Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Ästhetik des Naturalismus.

hat, was keine, auch bei den kühnsten Flügen des Gedankens und dem höchsten
Schwunge der Stimmung, je entbehren kann; gemeint ist in der Schrift, welche
wir hier im Auge haben: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der
Poesie, Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik von Wilhelm Bölsche
(Leipzig, Carl Reißner, 1887), sobald man genauer zusieht, nur das, was als
"naturalistische" Richtung in Zola und Ibsen, in den Goncourts und ihren
nordischen Schülern zu Tage tritt.

Als^wir diese "Prolegomena" einigemale durchgelesen hatten (sie verdienen
es wohl), fühlten wir uns lebhaft an eine Stelle Macaulays erinnert. Sie
findet sich im siebzehnten Kapitel seiner Geschichte von England und erörtert,
daß der Gründer der Quäker, George Fox, einige Konvertiten gemacht habe,
"denen er mit Ausnahme der Kraft seiner Überzeugung in allen Dingen uner¬
meßlich untergeordnet war. Durch diese Neubekehrten wurden seine rohen Lehren
in eine Form gefeilt, welche etwas weniger abschreckend für den gesunden Ver¬
stand und den guten Geschmack war. Keiner der von ihm aufgestellten Sätze
ward widerrufen, keine unschickliche oder lächerliche Handlung, welche Fox voll¬
bracht oder gebilligt hatte, ward verurteilt; aber was an seinen Theorien und
Handlungen in plumper Weise abgeschmackt war, ward gemildert oder wenigstens
nicht dem Publikum aufgedrängt."

Sollen wir diese Charakteristik ohne weiteres auf den naturalistischen oder,
wie er sich selbst nennt, realistischen Ästhetiker anwenden, welcher mit so edler
Pietät für unsre große Literatur, mit so reinem Wunsche, aufklärend, verstän¬
digend, versöhnend zu wirken, vor dem Publikum erscheint? Wer auf gut Glück
gewisse Sätze der Schrift "Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie"
herausgreift, wie: "Eine realistische Dichtung ganz ohne Ideal, das ist mir etwas
Unverständliches. Im Märchen mag gelegentlich alles schwarz sein. Im Leben
giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen. Aber um den finstern
Bruder, mit dem ihn am Himmel das Gesetz der Schwere verkettet, kreist der
helle Sirius -- neben den kranken Seelen wandeln gesunde. Wer die Welt
schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht verschließen dürfen" oder: "Gerade
den jüngeren, die jetzt so viel Lärm schlagen, kann nicht genug ans Herz gelegt
werden, daß Realisten sein nicht heißen darf, die Fühlung mit den großen Tra¬
ditionen unsrer Literatur verlieren. Vor allem: vergeßt nicht, daß ihr der
deutschen Literatur angehört, daß hinter euch Goethe und Schiller stehen" --
dem lacht vielleicht das Herz, und jedenfalls hat er zunächst die Genugthuung,
daß gesundes Gefühl und gesunde Einsicht nicht überall vom sensationshungrigen
Humbug aufgefressen worden sind.

Leider aber sind Sätze wie die angeführten keine Gewähr für den Geist
und Inhalt der "Prolegomena." Wir glauben dem Verfasser aufs Wort, daß
diese und ähnliche Darlegungen keine Aushängeschilder, sondern seim -- ja wie
sollen wir's nennen -- seine Nebenbeimeiuung, seine Supplementürüberzeugung


Zur Ästhetik des Naturalismus.

hat, was keine, auch bei den kühnsten Flügen des Gedankens und dem höchsten
Schwunge der Stimmung, je entbehren kann; gemeint ist in der Schrift, welche
wir hier im Auge haben: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der
Poesie, Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik von Wilhelm Bölsche
(Leipzig, Carl Reißner, 1887), sobald man genauer zusieht, nur das, was als
„naturalistische" Richtung in Zola und Ibsen, in den Goncourts und ihren
nordischen Schülern zu Tage tritt.

Als^wir diese „Prolegomena" einigemale durchgelesen hatten (sie verdienen
es wohl), fühlten wir uns lebhaft an eine Stelle Macaulays erinnert. Sie
findet sich im siebzehnten Kapitel seiner Geschichte von England und erörtert,
daß der Gründer der Quäker, George Fox, einige Konvertiten gemacht habe,
„denen er mit Ausnahme der Kraft seiner Überzeugung in allen Dingen uner¬
meßlich untergeordnet war. Durch diese Neubekehrten wurden seine rohen Lehren
in eine Form gefeilt, welche etwas weniger abschreckend für den gesunden Ver¬
stand und den guten Geschmack war. Keiner der von ihm aufgestellten Sätze
ward widerrufen, keine unschickliche oder lächerliche Handlung, welche Fox voll¬
bracht oder gebilligt hatte, ward verurteilt; aber was an seinen Theorien und
Handlungen in plumper Weise abgeschmackt war, ward gemildert oder wenigstens
nicht dem Publikum aufgedrängt."

