fußsohle. Ich sah ihn erst gestern. Er war aus dem Lazaret entfernt worden, ging mit seinem Gewehr über die Straße nach dem Bahnhof zu, er hinkte und von Zeit zu Zeit lehnte er sich an die nächste Mauer, finsteren Blickes. Ich wollte nicht glauben, daß er die fünfzehn Mi¬ nuten zum Bahnhof zurücklegen könne, und nahm ihn ins Haus. Auf meine Fragen gab er Antworten, die mir zeigten, daß er verbittert war über die Ausweisung aus dem Lazaret uach so mühevoller Kampfesarbeit. Ich tröstete ihn, schrieb für ihn an seine Frau in der Neumark, und darauf schlief er un¬ unterbrochen zwanzig Stunden. Nun erst konnte man vernünftig mit ihm reden. Dies ist mir eine Kleinigkeit gegen die großen Ansammlungen von Leid in den Lazareten selbst. Ich spreche nur von dem, was im Gymnasium er¬ richtet ist. Aula und Klassen sind für diese Zwecke eingerichtet, in einem Er ist auf seinen Wunsch möglichst bald in seine Heimat transportirt worden, hat aber noch lange in Numa krank gelegen. Seine Frau schrieb mir, es sei fraglich, ob er je wieder sein Handwerk (er war Schuster) treiben könne. Grenzboten III. 1887. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/305>, abgerufen am 08.06.2024.