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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Naturalismus.

sind. In der Hauptsache erweist sich aber die Schrift als ein neuer Versuch,
den Begriff einer nicht wissenschaftlichen, aber von der Wissenschaft abhängenden
Poesie unserm Publikum geläufig zu machen und Herrn Emil Zola (vor dessen
künstlerischen und bessern literarischen Eigenschaften wir unsre Hochachtung oft
genug bezeugt haben, um uns dies hier ersparen zu dürfen) als den ma߬
gebenden, auf dem besten Wege befindlichen Schriftsteller der Zeit hinzustellen.
W. Bölsche ist ein zu gebildeter Mann, um nicht zu wissen, daß der Aber¬
glaube, die "naturwissenschaftliche Bildung" werde an sich große Dichter und
Dichterwerke hervorbringen, ungefähr auf gleicher Linie mit dem Aberglauben
unsrer gelehrten Schlesier des siebzehnten Jahrhunderts steht, die von einem,
der "in der griechischen und lateinischen Sprache wohl durchtrieben" war, er¬
staunliche poetische Leistungen erwarteten. Der Verfasser der "Prolegomena"
gesteht zu, daß seine "Prämissen," von denen gleich noch zu sprechen sein wird,
nicht die Naturgeschichte des poetischen Genius selbst umschließen. "Geniale
Anlage muß der Mensch besitzen, um überhaupt als Dichter auftreten zu können,
und zwar eine ganz bestimmte Form genialer Anlage, die sich von der für
andre Geistesgebiete individuell unterscheidet." Diese Anlage, die spezifisch
dichterische Begabung vorausgesetzt, die, Herr Bölsche und hunderttausend Na¬
turalisten mögen sagen, was sie wollen, mit der schöpferischen Phantasie und
der erhöhten Teilnahme an den Erscheinungen, an der Fülle des Lebens zu¬
sammenfällt, ist es nun die wohl erwogene Meinung des Verfassers, daß die
Poesie vom Schatz sicherer Erkenntnisse über Menschen und Naturerscheinungen,
den die neueste Naturwissenschaft darbiete, sich das Beste aneignen und frühere
irrige Grundanschauungen fahren lassen müsse. Es kann, nach Herrn Bölsche,
nicht mehr ungerügt hingehen, wenn die Poesie eine Psychologie bei den
lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwertet, die durch die Fortschritte der
modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden als falsch dargethan sei.
Er erhebt die Forderung, daß alle ernste Poesie, die mehr als Fabnlirkunst für
Kiuder sein wolle, sich fortan auf Grund des psychologischen Experiments er¬
heben müsse, daß sie hinter sich werfen müsse die alte Idee der Willensfreiheit,
des willkürlichen Handelns und Denkens (als ob die echte Poesie, die immer
aus dem Leben geschöpft hat, je irgendwie und irgendwann dem Begriffe der
Gesetzmäßigkeit alles Lebens, aller Handlungen und psychischen Vorgänge wider¬
sprochen hätte), abrechnen müsse mit dem Phantom der persönlichen Unsterb¬
lichkeit (während Herr Bölsche ein paar Seiten weiter bereitwillig einräumt,
daß hinter der physischen Welt eine andre, wenn auch unbekannte, stehe, von
welcher der scharfsinnigste Naturforscher so viel wisse wie ein Bergmann oder
Köhler), sich entwinden müsse dem sentimentalen, nervös überspannten Liebes-
begrisf, der alles Normale, Natürliche, Gesetzmäßige aufhebe, sich hingeben
müsse an das "realistische Ideal," welches die seitherige historische Dichtung nur
als berechtigte Pionierarbeit ansehen könne. "Größer und glänzender als sie,

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Zur Ästhetik des Naturalismus.

