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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Ans einer Ameisenstadt.

sichtiges Dach, worauf später noch ein undurchsichtiger Deckel kommt. Damit
ist alles fertig und bereit zur Aufnahme einer Ameisenkolonie, welche man durch
ein paar Schaufelftöße aufs Geratewohl dem nächsten natürlichen Ameisenhaufen
entnimmt. Es dauert dann nicht lange, so fangen die verpflanzten Tierchen an,
sich auf dem Boden ihrer neuen Heimat einzurichten, indem sie zunächst aus der
ihnen gelieferten Erde und den Hälmchen und Holzsplitterchen, welche die
Schaufel aus dem alten Ban mit ihnen übertragen hat, Gänge, Kammern,
mit kleinen Pfeilern gestützte Hallen, königliche Gemächer und Kinderstuben
bauen, und dann sich nach den Möglichkeiten zur Erfüllung der weiteren
Pflichten umsehen, welche Gesetz und Herkommen einer Ameisenstadt dem arbei¬
tenden Teile der Bürgerschaft ans Herz legen. Die erste derselben ist das
Aufsuchen von Nahrung. Zu diesem Zwecke tröpfelt man oder klebt man
etwas Honig seitwärts von der Kolonie ans die freigebliebene Stelle der
hölzernen Insel, und sehr bald wimmelt es ans den Thoren der Stadt
heraus zu dieser Futterstelle und beladen wieder zurück. So beginnt denn
die regelmäßige Lebensweise der unfreiwilligen Auswanderer in allen Stücken
von neuem, als ob sich mit ihnen nichts zugetragen hätte. Der Stamm ver¬
mehrt sich außerordentlich rasch, und er kann es bis zu einer Seelenzahl von
ein paarmal hunderttausend bringen. Ich gebrauche mit Absicht das Wort
"Seelen." Denn wenn der Beobachter nach einiger Zeit behutsam den Deckel
über der Glasscheibe abhebt, so erschließt sich vor seinen Blicken das Getriebe
einer Welt kleiner Geschöpfe, bei der man an die Wichtelmännchen der Volks¬
sage erinnert wird, eine Thätigkeit, die auf erstaunliche Begabung schließen läßt,
und die sich kaum erklärt, wenn man sie mit dein Ausdrucke "Instinkt" be¬
zeichnet. Was ist Instinkt, wo fängt er an, wo hört er auf? So lange man
darauf nicht antworten kann, wird das Wort ein Notbehelf bleiben, der das
Rätsel nicht löst, sondern umgeht. In der einen Ameisenstadt, die sich uns
ans diese Weise enthüllt, gewahren wir die Mutterkönigin, wie sie in ihrem
Thronsaale ruht. Sie ist im Vergleiche mit ihren Kindern und Unterthanen
von wahrhaft königlichem Wuchse. Ameisen kommen und gehen durch das Ge¬
mach, legen vor ihr kleine weiße Maden, die Kinder des Staates, hin und
tragen sie wieder weg, nachdem Ihre Majestät sie besichtigt, befühlt und viel¬
leicht gefüttert hat. Die aufwartenden Hofleute, wenn wir sie so betiteln dürfen,
kehren ihrer Souveränin niemals die Hintere Seite, sondern stets die vordere
zu. In einer demnächst aufgedeckten Stadt erblicken wir auf den Straßen und
Plätzen ein von dem der ersten verschiedenes Volk, die bleiche oder gelbe Ameise,
welche Sklaven fängt und hält. Wir beobachten hier die vornehmen üppigen
Herren, wie sie sich von dunkelfarbigen Dienern Speisen auftragen und sonst Hand¬
reichung thun lassen, die unablässig ihren Pflichten nachgehen und sichtlich aller¬
hand Arbeiten für diejenigen verrichten, welche nur sich lediglich dem Kriegs¬
handwerke widmen. Ferner wandern hier langsamen Ganges die Gassen auf


Ans einer Ameisenstadt.

