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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Noch einmal die Tonleiter.

ihr gegebene Grundgefüge wieder treulich ergeben einlenkt, also aus der gesuchten
Freiheit in die strenge Ordnung fromm zurückkehrt. Und wenn sie, wo der
Mensch künstlich zwei oder mehrere Töne oder Tongänge neben einander, mit
oder gegen einander gehen läßt, auch da zwar gewisse wechselnde Abstände ge¬
bietet, so läßt sie doch auch hier zu, daß von diesen Abstünden, an denen die
tiefere Einheit der zwei Gänge hängt, abgewichen werde, so weit sogar, daß sie
gegen einander gehend sich feindlich so nahe kommen dürfen, als wollten sie sich
aneinander zerreiben; sie läßt es wenigstens für einen rasch vorübergehenden
Augenblick zu, sobald gleich darauf das Gegeneinander wieder in ein Zusammen¬
gehen in den von ihr gegrabenen Geleisen zurückschlägt, in denen nun die Seele
um so beglückter wieder den Willen der Mutter fühlt und sich ihm hingiebt nach
dem kecken Versuch, ihre Geleise zerstören zu wollen. Ich habe es oft versucht,
solche Gegnerschaft aufs äußerste zu treiben, aus Neugier, um zu sehen, wie
weit jene Freiheit geht und an welche Bedingungen sie gebunden ist, wenn man
z. B. zwei halbe Töne dicht neben einander zugleich klingen lassen will: ein
Schmerz des Gefühls gebietet rasche Rückkehr in die Geleise der Natur, die sich
in dem Schmerze ausspricht, die Grenze ihres Anlassens ist erreicht.

Über diese Grenze hinaus aber liegen Dinge, die sie geradezu verbietet oder
verwehrt. So z. B. das Zusammenklingen von drei halben Tönen dicht neben
einander, das ich naseweis auch wiederholt versucht habe: mit keinen künstlichsten
Mitteln, welche man in vorbereitenden oder begleitenden Tongängen oder Ver¬
bindungen ausklügeln kann, wird es möglich, die drei Töne, die nach einander
ganz wohl und schön klingen können je nach der Umgebung, mit einander er¬
klingen zu lassen, daß daraus nur eine sogenannte Dissonanz würde, dieses
Pfefferkorn an das musikalische Gericht (es giebt auch überpfefferte Musik für
überreizte Gaumen), der Schmerz für das Gefühl ist dabei so grell, für die
Seele so quälend, wie ein versuchtes Zerreiben oder Zermalmen, daß man willig
und froh das Verbot der Natur anerkennt und gut heißt.

Unter das von ihr Verbotene oder Verwehrte muß ich nun aber auch die
einfache Tonleiter in ihrer gewöhnlichen Gestalt rechnen und kann nicht anders.
Das Verbot geht da vom verletzten Rhythmus aus: daß der Grundton, vollends
als befriedigender und zusammenfaffendcr Abschluß eines Torganges, nicht auf
herrschender Stelle in der gegliederten Bewegung stehe, sondern ans einer unter¬
geordneten, dienenden (guter und schlechter Taktteil verhalten sich wie Herr und
Diener), das verbietet oder verwehrt Mutter Natur, und es ist nirgends möglich,
außer etwa wo man Spaß treiben wollte; wie soll es das hier sein können?
Wenn daher der zweite Herr Erwiderer ihr sogar die Ehre anthut, ihr eine
musikalische Individualität zuzuschreiben, so kann ich das schon begreifen aus
langem gemütlichen Umgang damit, aber ein Individuum kann sie doch nicht
sein und nur durch leichte Änderung werden. Ein Individuum ist ein gegliedertes
Naturganze, aber jene Tonleiter ist kein Ganzes, da ihr der rhythmische Kopf


Noch einmal die Tonleiter.

ihr gegebene Grundgefüge wieder treulich ergeben einlenkt, also aus der gesuchten
Freiheit in die strenge Ordnung fromm zurückkehrt. Und wenn sie, wo der
Mensch künstlich zwei oder mehrere Töne oder Tongänge neben einander, mit
oder gegen einander gehen läßt, auch da zwar gewisse wechselnde Abstände ge¬
bietet, so läßt sie doch auch hier zu, daß von diesen Abstünden, an denen die
tiefere Einheit der zwei Gänge hängt, abgewichen werde, so weit sogar, daß sie
gegen einander gehend sich feindlich so nahe kommen dürfen, als wollten sie sich
aneinander zerreiben; sie läßt es wenigstens für einen rasch vorübergehenden
Augenblick zu, sobald gleich darauf das Gegeneinander wieder in ein Zusammen¬
gehen in den von ihr gegrabenen Geleisen zurückschlägt, in denen nun die Seele
um so beglückter wieder den Willen der Mutter fühlt und sich ihm hingiebt nach
dem kecken Versuch, ihre Geleise zerstören zu wollen. Ich habe es oft versucht,
solche Gegnerschaft aufs äußerste zu treiben, aus Neugier, um zu sehen, wie
weit jene Freiheit geht und an welche Bedingungen sie gebunden ist, wenn man
z. B. zwei halbe Töne dicht neben einander zugleich klingen lassen will: ein
Schmerz des Gefühls gebietet rasche Rückkehr in die Geleise der Natur, die sich
in dem Schmerze ausspricht, die Grenze ihres Anlassens ist erreicht.