Sollen wir diese Charakteristik ohne weiteres auf den naturalistischen oder,
wie er sich selbst nennt, realistischen Ästhetiker anwenden, welcher mit so edler
Pietät für unsre große Literatur, mit so reinem Wunsche, aufklärend, verstän¬
digend, versöhnend zu wirken, vor dem Publikum erscheint? Wer auf gut Glück
gewisse Sätze der Schrift „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie"
herausgreift, wie: „Eine realistische Dichtung ganz ohne Ideal, das ist mir etwas
Unverständliches. Im Märchen mag gelegentlich alles schwarz sein. Im Leben
giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen. Aber um den finstern
Bruder, mit dem ihn am Himmel das Gesetz der Schwere verkettet, kreist der
helle Sirius — neben den kranken Seelen wandeln gesunde. Wer die Welt
schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht verschließen dürfen" oder: „Gerade
den jüngeren, die jetzt so viel Lärm schlagen, kann nicht genug ans Herz gelegt
werden, daß Realisten sein nicht heißen darf, die Fühlung mit den großen Tra¬
ditionen unsrer Literatur verlieren. Vor allem: vergeßt nicht, daß ihr der
deutschen Literatur angehört, daß hinter euch Goethe und Schiller stehen" —
dem lacht vielleicht das Herz, und jedenfalls hat er zunächst die Genugthuung,
daß gesundes Gefühl und gesunde Einsicht nicht überall vom sensationshungrigen
Humbug aufgefressen worden sind.

