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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Belgien und die sozialpolitische Frage.

Hebung des persönlichen Eigentums, Trennung von Kirche und Staat, Ein¬
ziehung der Kirchengüter und Beseitigung des Senats und des Königtums,
enthielt. Am 13. Juni folgte darauf in Brüssel eine Versammlung von De-
legirten der Arbeiterpartei des Landes, in welcher Fortsetzung der Propaganda
für allgemeines Stimmrecht und für den Fall einer Verweigerung dieser For¬
derung allgemeine Arbeitseinstellung, sobald die Partei die dazu erforderliche
Kraft erlangt hätte, beschlossen wurde. Eine neue großartige Kundgebung sollte
am 16. August, dem Nationalfeiertage der Belgier, in der Hauptstadt erfolgen.
Dn die Regierung Grund hatte, zu befürchten, es werde dabei zu Unruhen
revolutionärer Art kommen, so traf sie durch Bereitstellung von Truppen und
Einberufung der Bürgergarde rechtzeitig militärische Maßregeln, und so verlief
der Zug von 20 000 Arbeitern, mit dem die Partei am 16. August in den
Straßen demonstrirte, ohne Schaden. Der Generalrat der Partei übersandte
dem Ministerpräsidenten eine Adresse, die er der Kammer vorlegen sollte, und
in welcher Abänderung der Verfassung und Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts verlangt und darauf hingewiesen wurde, daß bei Nichterfüllung dieses
Begehrens eine verhängnisvolle Krisis für das gesamte Land eintreten werde.
Am 26. September versammelte sich in Lüttich ein katholischer Kongreß für
soziale Reform, an dem auch Deutsche und Franzosen teilnahmen und bei dem
sich der Bischof Korum von Trier für Einführung der Unfall- und Kranken¬
versicherung, wie sie in Deutschland bestehe, aussprach. Die belgischen Mitglieder
nahmen aber an dem Zwange, der dabei den Arbeitern und Fabrikanten auferlegt
war, Anstoß und bequemten sich nnr aus Rücksicht auf Korum zu dem Be¬
schlusse, es solle von feiten des Staates eine obligatorische Arbeiterversicheruug
eingeführt werden. Der 31. Oktober brachte eine neue Kundgebung in Charle-
roi, an der sich über 30 000 Arbeiter beteiligten und bei der allgemeines
Stimmrecht und Amnestie für die inzwischen wegen des Märzaufstandes ver¬
urteilten die Losung waren. Die letztern hatten Strafen getroffen, die zum
Teil sehr schwer waren, indem sie in zwanzigjähriger oder lebenslänglicher
Zwangsarbeit bestanden. Einer der Hauptwühler, der heruntergekommene Ad¬
vokat Defuisseaux, welcher als Verfasser eines weitverbreiteten "Volkskate¬
chismus" wesentlich zum Ausbruche der Unruhen beigetragen hatte lind jetzt zu
eiuer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wurde, war inzwischen nach Holland
entflohen. Ein andrer Führer der Sozialisten, Anseele, der nach dem Gemetzel
bei Roux in öffentlicher Versammlung den König als "ersten Volksmörder"
bezeichnet hatte, wurde von der Anklage der Beleidigung der Person des Königs
freigesprochen natürlich durch Geschworne, durch Vertreter der liberalen
"öffentlichen Meinung." in deren Bereich ähnliches nicht selten geäußert wurde.
Der Stellvertreter des Bürgermeisters von Namur z. B., Schöffe Rouvaux,
hielt bei einem Bankette liberaler Elementarlehrer eine Rede, in der er die
massenhafte Absetzung von solchen, die infolge des klerikalen Vvlksschulgesetzes


Belgien und die sozialpolitische Frage.

Hebung des persönlichen Eigentums, Trennung von Kirche und Staat, Ein¬
ziehung der Kirchengüter und Beseitigung des Senats und des Königtums,
enthielt. Am 13. Juni folgte darauf in Brüssel eine Versammlung von De-
legirten der Arbeiterpartei des Landes, in welcher Fortsetzung der Propaganda
für allgemeines Stimmrecht und für den Fall einer Verweigerung dieser For¬
derung allgemeine Arbeitseinstellung, sobald die Partei die dazu erforderliche
Kraft erlangt hätte, beschlossen wurde. Eine neue großartige Kundgebung sollte
am 16. August, dem Nationalfeiertage der Belgier, in der Hauptstadt erfolgen.
Dn die Regierung Grund hatte, zu befürchten, es werde dabei zu Unruhen
revolutionärer Art kommen, so traf sie durch Bereitstellung von Truppen und
Einberufung der Bürgergarde rechtzeitig militärische Maßregeln, und so verlief
der Zug von 20 000 Arbeitern, mit dem die Partei am 16. August in den
Straßen demonstrirte, ohne Schaden. Der Generalrat der Partei übersandte
dem Ministerpräsidenten eine Adresse, die er der Kammer vorlegen sollte, und
in welcher Abänderung der Verfassung und Einführung des allgemeinen Wahl¬
rechts verlangt und darauf hingewiesen wurde, daß bei Nichterfüllung dieses
Begehrens eine verhängnisvolle Krisis für das gesamte Land eintreten werde.
Am 26. September versammelte sich in Lüttich ein katholischer Kongreß für
soziale Reform, an dem auch Deutsche und Franzosen teilnahmen und bei dem
sich der Bischof Korum von Trier für Einführung der Unfall- und Kranken¬
versicherung, wie sie in Deutschland bestehe, aussprach. Die belgischen Mitglieder
nahmen aber an dem Zwange, der dabei den Arbeitern und Fabrikanten auferlegt
war, Anstoß und bequemten sich nnr aus Rücksicht auf Korum zu dem Be¬
schlusse, es solle von feiten des Staates eine obligatorische Arbeiterversicheruug
eingeführt werden. Der 31. Oktober brachte eine neue Kundgebung in Charle-
roi, an der sich über 30 000 Arbeiter beteiligten und bei der allgemeines
Stimmrecht und Amnestie für die inzwischen wegen des Märzaufstandes ver¬
urteilten die Losung waren. Die letztern hatten Strafen getroffen, die zum
Teil sehr schwer waren, indem sie in zwanzigjähriger oder lebenslänglicher
Zwangsarbeit bestanden. Einer der Hauptwühler, der heruntergekommene Ad¬
vokat Defuisseaux, welcher als Verfasser eines weitverbreiteten „Volkskate¬
chismus" wesentlich zum Ausbruche der Unruhen beigetragen hatte lind jetzt zu
eiuer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wurde, war inzwischen nach Holland
entflohen. Ein andrer Führer der Sozialisten, Anseele, der nach dem Gemetzel
bei Roux in öffentlicher Versammlung den König als „ersten Volksmörder"
bezeichnet hatte, wurde von der Anklage der Beleidigung der Person des Königs
freigesprochen natürlich durch Geschworne, durch Vertreter der liberalen
„öffentlichen Meinung." in deren Bereich ähnliches nicht selten geäußert wurde.
Der Stellvertreter des Bürgermeisters von Namur z. B., Schöffe Rouvaux,
hielt bei einem Bankette liberaler Elementarlehrer eine Rede, in der er die
massenhafte Absetzung von solchen, die infolge des klerikalen Vvlksschulgesetzes


