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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die akademische Auustausstellung in Berlin.

die Dinge so zu malen, wie sie sind und wie sie gesehen werden, dieselben auch
in natürlicher Größe malt.

Der letztere Punkt ist zunächst anfechtbar oder doch in seiner Allgemein-
giltigkeit zu beschränken. Der Münchner Hermann Neuhaus -- wir wählen
dieses Beispiel wie alle noch folgenden aus der Ausstellung der Berliner Aka¬
demie -- hat eine Strnßenszene aus der bäuerischen Hauptstadt, die Verrichtung
des Abendgebets durch Vorübergehende vor der Maricnsciule, gemalt. Die
Figuren sind naturgroß, und darnach sind selbstverständlich auch die Ab¬
messungen des die Säule umgebenden Gitters, der nur zum Teile sichtbaren
Säule selbst, der umgebenden Häuser u. s. w. gehalten. Es ist ein Ausschnitt
aus der Wirklichkeit, der natürlich nichts Abgeschlossenes bieten kau", weil der
Umfang des Bildes ins Ungeheuerliche wachsen würde, wenn der Maler die
unbelebte Umgebung auch als ein Ganzes wiedergeben wollte. Hier liegt also
die Grenze der naturalistischen Malerei, und wir wären damit wieder zu der
alten Weisheit gelangt, daß die Kunst nur den Schein der Wirklichkeit, niemals
die Wirklichkeit selbst erreichen kann. Anders wird sich die Autwort auf die
Frage gestalten, ob alltägliche Figuren, wie sie der Zufall zu Hunderten auf
der Straße an uns vorüberführt, würdig sind, in naturgroße dargestellt zu
werden und ob nicht vielmehr der Maler den Maßstab nach der Bedeutung
des Gegenstandes zu wählen hätte. Nach den Gesetzen der herkömmlichen Ästhetik
wäre der lebens- oder überlebensgroße Maßstab nur für die Malerei großen
Stils, für das Geschichtsbild und die dekorative Malerei, zulässig; aber diese
Gesetze sind längst nicht mehr giltig, weil sie, aus willkürlichen Voraussetzungen
abgeleitet, einer unanfechtbaren Begründung entbehren. Die Naturalisten legen
den Grundsatz der Hegelschen Philosophie: "Alles, was wirklich ist, ist ver¬
nünftig" dahin aus, daß alles, was in der Natur vorhanden ist, auch dar¬
gestellt werden könne, soweit es sich nicht den Mitteln der darstellenden Kunst
entzieht und soweit nicht die öffentliche Moral, nüchterner ausgedrückt: das
Polizcigesetz und der Geschmack der anständigen Leute, Einspruch dagegen er¬
heben. Die Polizei wird mit Recht dazwischen treten, wenn es einem Maler
Anfällen sollte, unzüchtige Szenen darzustellen oder den Schleier von Vor¬
gängen z" heben, die gewöhnlich mit dem Mantel der Nacht zugedeckt werden.
Der gute Geschmack würde sich empören, wenn ein Maler etwa -- wir wühlen
der Kürze halber ein recht drastisches Beispiel -- einen Haufe" verwesender
Leichenteile oder eine ähnliche Scheußlichkeit malen wollte. Das eine wie das
andre ist in Wirklichkeit vorgekommen -- wir erinnern nur an den Franzosen
Cvurbet und den Russen Wereschtschagin --; aber die Thatsache, daß diese
ungeheuerlichen Ausschreitungen menschlicher Phantasie oder vielmehr mensch-
ucher Rohheit vereinzelt geblieben sind, giebt uns die ruhige Zuversicht, daß
die Mehrzahl der Künstler sich stets daran erinnert, daß der Menschheit Würde
U! ihre Hand gegeben ist, und daß sie diese zu bewahren haben.


Die akademische Auustausstellung in Berlin.

die Dinge so zu malen, wie sie sind und wie sie gesehen werden, dieselben auch
in natürlicher Größe malt.

