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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Line Berliner Faustauffiihrung,

Wir wollen es wirklich mit Dank so nehmen, als ob die Ermahnungen, mit
denen Freunde der deutschen Dichtung -- diese Blätter ja nicht zuletzt -- das
verdienstliche Unternehmen in der Schumcmustraße, ach meist so fruchtlos! be¬
gleitet haben, nun endlich Früchte zu tragen anfingen. Wir hoffen, daß dieser
Tragödie erster Teil ein neues schöneres Leben -- u. s. w. u, s. w. Aber wir
hoffen nicht bloß, wir wünschen auch. Ja wohl, wir fangen gleich wieder an zu
wünschen. Es ist unverschämt, aber es ist nun so. Wir können nun einmal
nicht zum Augenblicke das vielberufene Sprüchlein sagen, am wenigsten im
Theater. Das bringt der "Faust" so mit sich.

Sagen wir es denn also lieber gleich offen heraus: diese Faustaufführung
ist keine Aufführung des Goethischen Faust. Genauigkeit gegen das Dichter-
Wort, fleißige "Regie," fleißiges Rollenstudium -- es ist eigentlich nicht zu
viel gethan vom deutschen Schauspieler, seinen Faust auswendig zu lernen;
jeder Deutsche konnte ihn ja gegebenen Falles beschämen -- alle diese schönen
Dinge hier in Ehren. Aber daß trotz alledem ein mit bengalischen Flammen,
Trausparenten und Geistermaschinen aufgeführter Faust noch nicht der Goethische
zu sein braucht, gestatte man uns in einigen Hauptsachen zu beweisen. Es ist
ja doch, denken wir, gerade beim Faust sehr wichtig, daß er der Faust ist und
nicht bloß ein "klassisches Stück." Wenn man ihn denn nun schon einmal auf¬
führt -- was einfach eine deutsche Volkspflicht ist; wichtiger als alle sogenannten,
ja das eigentliche "Weihfestspiel" der Deutschen und gar nicht so schwierig auf¬
zuführen, wie das mit der Zeit darum aufgehäufte Brimborium uns weiß
macht --, wenn man ihn schon aufführt, so sorge man doch vor allem dafür,
daß er der Faust bleibe, und mache ihn nicht auf der Schaubühne, soweit man
es seiner Kernnatur nur abpressen kann, auch noch zur Ng-rZusiits.

Es ist doch wirklich bezeichnend, daß jenes ebenso beschränkte als barbarische
Laubische Diktum von der "Zugkräftigkeit des Faust als Gretchentragödie" bei
dieser Gelegenheit mitten unter den bewußten Hymnen von den einschlägigen
Zeitungen, die ja auf jenes Meisters Worte schwören, wieder gläubig und
feierlich erörtert wurde; also doch zunächst das Zugkräftige! Was versteht man
denn eigentlich unter diesem Schibolet der Direktionen? Meint man denn
wirklich, daß diese unverletzliche "Zugkraft" sich nur auf Näthermamsells und
Schwiegermütter zu erstrecken habe? Gehen denn nicht auch noch Männer ins
Theater? Oder sollten oder könnten sie nicht gehen? Und Frauen mit Herz,
Geist und Gemüt, junge Frauen von Temperament und Phantasie, und Mädchen
und Jünglinge mit Sehnsucht und Idealen? Rechnet man denn gar nicht auf
sie und nur auf "die andern," männnliche und weibliche Nähmamsells aller
Stände und Lebensalter und dito Schwiegermütter! El, dann hole Fausts
Begleiter die ganze Zugkraft mitsamt den Theatern, wenn sie nur auf diese
rechnen! Aber es ist so! Wer verdirbt denn das Publikum und damit die Literatur
heute anders, als Redaktionen und Direktionen mit ihrer -- Zugkraft!


Line Berliner Faustauffiihrung,

Wir wollen es wirklich mit Dank so nehmen, als ob die Ermahnungen, mit
denen Freunde der deutschen Dichtung — diese Blätter ja nicht zuletzt — das
verdienstliche Unternehmen in der Schumcmustraße, ach meist so fruchtlos! be¬
gleitet haben, nun endlich Früchte zu tragen anfingen. Wir hoffen, daß dieser
Tragödie erster Teil ein neues schöneres Leben — u. s. w. u, s. w. Aber wir
hoffen nicht bloß, wir wünschen auch. Ja wohl, wir fangen gleich wieder an zu
wünschen. Es ist unverschämt, aber es ist nun so. Wir können nun einmal
nicht zum Augenblicke das vielberufene Sprüchlein sagen, am wenigsten im
Theater. Das bringt der „Faust" so mit sich.

Sagen wir es denn also lieber gleich offen heraus: diese Faustaufführung
ist keine Aufführung des Goethischen Faust. Genauigkeit gegen das Dichter-
Wort, fleißige „Regie," fleißiges Rollenstudium — es ist eigentlich nicht zu
viel gethan vom deutschen Schauspieler, seinen Faust auswendig zu lernen;
jeder Deutsche konnte ihn ja gegebenen Falles beschämen — alle diese schönen
Dinge hier in Ehren. Aber daß trotz alledem ein mit bengalischen Flammen,
Trausparenten und Geistermaschinen aufgeführter Faust noch nicht der Goethische
zu sein braucht, gestatte man uns in einigen Hauptsachen zu beweisen. Es ist
ja doch, denken wir, gerade beim Faust sehr wichtig, daß er der Faust ist und
nicht bloß ein „klassisches Stück." Wenn man ihn denn nun schon einmal auf¬
führt — was einfach eine deutsche Volkspflicht ist; wichtiger als alle sogenannten,
ja das eigentliche „Weihfestspiel" der Deutschen und gar nicht so schwierig auf¬
zuführen, wie das mit der Zeit darum aufgehäufte Brimborium uns weiß
macht —, wenn man ihn schon aufführt, so sorge man doch vor allem dafür,
daß er der Faust bleibe, und mache ihn nicht auf der Schaubühne, soweit man
es seiner Kernnatur nur abpressen kann, auch noch zur Ng-rZusiits.