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[0067] Belgien und die sozialpolitische Frage. Hebung des persönlichen Eigentums, Trennung von Kirche und Staat, Ein¬ ziehung der Kirchengüter und Beseitigung des Senats und des Königtums, enthielt. Am 13. Juni folgte darauf in Brüssel eine Versammlung von De- legirten der Arbeiterpartei des Landes, in welcher Fortsetzung der Propaganda für allgemeines Stimmrecht und für den Fall einer Verweigerung dieser For¬ derung allgemeine Arbeitseinstellung, sobald die Partei die dazu erforderliche Kraft erlangt hätte, beschlossen wurde. Eine neue großartige Kundgebung sollte am 16. August, dem Nationalfeiertage der Belgier, in der Hauptstadt erfolgen. Dn die Regierung Grund hatte, zu befürchten, es werde dabei zu Unruhen revolutionärer Art kommen, so traf sie durch Bereitstellung von Truppen und Einberufung der Bürgergarde rechtzeitig militärische Maßregeln, und so verlief der Zug von 20 000 Arbeitern, mit dem die Partei am 16. August in den Straßen demonstrirte, ohne Schaden. Der Generalrat der Partei übersandte dem Ministerpräsidenten eine Adresse, die er der Kammer vorlegen sollte, und in welcher Abänderung der Verfassung und Einführung des allgemeinen Wahl¬ rechts verlangt und darauf hingewiesen wurde, daß bei Nichterfüllung dieses Begehrens eine verhängnisvolle Krisis für das gesamte Land eintreten werde. Am 26. September versammelte sich in Lüttich ein katholischer Kongreß für soziale Reform, an dem auch Deutsche und Franzosen teilnahmen und bei dem sich der Bischof Korum von Trier für Einführung der Unfall- und Kranken¬ versicherung, wie sie in Deutschland bestehe, aussprach. Die belgischen Mitglieder nahmen aber an dem Zwange, der dabei den Arbeitern und Fabrikanten auferlegt war, Anstoß und bequemten sich nnr aus Rücksicht auf Korum zu dem Be¬ schlusse, es solle von feiten des Staates eine obligatorische Arbeiterversicheruug eingeführt werden. Der 31. Oktober brachte eine neue Kundgebung in Charle- roi, an der sich über 30 000 Arbeiter beteiligten und bei der allgemeines Stimmrecht und Amnestie für die inzwischen wegen des Märzaufstandes ver¬ urteilten die Losung waren. Die letztern hatten Strafen getroffen, die zum Teil sehr schwer waren, indem sie in zwanzigjähriger oder lebenslänglicher Zwangsarbeit bestanden. Einer der Hauptwühler, der heruntergekommene Ad¬ vokat Defuisseaux, welcher als Verfasser eines weitverbreiteten „Volkskate¬ chismus" wesentlich zum Ausbruche der Unruhen beigetragen hatte lind jetzt zu eiuer längeren Gefängnisstrafe verurteilt wurde, war inzwischen nach Holland entflohen. Ein andrer Führer der Sozialisten, Anseele, der nach dem Gemetzel bei Roux in öffentlicher Versammlung den König als „ersten Volksmörder" bezeichnet hatte, wurde von der Anklage der Beleidigung der Person des Königs freigesprochen natürlich durch Geschworne, durch Vertreter der liberalen „öffentlichen Meinung." in deren Bereich ähnliches nicht selten geäußert wurde. Der Stellvertreter des Bürgermeisters von Namur z. B., Schöffe Rouvaux, hielt bei einem Bankette liberaler Elementarlehrer eine Rede, in der er die massenhafte Absetzung von solchen, die infolge des klerikalen Vvlksschulgesetzes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/67>, abgerufen am 05.06.2024.