sichtiges Dach, worauf später noch ein undurchsichtiger Deckel kommt. Damit
ist alles fertig und bereit zur Aufnahme einer Ameisenkolonie, welche man durch
ein paar Schaufelftöße aufs Geratewohl dem nächsten natürlichen Ameisenhaufen
entnimmt. Es dauert dann nicht lange, so fangen die verpflanzten Tierchen an,
sich auf dem Boden ihrer neuen Heimat einzurichten, indem sie zunächst aus der
ihnen gelieferten Erde und den Hälmchen und Holzsplitterchen, welche die
Schaufel aus dem alten Ban mit ihnen übertragen hat, Gänge, Kammern,
mit kleinen Pfeilern gestützte Hallen, königliche Gemächer und Kinderstuben
bauen, und dann sich nach den Möglichkeiten zur Erfüllung der weiteren
Pflichten umsehen, welche Gesetz und Herkommen einer Ameisenstadt dem arbei¬
tenden Teile der Bürgerschaft ans Herz legen. Die erste derselben ist das
Aufsuchen von Nahrung. Zu diesem Zwecke tröpfelt man oder klebt man
etwas Honig seitwärts von der Kolonie ans die freigebliebene Stelle der
hölzernen Insel, und sehr bald wimmelt es ans den Thoren der Stadt
heraus zu dieser Futterstelle und beladen wieder zurück. So beginnt denn
die regelmäßige Lebensweise der unfreiwilligen Auswanderer in allen Stücken
von neuem, als ob sich mit ihnen nichts zugetragen hätte. Der Stamm ver¬
mehrt sich außerordentlich rasch, und er kann es bis zu einer Seelenzahl von
ein paarmal hunderttausend bringen. Ich gebrauche mit Absicht das Wort
„Seelen." Denn wenn der Beobachter nach einiger Zeit behutsam den Deckel
über der Glasscheibe abhebt, so erschließt sich vor seinen Blicken das Getriebe
einer Welt kleiner Geschöpfe, bei der man an die Wichtelmännchen der Volks¬
sage erinnert wird, eine Thätigkeit, die auf erstaunliche Begabung schließen läßt,
und die sich kaum erklärt, wenn man sie mit dein Ausdrucke „Instinkt" be¬
zeichnet. Was ist Instinkt, wo fängt er an, wo hört er auf? So lange man
darauf nicht antworten kann, wird das Wort ein Notbehelf bleiben, der das
Rätsel nicht löst, sondern umgeht. In der einen Ameisenstadt, die sich uns
ans diese Weise enthüllt, gewahren wir die Mutterkönigin, wie sie in ihrem
Thronsaale ruht. Sie ist im Vergleiche mit ihren Kindern und Unterthanen
von wahrhaft königlichem Wuchse. Ameisen kommen und gehen durch das Ge¬
mach, legen vor ihr kleine weiße Maden, die Kinder des Staates, hin und
tragen sie wieder weg, nachdem Ihre Majestät sie besichtigt, befühlt und viel¬
leicht gefüttert hat. Die aufwartenden Hofleute, wenn wir sie so betiteln dürfen,
kehren ihrer Souveränin niemals die Hintere Seite, sondern stets die vordere
zu. In einer demnächst aufgedeckten Stadt erblicken wir auf den Straßen und
Plätzen ein von dem der ersten verschiedenes Volk, die bleiche oder gelbe Ameise,
welche Sklaven fängt und hält. Wir beobachten hier die vornehmen üppigen
Herren, wie sie sich von dunkelfarbigen Dienern Speisen auftragen und sonst Hand¬
reichung thun lassen, die unablässig ihren Pflichten nachgehen und sichtlich aller¬
hand Arbeiten für diejenigen verrichten, welche nur sich lediglich dem Kriegs¬
handwerke widmen. Ferner wandern hier langsamen Ganges die Gassen auf