sind. In der Hauptsache erweist sich aber die Schrift als ein neuer Versuch,
den Begriff einer nicht wissenschaftlichen, aber von der Wissenschaft abhängenden
Poesie unserm Publikum geläufig zu machen und Herrn Emil Zola (vor dessen
künstlerischen und bessern literarischen Eigenschaften wir unsre Hochachtung oft
genug bezeugt haben, um uns dies hier ersparen zu dürfen) als den ma߬
gebenden, auf dem besten Wege befindlichen Schriftsteller der Zeit hinzustellen.
W. Bölsche ist ein zu gebildeter Mann, um nicht zu wissen, daß der Aber¬
glaube, die „naturwissenschaftliche Bildung" werde an sich große Dichter und
Dichterwerke hervorbringen, ungefähr auf gleicher Linie mit dem Aberglauben
unsrer gelehrten Schlesier des siebzehnten Jahrhunderts steht, die von einem,
der „in der griechischen und lateinischen Sprache wohl durchtrieben" war, er¬
staunliche poetische Leistungen erwarteten. Der Verfasser der „Prolegomena"
gesteht zu, daß seine „Prämissen," von denen gleich noch zu sprechen sein wird,
nicht die Naturgeschichte des poetischen Genius selbst umschließen. „Geniale
Anlage muß der Mensch besitzen, um überhaupt als Dichter auftreten zu können,
und zwar eine ganz bestimmte Form genialer Anlage, die sich von der für
andre Geistesgebiete individuell unterscheidet." Diese Anlage, die spezifisch
dichterische Begabung vorausgesetzt, die, Herr Bölsche und hunderttausend Na¬
turalisten mögen sagen, was sie wollen, mit der schöpferischen Phantasie und
der erhöhten Teilnahme an den Erscheinungen, an der Fülle des Lebens zu¬
sammenfällt, ist es nun die wohl erwogene Meinung des Verfassers, daß die
Poesie vom Schatz sicherer Erkenntnisse über Menschen und Naturerscheinungen,
den die neueste Naturwissenschaft darbiete, sich das Beste aneignen und frühere
irrige Grundanschauungen fahren lassen müsse. Es kann, nach Herrn Bölsche,
nicht mehr ungerügt hingehen, wenn die Poesie eine Psychologie bei den
lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwertet, die durch die Fortschritte der
modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden als falsch dargethan sei.
Er erhebt die Forderung, daß alle ernste Poesie, die mehr als Fabnlirkunst für
Kiuder sein wolle, sich fortan auf Grund des psychologischen Experiments er¬
heben müsse, daß sie hinter sich werfen müsse die alte Idee der Willensfreiheit,
des willkürlichen Handelns und Denkens (als ob die echte Poesie, die immer
aus dem Leben geschöpft hat, je irgendwie und irgendwann dem Begriffe der
Gesetzmäßigkeit alles Lebens, aller Handlungen und psychischen Vorgänge wider¬
sprochen hätte), abrechnen müsse mit dem Phantom der persönlichen Unsterb¬
lichkeit (während Herr Bölsche ein paar Seiten weiter bereitwillig einräumt,
daß hinter der physischen Welt eine andre, wenn auch unbekannte, stehe, von
welcher der scharfsinnigste Naturforscher so viel wisse wie ein Bergmann oder
Köhler), sich entwinden müsse dem sentimentalen, nervös überspannten Liebes-
begrisf, der alles Normale, Natürliche, Gesetzmäßige aufhebe, sich hingeben
müsse an das „realistische Ideal," welches die seitherige historische Dichtung nur
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[0382] Zur Ästhetik des Naturalismus. sind. In der Hauptsache erweist sich aber die Schrift als ein neuer Versuch, den Begriff einer nicht wissenschaftlichen, aber von der Wissenschaft abhängenden Poesie unserm Publikum geläufig zu machen und Herrn Emil Zola (vor dessen künstlerischen und bessern literarischen Eigenschaften wir unsre Hochachtung oft genug bezeugt haben, um uns dies hier ersparen zu dürfen) als den ma߬ gebenden, auf dem besten Wege befindlichen Schriftsteller der Zeit hinzustellen. W. Bölsche ist ein zu gebildeter Mann, um nicht zu wissen, daß der Aber¬ glaube, die „naturwissenschaftliche Bildung" werde an sich große Dichter und Dichterwerke hervorbringen, ungefähr auf gleicher Linie mit dem Aberglauben unsrer gelehrten Schlesier des siebzehnten Jahrhunderts steht, die von einem, der „in der griechischen und lateinischen Sprache wohl durchtrieben" war, er¬ staunliche poetische Leistungen erwarteten. Der Verfasser der „Prolegomena" gesteht zu, daß seine „Prämissen," von denen gleich noch zu sprechen sein wird, nicht die Naturgeschichte des poetischen Genius selbst umschließen. „Geniale Anlage muß der Mensch besitzen, um überhaupt als Dichter auftreten zu können, und zwar eine ganz bestimmte Form genialer Anlage, die sich von der für andre Geistesgebiete individuell unterscheidet." Diese Anlage, die spezifisch dichterische Begabung vorausgesetzt, die, Herr Bölsche und hunderttausend Na¬ turalisten mögen sagen, was sie wollen, mit der schöpferischen Phantasie und der erhöhten Teilnahme an den Erscheinungen, an der Fülle des Lebens zu¬ sammenfällt, ist es nun die wohl erwogene Meinung des Verfassers, daß die Poesie vom Schatz sicherer Erkenntnisse über Menschen und Naturerscheinungen, den die neueste Naturwissenschaft darbiete, sich das Beste aneignen und frühere irrige Grundanschauungen fahren lassen müsse. Es kann, nach Herrn Bölsche, nicht mehr ungerügt hingehen, wenn die Poesie eine Psychologie bei den lebendigen Figuren ihrer Erzeugnisse verwertet, die durch die Fortschritte der modernen wissenschaftlichen Psychologie entschieden als falsch dargethan sei. Er erhebt die Forderung, daß alle ernste Poesie, die mehr als Fabnlirkunst für Kiuder sein wolle, sich fortan auf Grund des psychologischen Experiments er¬ heben müsse, daß sie hinter sich werfen müsse die alte Idee der Willensfreiheit, des willkürlichen Handelns und Denkens (als ob die echte Poesie, die immer aus dem Leben geschöpft hat, je irgendwie und irgendwann dem Begriffe der Gesetzmäßigkeit alles Lebens, aller Handlungen und psychischen Vorgänge wider¬ sprochen hätte), abrechnen müsse mit dem Phantom der persönlichen Unsterb¬ lichkeit (während Herr Bölsche ein paar Seiten weiter bereitwillig einräumt, daß hinter der physischen Welt eine andre, wenn auch unbekannte, stehe, von welcher der scharfsinnigste Naturforscher so viel wisse wie ein Bergmann oder Köhler), sich entwinden müsse dem sentimentalen, nervös überspannten Liebes- begrisf, der alles Normale, Natürliche, Gesetzmäßige aufhebe, sich hingeben müsse an das „realistische Ideal," welches die seitherige historische Dichtung nur als berechtigte Pionierarbeit ansehen könne. „Größer und glänzender als sie, /

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/382>, abgerufen am 08.06.2024.