Leider aber sind Sätze wie die angeführten keine Gewähr für den Geist
und Inhalt der „Prolegomena." Wir glauben dem Verfasser aufs Wort, daß
diese und ähnliche Darlegungen keine Aushängeschilder, sondern seim — ja wie
sollen wir's nennen — seine Nebenbeimeiuung, seine Supplementürüberzeugung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0381" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201160"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Ästhetik des Naturalismus.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1159" prev="#ID_1158"> hat, was keine, auch bei den kühnsten Flügen des Gedankens und dem höchsten<lb/>
Schwunge der Stimmung, je entbehren kann; gemeint ist in der Schrift, welche<lb/>
wir hier im Auge haben: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der<lb/>
Poesie, Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik von Wilhelm Bölsche<lb/>
(Leipzig, Carl Reißner, 1887), sobald man genauer zusieht, nur das, was als<lb/>
&#x201E;naturalistische" Richtung in Zola und Ibsen, in den Goncourts und ihren<lb/>
nordischen Schülern zu Tage tritt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1160"> Als^wir diese &#x201E;Prolegomena" einigemale durchgelesen hatten (sie verdienen<lb/>
es wohl), fühlten wir uns lebhaft an eine Stelle Macaulays erinnert. Sie<lb/>
findet sich im siebzehnten Kapitel seiner Geschichte von England und erörtert,<lb/>
daß der Gründer der Quäker, George Fox, einige Konvertiten gemacht habe,<lb/>
&#x201E;denen er mit Ausnahme der Kraft seiner Überzeugung in allen Dingen uner¬<lb/>
meßlich untergeordnet war. Durch diese Neubekehrten wurden seine rohen Lehren<lb/>
in eine Form gefeilt, welche etwas weniger abschreckend für den gesunden Ver¬<lb/>
stand und den guten Geschmack war. Keiner der von ihm aufgestellten Sätze<lb/>
ward widerrufen, keine unschickliche oder lächerliche Handlung, welche Fox voll¬<lb/>
bracht oder gebilligt hatte, ward verurteilt; aber was an seinen Theorien und<lb/>
Handlungen in plumper Weise abgeschmackt war, ward gemildert oder wenigstens<lb/>
nicht dem Publikum aufgedrängt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1161"> Sollen wir diese Charakteristik ohne weiteres auf den naturalistischen oder,<lb/>
wie er sich selbst nennt, realistischen Ästhetiker anwenden, welcher mit so edler<lb/>
Pietät für unsre große Literatur, mit so reinem Wunsche, aufklärend, verstän¬<lb/>
digend, versöhnend zu wirken, vor dem Publikum erscheint? Wer auf gut Glück<lb/>
gewisse Sätze der Schrift &#x201E;Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie"<lb/>
herausgreift, wie: &#x201E;Eine realistische Dichtung ganz ohne Ideal, das ist mir etwas<lb/>
Unverständliches. Im Märchen mag gelegentlich alles schwarz sein. Im Leben<lb/>
giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen. Aber um den finstern<lb/>
Bruder, mit dem ihn am Himmel das Gesetz der Schwere verkettet, kreist der<lb/>
helle Sirius &#x2014; neben den kranken Seelen wandeln gesunde. Wer die Welt<lb/>
schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht verschließen dürfen" oder: &#x201E;Gerade<lb/>
den jüngeren, die jetzt so viel Lärm schlagen, kann nicht genug ans Herz gelegt<lb/>
werden, daß Realisten sein nicht heißen darf, die Fühlung mit den großen Tra¬<lb/>
ditionen unsrer Literatur verlieren. Vor allem: vergeßt nicht, daß ihr der<lb/>
deutschen Literatur angehört, daß hinter euch Goethe und Schiller stehen" &#x2014;<lb/>
dem lacht vielleicht das Herz, und jedenfalls hat er zunächst die Genugthuung,<lb/>
daß gesundes Gefühl und gesunde Einsicht nicht überall vom sensationshungrigen<lb/>
Humbug aufgefressen worden sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1162" next="#ID_1163"> Leider aber sind Sätze wie die angeführten keine Gewähr für den Geist<lb/>
und Inhalt der &#x201E;Prolegomena." Wir glauben dem Verfasser aufs Wort, daß<lb/>
diese und ähnliche Darlegungen keine Aushängeschilder, sondern seim &#x2014; ja wie<lb/>
sollen wir's nennen &#x2014; seine Nebenbeimeiuung, seine Supplementürüberzeugung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0381] Zur Ästhetik des Naturalismus. hat, was keine, auch bei den kühnsten Flügen des Gedankens und dem höchsten Schwunge der Stimmung, je entbehren kann; gemeint ist in der Schrift, welche wir hier im Auge haben: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik von Wilhelm Bölsche (Leipzig, Carl Reißner, 1887), sobald man genauer zusieht, nur das, was als „naturalistische" Richtung in Zola und Ibsen, in den Goncourts und ihren nordischen Schülern zu Tage tritt. Als^wir diese „Prolegomena" einigemale durchgelesen hatten (sie verdienen es wohl), fühlten wir uns lebhaft an eine Stelle Macaulays erinnert. Sie findet sich im siebzehnten Kapitel seiner Geschichte von England und erörtert, daß der Gründer der Quäker, George Fox, einige Konvertiten gemacht habe, „denen er mit Ausnahme der Kraft seiner Überzeugung in allen Dingen uner¬ meßlich untergeordnet war. Durch diese Neubekehrten wurden seine rohen Lehren in eine Form gefeilt, welche etwas weniger abschreckend für den gesunden Ver¬ stand und den guten Geschmack war. Keiner der von ihm aufgestellten Sätze ward widerrufen, keine unschickliche oder lächerliche Handlung, welche Fox voll¬ bracht oder gebilligt hatte, ward verurteilt; aber was an seinen Theorien und Handlungen in plumper Weise abgeschmackt war, ward gemildert oder wenigstens nicht dem Publikum aufgedrängt." Sollen wir diese Charakteristik ohne weiteres auf den naturalistischen oder, wie er sich selbst nennt, realistischen Ästhetiker anwenden, welcher mit so edler Pietät für unsre große Literatur, mit so reinem Wunsche, aufklärend, verstän¬ digend, versöhnend zu wirken, vor dem Publikum erscheint? Wer auf gut Glück gewisse Sätze der Schrift „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie" herausgreift, wie: „Eine realistische Dichtung ganz ohne Ideal, das ist mir etwas Unverständliches. Im Märchen mag gelegentlich alles schwarz sein. Im Leben giebt es dunkle Sterne und dunkle Menschenherzen. Aber um den finstern Bruder, mit dem ihn am Himmel das Gesetz der Schwere verkettet, kreist der helle Sirius — neben den kranken Seelen wandeln gesunde. Wer die Welt schildern will, wie sie ist, wird sich dem nicht verschließen dürfen" oder: „Gerade den jüngeren, die jetzt so viel Lärm schlagen, kann nicht genug ans Herz gelegt werden, daß Realisten sein nicht heißen darf, die Fühlung mit den großen Tra¬ ditionen unsrer Literatur verlieren. Vor allem: vergeßt nicht, daß ihr der deutschen Literatur angehört, daß hinter euch Goethe und Schiller stehen" — dem lacht vielleicht das Herz, und jedenfalls hat er zunächst die Genugthuung, daß gesundes Gefühl und gesunde Einsicht nicht überall vom sensationshungrigen Humbug aufgefressen worden sind. Leider aber sind Sätze wie die angeführten keine Gewähr für den Geist und Inhalt der „Prolegomena." Wir glauben dem Verfasser aufs Wort, daß diese und ähnliche Darlegungen keine Aushängeschilder, sondern seim — ja wie sollen wir's nennen — seine Nebenbeimeiuung, seine Supplementürüberzeugung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/381
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/381>, abgerufen am 14.05.2024.