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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Belgien und die sozialpolitische Frage.

durch anarchistische Wühler und Vereine, sodann aber und am letzten Ende
in dem Geiste mißverstandener Freiheit, der die belgische Verfassung geschaffen
hat, durchdringt und handhabt, und der weder der Ausbeutung Schranken setzen,
noch die Wühler und ihre Presse hinreichend unschädlich machen und die Vereins¬
thätigkeit und das Versammlnngsrccht genügend hemmen ließ. Es gab in Belgien
keine Gesetze zum Schutze der Arbeiter, keine staatlichen Einrichtungen, die sie
bei Unfällen, Krankheiten und für das Alter sicher stellten, und der Theorie
nach durfte auch nichts der Art geschaffen werden; der Staat hatte sich alles
Eingreifens in die wirtschaftliche Entwicklung zu enthalten, er sollte nur Wächter,
und auch dies nur mit starker Beschränkung, nicht aber Schöpfer sein. Die
Dinge sollten sich unter dem Schirme der Freiheit selbst ordnen und immer
vollkommener gestalten. Nach der Theorie war das bestimmt zu erwarten, die
Praxis aber entsprach dieser Meinung nicht, sie hatte nur tiefes Elend der
Arbeiter und zuletzt bedenkliche Aufstände derselben zur Folge.

Die Unruhen begannen am 18. März 1886 in Lüttich mit der Zertrüm¬
merung und Plünderung einer großen Anzahl von Luder, wogegen Polizei "ut
Bürgergarde mit Waffengewalt einschritten. Acht Tage vorher stellten die
Kohlenbergleute der Gruben in der Umgegend von Charleroi, die sich über zu
niedrige Löhne beklagten, die Arbeit ein, verstärkten sich dnrch Zuzug aus den
benachbarten Fabriken und verübten allerlei Unfug und Verbrechen. Mehrere
Fabriken wurden verwüstet, zahlreiche Glashütten zerstört, verschiedene Geschäfts¬
häuser ausgeplündert. Die prachtvolle Wohnung des großen Glasfabrikanten
Baudoux ging in Flammen auf. Ärgeres war von den wütenden Rotten beab¬
sichtigt, als Truppen unter General Vandersmissen anrückten und dem Unwesen
ein Ende machten. Mehrmals kam es dabei zur Anwendung der Schußwaffe,
unter anderm bei Roux, wo die Aufständischen 26 Tote auf dem Platze ließen.
Erst allmählich wurde es wieder ruhig, und die feiernden Arbeiter nahmen
ihre Beschäftigung wieder auf. Am 30. März berichtete der Ministerpräsident
Beernaert in der Kammer über diese Vorgänge, wies auf die Ursachen der
industriellen Krisis hin, die sie nach ihm allein hervorgerufen hatte, und
suchte sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, zu spät militärisch eingeschritten
zu sein. Um den Arbeitern Beschäftigung und Verdienst zu verschaffen, sollten
öffentliche Arbeiten unternommen und zu diesem Zwecke eine Anleihe von
43 Millionen Franken aufgenommen werden. Zur Prüfung der belgischen
Arbeitervcrhciltnissc wurde eine Kommission eingesetzt, die dann ein Pro¬
gramm mit- verschiedenen Reformen entwarf. Zu gleicher Zeit tagte in Gent
während der letzten Aprilwoche ein Sozialistenkongreß, der ebenfalls ein
Programm aufstellte, welches aber neben manchem verständigen Verlangen,
wie Gesetze zum Schutze der Arbeiter "ach deutschem Muster, Errichtung
von Arbeiterkammern, Einführung des obligatorischen unentgeltlichen Vvlks-
unterrichts, auch viel Unvernünftiges, z. B. allgemeines Wahlrecht, Auf-


Belgien und die sozialpolitische Frage.

durch anarchistische Wühler und Vereine, sodann aber und am letzten Ende
in dem Geiste mißverstandener Freiheit, der die belgische Verfassung geschaffen
hat, durchdringt und handhabt, und der weder der Ausbeutung Schranken setzen,
noch die Wühler und ihre Presse hinreichend unschädlich machen und die Vereins¬
thätigkeit und das Versammlnngsrccht genügend hemmen ließ. Es gab in Belgien
keine Gesetze zum Schutze der Arbeiter, keine staatlichen Einrichtungen, die sie
bei Unfällen, Krankheiten und für das Alter sicher stellten, und der Theorie
nach durfte auch nichts der Art geschaffen werden; der Staat hatte sich alles
Eingreifens in die wirtschaftliche Entwicklung zu enthalten, er sollte nur Wächter,
und auch dies nur mit starker Beschränkung, nicht aber Schöpfer sein. Die
Dinge sollten sich unter dem Schirme der Freiheit selbst ordnen und immer
vollkommener gestalten. Nach der Theorie war das bestimmt zu erwarten, die
Praxis aber entsprach dieser Meinung nicht, sie hatte nur tiefes Elend der
Arbeiter und zuletzt bedenkliche Aufstände derselben zur Folge.