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[0639] Ans einer Ameisenstadt. sichtiges Dach, worauf später noch ein undurchsichtiger Deckel kommt. Damit ist alles fertig und bereit zur Aufnahme einer Ameisenkolonie, welche man durch ein paar Schaufelftöße aufs Geratewohl dem nächsten natürlichen Ameisenhaufen entnimmt. Es dauert dann nicht lange, so fangen die verpflanzten Tierchen an, sich auf dem Boden ihrer neuen Heimat einzurichten, indem sie zunächst aus der ihnen gelieferten Erde und den Hälmchen und Holzsplitterchen, welche die Schaufel aus dem alten Ban mit ihnen übertragen hat, Gänge, Kammern, mit kleinen Pfeilern gestützte Hallen, königliche Gemächer und Kinderstuben bauen, und dann sich nach den Möglichkeiten zur Erfüllung der weiteren Pflichten umsehen, welche Gesetz und Herkommen einer Ameisenstadt dem arbei¬ tenden Teile der Bürgerschaft ans Herz legen. Die erste derselben ist das Aufsuchen von Nahrung. Zu diesem Zwecke tröpfelt man oder klebt man etwas Honig seitwärts von der Kolonie ans die freigebliebene Stelle der hölzernen Insel, und sehr bald wimmelt es ans den Thoren der Stadt heraus zu dieser Futterstelle und beladen wieder zurück. So beginnt denn die regelmäßige Lebensweise der unfreiwilligen Auswanderer in allen Stücken von neuem, als ob sich mit ihnen nichts zugetragen hätte. Der Stamm ver¬ mehrt sich außerordentlich rasch, und er kann es bis zu einer Seelenzahl von ein paarmal hunderttausend bringen. Ich gebrauche mit Absicht das Wort „Seelen." Denn wenn der Beobachter nach einiger Zeit behutsam den Deckel über der Glasscheibe abhebt, so erschließt sich vor seinen Blicken das Getriebe einer Welt kleiner Geschöpfe, bei der man an die Wichtelmännchen der Volks¬ sage erinnert wird, eine Thätigkeit, die auf erstaunliche Begabung schließen läßt, und die sich kaum erklärt, wenn man sie mit dein Ausdrucke „Instinkt" be¬ zeichnet. Was ist Instinkt, wo fängt er an, wo hört er auf? So lange man darauf nicht antworten kann, wird das Wort ein Notbehelf bleiben, der das Rätsel nicht löst, sondern umgeht. In der einen Ameisenstadt, die sich uns ans diese Weise enthüllt, gewahren wir die Mutterkönigin, wie sie in ihrem Thronsaale ruht. Sie ist im Vergleiche mit ihren Kindern und Unterthanen von wahrhaft königlichem Wuchse. Ameisen kommen und gehen durch das Ge¬ mach, legen vor ihr kleine weiße Maden, die Kinder des Staates, hin und tragen sie wieder weg, nachdem Ihre Majestät sie besichtigt, befühlt und viel¬ leicht gefüttert hat. Die aufwartenden Hofleute, wenn wir sie so betiteln dürfen, kehren ihrer Souveränin niemals die Hintere Seite, sondern stets die vordere zu. In einer demnächst aufgedeckten Stadt erblicken wir auf den Straßen und Plätzen ein von dem der ersten verschiedenes Volk, die bleiche oder gelbe Ameise, welche Sklaven fängt und hält. Wir beobachten hier die vornehmen üppigen Herren, wie sie sich von dunkelfarbigen Dienern Speisen auftragen und sonst Hand¬ reichung thun lassen, die unablässig ihren Pflichten nachgehen und sichtlich aller¬ hand Arbeiten für diejenigen verrichten, welche nur sich lediglich dem Kriegs¬ handwerke widmen. Ferner wandern hier langsamen Ganges die Gassen auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/639>, abgerufen am 31.05.2024.