Der letztere Punkt ist zunächst anfechtbar oder doch in seiner Allgemein-
giltigkeit zu beschränken. Der Münchner Hermann Neuhaus — wir wählen
dieses Beispiel wie alle noch folgenden aus der Ausstellung der Berliner Aka¬
demie — hat eine Strnßenszene aus der bäuerischen Hauptstadt, die Verrichtung
des Abendgebets durch Vorübergehende vor der Maricnsciule, gemalt. Die
Figuren sind naturgroß, und darnach sind selbstverständlich auch die Ab¬
messungen des die Säule umgebenden Gitters, der nur zum Teile sichtbaren
Säule selbst, der umgebenden Häuser u. s. w. gehalten. Es ist ein Ausschnitt
aus der Wirklichkeit, der natürlich nichts Abgeschlossenes bieten kau», weil der
Umfang des Bildes ins Ungeheuerliche wachsen würde, wenn der Maler die
unbelebte Umgebung auch als ein Ganzes wiedergeben wollte. Hier liegt also
die Grenze der naturalistischen Malerei, und wir wären damit wieder zu der
alten Weisheit gelangt, daß die Kunst nur den Schein der Wirklichkeit, niemals
die Wirklichkeit selbst erreichen kann. Anders wird sich die Autwort auf die
Frage gestalten, ob alltägliche Figuren, wie sie der Zufall zu Hunderten auf
der Straße an uns vorüberführt, würdig sind, in naturgroße dargestellt zu
werden und ob nicht vielmehr der Maler den Maßstab nach der Bedeutung
des Gegenstandes zu wählen hätte. Nach den Gesetzen der herkömmlichen Ästhetik
wäre der lebens- oder überlebensgroße Maßstab nur für die Malerei großen
Stils, für das Geschichtsbild und die dekorative Malerei, zulässig; aber diese
Gesetze sind längst nicht mehr giltig, weil sie, aus willkürlichen Voraussetzungen
abgeleitet, einer unanfechtbaren Begründung entbehren. Die Naturalisten legen
den Grundsatz der Hegelschen Philosophie: „Alles, was wirklich ist, ist ver¬
nünftig" dahin aus, daß alles, was in der Natur vorhanden ist, auch dar¬
gestellt werden könne, soweit es sich nicht den Mitteln der darstellenden Kunst
entzieht und soweit nicht die öffentliche Moral, nüchterner ausgedrückt: das
Polizcigesetz und der Geschmack der anständigen Leute, Einspruch dagegen er¬
heben. Die Polizei wird mit Recht dazwischen treten, wenn es einem Maler
Anfällen sollte, unzüchtige Szenen darzustellen oder den Schleier von Vor¬
gängen z» heben, die gewöhnlich mit dem Mantel der Nacht zugedeckt werden.
Der gute Geschmack würde sich empören, wenn ein Maler etwa — wir wühlen
der Kürze halber ein recht drastisches Beispiel — einen Haufe» verwesender
Leichenteile oder eine ähnliche Scheußlichkeit malen wollte. Das eine wie das
andre ist in Wirklichkeit vorgekommen — wir erinnern nur an den Franzosen
Cvurbet und den Russen Wereschtschagin —; aber die Thatsache, daß diese
ungeheuerlichen Ausschreitungen menschlicher Phantasie oder vielmehr mensch-
ucher Rohheit vereinzelt geblieben sind, giebt uns die ruhige Zuversicht, daß
die Mehrzahl der Künstler sich stets daran erinnert, daß der Menschheit Würde
U! ihre Hand gegeben ist, und daß sie diese zu bewahren haben.


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[0587] Die akademische Auustausstellung in Berlin. die Dinge so zu malen, wie sie sind und wie sie gesehen werden, dieselben auch in natürlicher Größe malt. Der letztere Punkt ist zunächst anfechtbar oder doch in seiner Allgemein- giltigkeit zu beschränken. Der Münchner Hermann Neuhaus — wir wählen dieses Beispiel wie alle noch folgenden aus der Ausstellung der Berliner Aka¬ demie — hat eine Strnßenszene aus der bäuerischen Hauptstadt, die Verrichtung des Abendgebets durch Vorübergehende vor der Maricnsciule, gemalt. Die Figuren sind naturgroß, und darnach sind selbstverständlich auch die Ab¬ messungen des die Säule umgebenden Gitters, der nur zum Teile sichtbaren Säule selbst, der umgebenden Häuser u. s. w. gehalten. Es ist ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit, der natürlich nichts Abgeschlossenes bieten kau», weil der Umfang des Bildes ins Ungeheuerliche wachsen würde, wenn der Maler die unbelebte Umgebung auch als ein Ganzes wiedergeben wollte. Hier liegt also die Grenze der naturalistischen Malerei, und wir wären damit wieder zu der alten Weisheit gelangt, daß die Kunst nur den Schein der Wirklichkeit, niemals die Wirklichkeit selbst erreichen kann. Anders wird sich die Autwort auf die Frage gestalten, ob alltägliche Figuren, wie sie der Zufall zu Hunderten auf der Straße an uns vorüberführt, würdig sind, in naturgroße dargestellt zu werden und ob nicht vielmehr der Maler den Maßstab nach der Bedeutung des Gegenstandes zu wählen hätte. Nach den Gesetzen der herkömmlichen Ästhetik wäre der lebens- oder überlebensgroße Maßstab nur für die Malerei großen Stils, für das Geschichtsbild und die dekorative Malerei, zulässig; aber diese Gesetze sind längst nicht mehr giltig, weil sie, aus willkürlichen Voraussetzungen abgeleitet, einer unanfechtbaren Begründung entbehren. Die Naturalisten legen den Grundsatz der Hegelschen Philosophie: „Alles, was wirklich ist, ist ver¬ nünftig" dahin aus, daß alles, was in der Natur vorhanden ist, auch dar¬ gestellt werden könne, soweit es sich nicht den Mitteln der darstellenden Kunst entzieht und soweit nicht die öffentliche Moral, nüchterner ausgedrückt: das Polizcigesetz und der Geschmack der anständigen Leute, Einspruch dagegen er¬ heben. Die Polizei wird mit Recht dazwischen treten, wenn es einem Maler Anfällen sollte, unzüchtige Szenen darzustellen oder den Schleier von Vor¬ gängen z» heben, die gewöhnlich mit dem Mantel der Nacht zugedeckt werden. Der gute Geschmack würde sich empören, wenn ein Maler etwa — wir wühlen der Kürze halber ein recht drastisches Beispiel — einen Haufe» verwesender Leichenteile oder eine ähnliche Scheußlichkeit malen wollte. Das eine wie das andre ist in Wirklichkeit vorgekommen — wir erinnern nur an den Franzosen Cvurbet und den Russen Wereschtschagin —; aber die Thatsache, daß diese ungeheuerlichen Ausschreitungen menschlicher Phantasie oder vielmehr mensch- ucher Rohheit vereinzelt geblieben sind, giebt uns die ruhige Zuversicht, daß die Mehrzahl der Künstler sich stets daran erinnert, daß der Menschheit Würde U! ihre Hand gegeben ist, und daß sie diese zu bewahren haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/587>, abgerufen am 13.05.2024.