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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Line Berliner Faustaufführung.

Wir sind nun rückhaltlos der Laubisch-ketzerischen Ansicht, daß Faust in
diesem Sinne ganz ebenso zugkräftig sei als sein Gretchen. Wenn nicht zug¬
kräftiger! Denn das Gretchen hat doch immerhin ihresgleichen, wenn auch am
Ende nur bei ihrem Schöpfer und dessen britischen Vorbild. Aber Faust hat
nicht seines gleichen, nie und nirgends, er ist ein Symbol der Menschheit,
wenn wirs erst noch versichern sollen, eine herabgestiegene platonische Idee,
angethan mit dem Farbenspiel der ganzen menschlichen Natur, und das ist doch
eine Zugkraft von ganz besonderen Schlage, sollten wir meinen. Anders Thcater-
direktoren, "handfeste" Regisseure und sonstige klassische Dramaturgen. Für sie
ist und bleibt der Faust ein erträgliches Zugstück für die "Sentimentale," eine
Komödie mit Langen und Bangen, Degenklingen, Kindesmord, Geistererschci-
nungcn und Hokuspokus. Sie spielen, wie man sich "technisch" so geschmack¬
voll ausdrückt, den Faust "auf Gretchen hin," sie spielen nicht nach rechts,
nicht nach links, sondern nach oben, immer nach oben, und dies oben kennt
man; es ist nicht der Parnaß, sondern -- der Olymp. D. h. im gemeinen
Sinne; denn er ist meist viel besser als sein Ruf und befindet sich thatsächlich
oft viel tiefer.

Wenn man also den Faust "auf Gretchen hin" spielt, so verfährt man
folgendermaßen. Die Prologe fallen weg oder vielmehr "fort," wie der ge¬
bildete Berliner jetzt sagt, das ist selbstverständlich. Gut, es mag bei einem
Repertoire-Faust selbstverständlich sein, aber dann falle auch der schöne, falsche,
"literarhistorische" Zusatz weg, "der Tragödie erster Teil." Denn das weist
doch auf den zweiten Teil, der wirklich diesen Zusatz und dadurch den falschen
Titel des echten herbeigeführt hat, und der verlangt die Prologe als unerlä߬
lichen Bestandteil des Ganzen. Und dieses Ganze ist das Drama vom Faust,
dem Doktor, Gottes Knecht, der einsieht, daß wir nichts wissen können, der sich
der Magie ergiebt, in den Tiefen der Sinnlichkeit glühende Leidenschaften stillen
will und nur immer wieder den unbefriedigten Hochsinn seiner edeln Natur
wieder findet, der vom Himmel durch die Welt zur Hölle, aber auch wieder
zurückstrebt und Freiheit wie das Leben in unablässigem Ringen sich täglich neu
erwirbt. Dieser Faust nun, der Flüchtling, der Unbehauste, trifft einmal auf
sein Extrem, das schlichte, liebe Bürgermädchen, und es geschieht, was nach
dem ehernen Gesetze, das mit so besondrer Vorliebe die Extreme zu verketten
liebt, und sollten sie dabei aneinander zerschellen, geschehen muß. Aber ist das
das Einzige, ist es beim Faust die Hauptsache? Füllt sie sein Leben, kann und
darf sie sein Leben füllen, "seitwärts sie mit kindlich dumpfen Sinnen im Hüttchen
ans dem kleinen Alpenfeld"? Die dramaturgischen Nomeos wissen es freilich
besser. Für sie ist Faust der schmachtende Galan, der Gounodsche Opernhcld,
dessen tragische Schuld es ist, sein Gretchen nicht geheiratet zu haben, und der
dafür zur Hölle fährt; eine Auffassung, für deren Geistreichigkeit sie sich ja jetzt
sogar auf berühmte Professoren berufen Wurm. Allein jeder sekundärer, der


Line Berliner Faustaufführung.

Wir sind nun rückhaltlos der Laubisch-ketzerischen Ansicht, daß Faust in
diesem Sinne ganz ebenso zugkräftig sei als sein Gretchen. Wenn nicht zug¬
kräftiger! Denn das Gretchen hat doch immerhin ihresgleichen, wenn auch am
Ende nur bei ihrem Schöpfer und dessen britischen Vorbild. Aber Faust hat
nicht seines gleichen, nie und nirgends, er ist ein Symbol der Menschheit,
wenn wirs erst noch versichern sollen, eine herabgestiegene platonische Idee,
angethan mit dem Farbenspiel der ganzen menschlichen Natur, und das ist doch
eine Zugkraft von ganz besonderen Schlage, sollten wir meinen. Anders Thcater-
direktoren, „handfeste" Regisseure und sonstige klassische Dramaturgen. Für sie
ist und bleibt der Faust ein erträgliches Zugstück für die „Sentimentale," eine
Komödie mit Langen und Bangen, Degenklingen, Kindesmord, Geistererschci-
nungcn und Hokuspokus. Sie spielen, wie man sich „technisch" so geschmack¬
voll ausdrückt, den Faust „auf Gretchen hin," sie spielen nicht nach rechts,
nicht nach links, sondern nach oben, immer nach oben, und dies oben kennt
man; es ist nicht der Parnaß, sondern — der Olymp. D. h. im gemeinen
Sinne; denn er ist meist viel besser als sein Ruf und befindet sich thatsächlich
oft viel tiefer.

Wenn man also den Faust „auf Gretchen hin" spielt, so verfährt man
folgendermaßen. Die Prologe fallen weg oder vielmehr „fort," wie der ge¬
bildete Berliner jetzt sagt, das ist selbstverständlich. Gut, es mag bei einem
Repertoire-Faust selbstverständlich sein, aber dann falle auch der schöne, falsche,
„literarhistorische" Zusatz weg, „der Tragödie erster Teil." Denn das weist
doch auf den zweiten Teil, der wirklich diesen Zusatz und dadurch den falschen
Titel des echten herbeigeführt hat, und der verlangt die Prologe als unerlä߬
lichen Bestandteil des Ganzen. Und dieses Ganze ist das Drama vom Faust,
dem Doktor, Gottes Knecht, der einsieht, daß wir nichts wissen können, der sich
der Magie ergiebt, in den Tiefen der Sinnlichkeit glühende Leidenschaften stillen
will und nur immer wieder den unbefriedigten Hochsinn seiner edeln Natur
wieder findet, der vom Himmel durch die Welt zur Hölle, aber auch wieder
zurückstrebt und Freiheit wie das Leben in unablässigem Ringen sich täglich neu
erwirbt. Dieser Faust nun, der Flüchtling, der Unbehauste, trifft einmal auf
sein Extrem, das schlichte, liebe Bürgermädchen, und es geschieht, was nach
dem ehernen Gesetze, das mit so besondrer Vorliebe die Extreme zu verketten
liebt, und sollten sie dabei aneinander zerschellen, geschehen muß. Aber ist das
das Einzige, ist es beim Faust die Hauptsache? Füllt sie sein Leben, kann und
darf sie sein Leben füllen, „seitwärts sie mit kindlich dumpfen Sinnen im Hüttchen
ans dem kleinen Alpenfeld"? Die dramaturgischen Nomeos wissen es freilich
besser. Für sie ist Faust der schmachtende Galan, der Gounodsche Opernhcld,
dessen tragische Schuld es ist, sein Gretchen nicht geheiratet zu haben, und der
dafür zur Hölle fährt; eine Auffassung, für deren Geistreichigkeit sie sich ja jetzt
sogar auf berühmte Professoren berufen Wurm. Allein jeder sekundärer, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/630>, abgerufen am 30.05.2024.