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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klassen des Gymnasiums.

andern letzten Zweck haben kann als den, Frömmigkeit, d. h. Sinn für das
Ewige im Zeitlichen zu erzengen, so ist es keine Frage, daß keine andre Di¬
sziplin, zumal heutzutage, eine größere Bedeutung beanspruchen darf als die
Religionslehre. Denn nächst den Zeiten, welche dem Auftreten des Christen¬
tums unmittelbar vorausgingen, hat es keine Zeit wieder gegeben, die so darauf
angelegt gewesen wäre, den Menschen nicht zur "reinen Gemütsruhe" kommen
zu lassen, wie die unsre. Der Grund hiervon ist das Unfertige der mo¬
dernen Verhältnisse, denen das Unfertige unsrer modernen Anschauungen
entspricht.

Dieser Charakter des Unfertigen, der einerseits die Möglichkeit neuen Wachs¬
tums und damit neuer Lebensfülle in sich birgt, anderseits aber viel wirkliches
Unheil in sich schließt, viel bereits verbreitet hat und noch viel verbreiten wird
darum, weil die heutigen Menschen im ganzen sich keine Zeit nehmen, oft auch
uicht nehmen können, im Betrachten wie im Handeln zur Reife zu kommen,
dieser Charakter des Unfertigen, des Nichtgegohrenseins und Nichtausgähren-
lasseus findet seine heilsame Gegenwirkung in der Religionswissenschaft und
Religionslehre.

Wenn, soweit vom Christentum die Rede ist, zu allen Zeiten das Ver¬
hältnis der Religion zum Leben ein und dasselbe gewesen ist, nämlich daß der
Mensch das Licht des Lebens habe, wenn weiter dieses Licht des Lebens er-
fahrungsmäßig bis auf diesen Tag nur der Abglanz einer Gerechtigkeit, einer
6ex"tot7t)i^ ist, die ihre Vollendung in der historischen Erscheinung Christi zeigt,
eine religiöse Bollendnng, die, wiederum erfahrungsmäßig, bis jetzt nicht
übertroffen worden ist und denkbar anch nicht übertroffen werden kann, wenn
endlich in der religiösen Erleuchtung und Stärkung, die von ihm als dem
Mittelpunkte der Geister ausgeht, ebenfalls erfahrungsmäßig jene "reinste Ge¬
mütsruhe" möglich ist gegenüber einer falschen Gemütsruhe, der Apathie und
Gleichgiltigkeit, also, wenn in der christlichen Welt das Verhältnis der Religion
zum Leben zu allen Zeiten ein und dasselbe gewesen ist -- das Verhältnis der
Religionswissenschaft und damit der Religionslehre ist nach dem Inhalte des
verschiedenen Zeitalters, dem "Zeitgeist," ein stets verschiedenes.

Dieser Zeitgeist selbst ist heutzutage das Suchen, der Zeitcharakter, wie
gesagt, das Unfertige, das Unreife und Unruhige. Und wie das Gemüt dieser
Welt, so ist ihre Spekulation. Der theoretische Ausdruck dieser unfertigen
Spekulation ist der Materialismus, eine so unfertige Theorie, daß sie, diese
materialistische, diese sogenannte moderne Weltanschauung eigentlich gar keine
Theorie ist, also auch kein Ausdruck eines bestimmten Geistes sein kann. Ja
der Materialismus verzichtet selbst auf alle Theorie, er stellt sich, als hätte er
die Theorie überhaupt überwunden. Aber dieses Verzichten ist doch nur, wie
es im Altertum bei den Skeptikern war, ein Mangel der Spekulation selbst,
der den Mangel des Geistes schlecht verdeckt. Warum, wenn der Materialismus


Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klassen des Gymnasiums.

andern letzten Zweck haben kann als den, Frömmigkeit, d. h. Sinn für das
Ewige im Zeitlichen zu erzengen, so ist es keine Frage, daß keine andre Di¬
sziplin, zumal heutzutage, eine größere Bedeutung beanspruchen darf als die
Religionslehre. Denn nächst den Zeiten, welche dem Auftreten des Christen¬
tums unmittelbar vorausgingen, hat es keine Zeit wieder gegeben, die so darauf
angelegt gewesen wäre, den Menschen nicht zur „reinen Gemütsruhe" kommen
zu lassen, wie die unsre. Der Grund hiervon ist das Unfertige der mo¬
dernen Verhältnisse, denen das Unfertige unsrer modernen Anschauungen
entspricht.

Dieser Charakter des Unfertigen, der einerseits die Möglichkeit neuen Wachs¬
tums und damit neuer Lebensfülle in sich birgt, anderseits aber viel wirkliches
Unheil in sich schließt, viel bereits verbreitet hat und noch viel verbreiten wird
darum, weil die heutigen Menschen im ganzen sich keine Zeit nehmen, oft auch
uicht nehmen können, im Betrachten wie im Handeln zur Reife zu kommen,
dieser Charakter des Unfertigen, des Nichtgegohrenseins und Nichtausgähren-
lasseus findet seine heilsame Gegenwirkung in der Religionswissenschaft und
Religionslehre.