Über diese Grenze hinaus aber liegen Dinge, die sie geradezu verbietet oder
verwehrt. So z. B. das Zusammenklingen von drei halben Tönen dicht neben
einander, das ich naseweis auch wiederholt versucht habe: mit keinen künstlichsten
Mitteln, welche man in vorbereitenden oder begleitenden Tongängen oder Ver¬
bindungen ausklügeln kann, wird es möglich, die drei Töne, die nach einander
ganz wohl und schön klingen können je nach der Umgebung, mit einander er¬
klingen zu lassen, daß daraus nur eine sogenannte Dissonanz würde, dieses
Pfefferkorn an das musikalische Gericht (es giebt auch überpfefferte Musik für
überreizte Gaumen), der Schmerz für das Gefühl ist dabei so grell, für die
Seele so quälend, wie ein versuchtes Zerreiben oder Zermalmen, daß man willig
und froh das Verbot der Natur anerkennt und gut heißt.

Unter das von ihr Verbotene oder Verwehrte muß ich nun aber auch die
einfache Tonleiter in ihrer gewöhnlichen Gestalt rechnen und kann nicht anders.
Das Verbot geht da vom verletzten Rhythmus aus: daß der Grundton, vollends
als befriedigender und zusammenfaffendcr Abschluß eines Torganges, nicht auf
herrschender Stelle in der gegliederten Bewegung stehe, sondern ans einer unter¬
geordneten, dienenden (guter und schlechter Taktteil verhalten sich wie Herr und
Diener), das verbietet oder verwehrt Mutter Natur, und es ist nirgends möglich,
außer etwa wo man Spaß treiben wollte; wie soll es das hier sein können?
Wenn daher der zweite Herr Erwiderer ihr sogar die Ehre anthut, ihr eine
musikalische Individualität zuzuschreiben, so kann ich das schon begreifen aus
langem gemütlichen Umgang damit, aber ein Individuum kann sie doch nicht
sein und nur durch leichte Änderung werden. Ein Individuum ist ein gegliedertes
Naturganze, aber jene Tonleiter ist kein Ganzes, da ihr der rhythmische Kopf


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[0391] Noch einmal die Tonleiter. ihr gegebene Grundgefüge wieder treulich ergeben einlenkt, also aus der gesuchten Freiheit in die strenge Ordnung fromm zurückkehrt. Und wenn sie, wo der Mensch künstlich zwei oder mehrere Töne oder Tongänge neben einander, mit oder gegen einander gehen läßt, auch da zwar gewisse wechselnde Abstände ge¬ bietet, so läßt sie doch auch hier zu, daß von diesen Abstünden, an denen die tiefere Einheit der zwei Gänge hängt, abgewichen werde, so weit sogar, daß sie gegen einander gehend sich feindlich so nahe kommen dürfen, als wollten sie sich aneinander zerreiben; sie läßt es wenigstens für einen rasch vorübergehenden Augenblick zu, sobald gleich darauf das Gegeneinander wieder in ein Zusammen¬ gehen in den von ihr gegrabenen Geleisen zurückschlägt, in denen nun die Seele um so beglückter wieder den Willen der Mutter fühlt und sich ihm hingiebt nach dem kecken Versuch, ihre Geleise zerstören zu wollen. Ich habe es oft versucht, solche Gegnerschaft aufs äußerste zu treiben, aus Neugier, um zu sehen, wie weit jene Freiheit geht und an welche Bedingungen sie gebunden ist, wenn man z. B. zwei halbe Töne dicht neben einander zugleich klingen lassen will: ein Schmerz des Gefühls gebietet rasche Rückkehr in die Geleise der Natur, die sich in dem Schmerze ausspricht, die Grenze ihres Anlassens ist erreicht. Über diese Grenze hinaus aber liegen Dinge, die sie geradezu verbietet oder verwehrt. So z. B. das Zusammenklingen von drei halben Tönen dicht neben einander, das ich naseweis auch wiederholt versucht habe: mit keinen künstlichsten Mitteln, welche man in vorbereitenden oder begleitenden Tongängen oder Ver¬ bindungen ausklügeln kann, wird es möglich, die drei Töne, die nach einander ganz wohl und schön klingen können je nach der Umgebung, mit einander er¬ klingen zu lassen, daß daraus nur eine sogenannte Dissonanz würde, dieses Pfefferkorn an das musikalische Gericht (es giebt auch überpfefferte Musik für überreizte Gaumen), der Schmerz für das Gefühl ist dabei so grell, für die Seele so quälend, wie ein versuchtes Zerreiben oder Zermalmen, daß man willig und froh das Verbot der Natur anerkennt und gut heißt. Unter das von ihr Verbotene oder Verwehrte muß ich nun aber auch die einfache Tonleiter in ihrer gewöhnlichen Gestalt rechnen und kann nicht anders. Das Verbot geht da vom verletzten Rhythmus aus: daß der Grundton, vollends als befriedigender und zusammenfaffendcr Abschluß eines Torganges, nicht auf herrschender Stelle in der gegliederten Bewegung stehe, sondern ans einer unter¬ geordneten, dienenden (guter und schlechter Taktteil verhalten sich wie Herr und Diener), das verbietet oder verwehrt Mutter Natur, und es ist nirgends möglich, außer etwa wo man Spaß treiben wollte; wie soll es das hier sein können? Wenn daher der zweite Herr Erwiderer ihr sogar die Ehre anthut, ihr eine musikalische Individualität zuzuschreiben, so kann ich das schon begreifen aus langem gemütlichen Umgang damit, aber ein Individuum kann sie doch nicht sein und nur durch leichte Änderung werden. Ein Individuum ist ein gegliedertes Naturganze, aber jene Tonleiter ist kein Ganzes, da ihr der rhythmische Kopf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/391>, abgerufen am 28.05.2024.