Die Unruhen begannen am 18. März 1886 in Lüttich mit der Zertrüm¬
merung und Plünderung einer großen Anzahl von Luder, wogegen Polizei »ut
Bürgergarde mit Waffengewalt einschritten. Acht Tage vorher stellten die
Kohlenbergleute der Gruben in der Umgegend von Charleroi, die sich über zu
niedrige Löhne beklagten, die Arbeit ein, verstärkten sich dnrch Zuzug aus den
benachbarten Fabriken und verübten allerlei Unfug und Verbrechen. Mehrere
Fabriken wurden verwüstet, zahlreiche Glashütten zerstört, verschiedene Geschäfts¬
häuser ausgeplündert. Die prachtvolle Wohnung des großen Glasfabrikanten
Baudoux ging in Flammen auf. Ärgeres war von den wütenden Rotten beab¬
sichtigt, als Truppen unter General Vandersmissen anrückten und dem Unwesen
ein Ende machten. Mehrmals kam es dabei zur Anwendung der Schußwaffe,
unter anderm bei Roux, wo die Aufständischen 26 Tote auf dem Platze ließen.
Erst allmählich wurde es wieder ruhig, und die feiernden Arbeiter nahmen
ihre Beschäftigung wieder auf. Am 30. März berichtete der Ministerpräsident
Beernaert in der Kammer über diese Vorgänge, wies auf die Ursachen der
industriellen Krisis hin, die sie nach ihm allein hervorgerufen hatte, und
suchte sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, zu spät militärisch eingeschritten
zu sein. Um den Arbeitern Beschäftigung und Verdienst zu verschaffen, sollten
öffentliche Arbeiten unternommen und zu diesem Zwecke eine Anleihe von
43 Millionen Franken aufgenommen werden. Zur Prüfung der belgischen
Arbeitervcrhciltnissc wurde eine Kommission eingesetzt, die dann ein Pro¬
gramm mit- verschiedenen Reformen entwarf. Zu gleicher Zeit tagte in Gent
während der letzten Aprilwoche ein Sozialistenkongreß, der ebenfalls ein
Programm aufstellte, welches aber neben manchem verständigen Verlangen,
wie Gesetze zum Schutze der Arbeiter «ach deutschem Muster, Errichtung
von Arbeiterkammern, Einführung des obligatorischen unentgeltlichen Vvlks-
unterrichts, auch viel Unvernünftiges, z. B. allgemeines Wahlrecht, Auf-


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[0066] Belgien und die sozialpolitische Frage. durch anarchistische Wühler und Vereine, sodann aber und am letzten Ende in dem Geiste mißverstandener Freiheit, der die belgische Verfassung geschaffen hat, durchdringt und handhabt, und der weder der Ausbeutung Schranken setzen, noch die Wühler und ihre Presse hinreichend unschädlich machen und die Vereins¬ thätigkeit und das Versammlnngsrccht genügend hemmen ließ. Es gab in Belgien keine Gesetze zum Schutze der Arbeiter, keine staatlichen Einrichtungen, die sie bei Unfällen, Krankheiten und für das Alter sicher stellten, und der Theorie nach durfte auch nichts der Art geschaffen werden; der Staat hatte sich alles Eingreifens in die wirtschaftliche Entwicklung zu enthalten, er sollte nur Wächter, und auch dies nur mit starker Beschränkung, nicht aber Schöpfer sein. Die Dinge sollten sich unter dem Schirme der Freiheit selbst ordnen und immer vollkommener gestalten. Nach der Theorie war das bestimmt zu erwarten, die Praxis aber entsprach dieser Meinung nicht, sie hatte nur tiefes Elend der Arbeiter und zuletzt bedenkliche Aufstände derselben zur Folge. Die Unruhen begannen am 18. März 1886 in Lüttich mit der Zertrüm¬ merung und Plünderung einer großen Anzahl von Luder, wogegen Polizei »ut Bürgergarde mit Waffengewalt einschritten. Acht Tage vorher stellten die Kohlenbergleute der Gruben in der Umgegend von Charleroi, die sich über zu niedrige Löhne beklagten, die Arbeit ein, verstärkten sich dnrch Zuzug aus den benachbarten Fabriken und verübten allerlei Unfug und Verbrechen. Mehrere Fabriken wurden verwüstet, zahlreiche Glashütten zerstört, verschiedene Geschäfts¬ häuser ausgeplündert. Die prachtvolle Wohnung des großen Glasfabrikanten Baudoux ging in Flammen auf. Ärgeres war von den wütenden Rotten beab¬ sichtigt, als Truppen unter General Vandersmissen anrückten und dem Unwesen ein Ende machten. Mehrmals kam es dabei zur Anwendung der Schußwaffe, unter anderm bei Roux, wo die Aufständischen 26 Tote auf dem Platze ließen. Erst allmählich wurde es wieder ruhig, und die feiernden Arbeiter nahmen ihre Beschäftigung wieder auf. Am 30. März berichtete der Ministerpräsident Beernaert in der Kammer über diese Vorgänge, wies auf die Ursachen der industriellen Krisis hin, die sie nach ihm allein hervorgerufen hatte, und suchte sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, zu spät militärisch eingeschritten zu sein. Um den Arbeitern Beschäftigung und Verdienst zu verschaffen, sollten öffentliche Arbeiten unternommen und zu diesem Zwecke eine Anleihe von 43 Millionen Franken aufgenommen werden. Zur Prüfung der belgischen Arbeitervcrhciltnissc wurde eine Kommission eingesetzt, die dann ein Pro¬ gramm mit- verschiedenen Reformen entwarf. Zu gleicher Zeit tagte in Gent während der letzten Aprilwoche ein Sozialistenkongreß, der ebenfalls ein Programm aufstellte, welches aber neben manchem verständigen Verlangen, wie Gesetze zum Schutze der Arbeiter «ach deutschem Muster, Errichtung von Arbeiterkammern, Einführung des obligatorischen unentgeltlichen Vvlks- unterrichts, auch viel Unvernünftiges, z. B. allgemeines Wahlrecht, Auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/66>, abgerufen am 16.05.2024.