Wenn, soweit vom Christentum die Rede ist, zu allen Zeiten das Ver¬
hältnis der Religion zum Leben ein und dasselbe gewesen ist, nämlich daß der
Mensch das Licht des Lebens habe, wenn weiter dieses Licht des Lebens er-
fahrungsmäßig bis auf diesen Tag nur der Abglanz einer Gerechtigkeit, einer
6ex«tot7t)i^ ist, die ihre Vollendung in der historischen Erscheinung Christi zeigt,
eine religiöse Bollendnng, die, wiederum erfahrungsmäßig, bis jetzt nicht
übertroffen worden ist und denkbar anch nicht übertroffen werden kann, wenn
endlich in der religiösen Erleuchtung und Stärkung, die von ihm als dem
Mittelpunkte der Geister ausgeht, ebenfalls erfahrungsmäßig jene „reinste Ge¬
mütsruhe" möglich ist gegenüber einer falschen Gemütsruhe, der Apathie und
Gleichgiltigkeit, also, wenn in der christlichen Welt das Verhältnis der Religion
zum Leben zu allen Zeiten ein und dasselbe gewesen ist — das Verhältnis der
Religionswissenschaft und damit der Religionslehre ist nach dem Inhalte des
verschiedenen Zeitalters, dem „Zeitgeist," ein stets verschiedenes.

Dieser Zeitgeist selbst ist heutzutage das Suchen, der Zeitcharakter, wie
gesagt, das Unfertige, das Unreife und Unruhige. Und wie das Gemüt dieser
Welt, so ist ihre Spekulation. Der theoretische Ausdruck dieser unfertigen
Spekulation ist der Materialismus, eine so unfertige Theorie, daß sie, diese
materialistische, diese sogenannte moderne Weltanschauung eigentlich gar keine
Theorie ist, also auch kein Ausdruck eines bestimmten Geistes sein kann. Ja
der Materialismus verzichtet selbst auf alle Theorie, er stellt sich, als hätte er
die Theorie überhaupt überwunden. Aber dieses Verzichten ist doch nur, wie
es im Altertum bei den Skeptikern war, ein Mangel der Spekulation selbst,
der den Mangel des Geistes schlecht verdeckt. Warum, wenn der Materialismus


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[0414] Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klassen des Gymnasiums. andern letzten Zweck haben kann als den, Frömmigkeit, d. h. Sinn für das Ewige im Zeitlichen zu erzengen, so ist es keine Frage, daß keine andre Di¬ sziplin, zumal heutzutage, eine größere Bedeutung beanspruchen darf als die Religionslehre. Denn nächst den Zeiten, welche dem Auftreten des Christen¬ tums unmittelbar vorausgingen, hat es keine Zeit wieder gegeben, die so darauf angelegt gewesen wäre, den Menschen nicht zur „reinen Gemütsruhe" kommen zu lassen, wie die unsre. Der Grund hiervon ist das Unfertige der mo¬ dernen Verhältnisse, denen das Unfertige unsrer modernen Anschauungen entspricht. Dieser Charakter des Unfertigen, der einerseits die Möglichkeit neuen Wachs¬ tums und damit neuer Lebensfülle in sich birgt, anderseits aber viel wirkliches Unheil in sich schließt, viel bereits verbreitet hat und noch viel verbreiten wird darum, weil die heutigen Menschen im ganzen sich keine Zeit nehmen, oft auch uicht nehmen können, im Betrachten wie im Handeln zur Reife zu kommen, dieser Charakter des Unfertigen, des Nichtgegohrenseins und Nichtausgähren- lasseus findet seine heilsame Gegenwirkung in der Religionswissenschaft und Religionslehre. Wenn, soweit vom Christentum die Rede ist, zu allen Zeiten das Ver¬ hältnis der Religion zum Leben ein und dasselbe gewesen ist, nämlich daß der Mensch das Licht des Lebens habe, wenn weiter dieses Licht des Lebens er- fahrungsmäßig bis auf diesen Tag nur der Abglanz einer Gerechtigkeit, einer 6ex«tot7t)i^ ist, die ihre Vollendung in der historischen Erscheinung Christi zeigt, eine religiöse Bollendnng, die, wiederum erfahrungsmäßig, bis jetzt nicht übertroffen worden ist und denkbar anch nicht übertroffen werden kann, wenn endlich in der religiösen Erleuchtung und Stärkung, die von ihm als dem Mittelpunkte der Geister ausgeht, ebenfalls erfahrungsmäßig jene „reinste Ge¬ mütsruhe" möglich ist gegenüber einer falschen Gemütsruhe, der Apathie und Gleichgiltigkeit, also, wenn in der christlichen Welt das Verhältnis der Religion zum Leben zu allen Zeiten ein und dasselbe gewesen ist — das Verhältnis der Religionswissenschaft und damit der Religionslehre ist nach dem Inhalte des verschiedenen Zeitalters, dem „Zeitgeist," ein stets verschiedenes. Dieser Zeitgeist selbst ist heutzutage das Suchen, der Zeitcharakter, wie gesagt, das Unfertige, das Unreife und Unruhige. Und wie das Gemüt dieser Welt, so ist ihre Spekulation. Der theoretische Ausdruck dieser unfertigen Spekulation ist der Materialismus, eine so unfertige Theorie, daß sie, diese materialistische, diese sogenannte moderne Weltanschauung eigentlich gar keine Theorie ist, also auch kein Ausdruck eines bestimmten Geistes sein kann. Ja der Materialismus verzichtet selbst auf alle Theorie, er stellt sich, als hätte er die Theorie überhaupt überwunden. Aber dieses Verzichten ist doch nur, wie es im Altertum bei den Skeptikern war, ein Mangel der Spekulation selbst, der den Mangel des Geistes schlecht verdeckt. Warum, wenn der Materialismus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/414>, abgerufen am 14.05.2024.