Es ist doch wirklich bezeichnend, daß jenes ebenso beschränkte als barbarische
Laubische Diktum von der „Zugkräftigkeit des Faust als Gretchentragödie" bei
dieser Gelegenheit mitten unter den bewußten Hymnen von den einschlägigen
Zeitungen, die ja auf jenes Meisters Worte schwören, wieder gläubig und
feierlich erörtert wurde; also doch zunächst das Zugkräftige! Was versteht man
denn eigentlich unter diesem Schibolet der Direktionen? Meint man denn
wirklich, daß diese unverletzliche „Zugkraft" sich nur auf Näthermamsells und
Schwiegermütter zu erstrecken habe? Gehen denn nicht auch noch Männer ins
Theater? Oder sollten oder könnten sie nicht gehen? Und Frauen mit Herz,
Geist und Gemüt, junge Frauen von Temperament und Phantasie, und Mädchen
und Jünglinge mit Sehnsucht und Idealen? Rechnet man denn gar nicht auf
sie und nur auf „die andern," männnliche und weibliche Nähmamsells aller
Stände und Lebensalter und dito Schwiegermütter! El, dann hole Fausts
Begleiter die ganze Zugkraft mitsamt den Theatern, wenn sie nur auf diese
rechnen! Aber es ist so! Wer verdirbt denn das Publikum und damit die Literatur
heute anders, als Redaktionen und Direktionen mit ihrer — Zugkraft!


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[0629] Line Berliner Faustauffiihrung, Wir wollen es wirklich mit Dank so nehmen, als ob die Ermahnungen, mit denen Freunde der deutschen Dichtung — diese Blätter ja nicht zuletzt — das verdienstliche Unternehmen in der Schumcmustraße, ach meist so fruchtlos! be¬ gleitet haben, nun endlich Früchte zu tragen anfingen. Wir hoffen, daß dieser Tragödie erster Teil ein neues schöneres Leben — u. s. w. u, s. w. Aber wir hoffen nicht bloß, wir wünschen auch. Ja wohl, wir fangen gleich wieder an zu wünschen. Es ist unverschämt, aber es ist nun so. Wir können nun einmal nicht zum Augenblicke das vielberufene Sprüchlein sagen, am wenigsten im Theater. Das bringt der „Faust" so mit sich. Sagen wir es denn also lieber gleich offen heraus: diese Faustaufführung ist keine Aufführung des Goethischen Faust. Genauigkeit gegen das Dichter- Wort, fleißige „Regie," fleißiges Rollenstudium — es ist eigentlich nicht zu viel gethan vom deutschen Schauspieler, seinen Faust auswendig zu lernen; jeder Deutsche konnte ihn ja gegebenen Falles beschämen — alle diese schönen Dinge hier in Ehren. Aber daß trotz alledem ein mit bengalischen Flammen, Trausparenten und Geistermaschinen aufgeführter Faust noch nicht der Goethische zu sein braucht, gestatte man uns in einigen Hauptsachen zu beweisen. Es ist ja doch, denken wir, gerade beim Faust sehr wichtig, daß er der Faust ist und nicht bloß ein „klassisches Stück." Wenn man ihn denn nun schon einmal auf¬ führt — was einfach eine deutsche Volkspflicht ist; wichtiger als alle sogenannten, ja das eigentliche „Weihfestspiel" der Deutschen und gar nicht so schwierig auf¬ zuführen, wie das mit der Zeit darum aufgehäufte Brimborium uns weiß macht —, wenn man ihn schon aufführt, so sorge man doch vor allem dafür, daß er der Faust bleibe, und mache ihn nicht auf der Schaubühne, soweit man es seiner Kernnatur nur abpressen kann, auch noch zur Ng-rZusiits. Es ist doch wirklich bezeichnend, daß jenes ebenso beschränkte als barbarische Laubische Diktum von der „Zugkräftigkeit des Faust als Gretchentragödie" bei dieser Gelegenheit mitten unter den bewußten Hymnen von den einschlägigen Zeitungen, die ja auf jenes Meisters Worte schwören, wieder gläubig und feierlich erörtert wurde; also doch zunächst das Zugkräftige! Was versteht man denn eigentlich unter diesem Schibolet der Direktionen? Meint man denn wirklich, daß diese unverletzliche „Zugkraft" sich nur auf Näthermamsells und Schwiegermütter zu erstrecken habe? Gehen denn nicht auch noch Männer ins Theater? Oder sollten oder könnten sie nicht gehen? Und Frauen mit Herz, Geist und Gemüt, junge Frauen von Temperament und Phantasie, und Mädchen und Jünglinge mit Sehnsucht und Idealen? Rechnet man denn gar nicht auf sie und nur auf „die andern," männnliche und weibliche Nähmamsells aller Stände und Lebensalter und dito Schwiegermütter! El, dann hole Fausts Begleiter die ganze Zugkraft mitsamt den Theatern, wenn sie nur auf diese rechnen! Aber es ist so! Wer verdirbt denn das Publikum und damit die Literatur heute anders, als Redaktionen und Direktionen mit ihrer — Zugkraft!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/629>, abgerufen am 14.05.2024.